Biographien und Tagebücher

Hier finden Sie das Leben der Anderen in Biographien und Tagebüchern

Der "westliche" Historiker: Winkler

"Wir stehen am Beginn einer höchst gefährlichen Phase der Weltgeschichte“, sagt Heinrich August Winkler in einem Interview mit der ZEIT.  Wir sollten diese Mahnung ernst nehmen. Winkler hat Einfluss auf die Politik als normativ orientierter Wissenschaftler, der um die Werte des Westens weiß. 


So ist dieses aktuelle Buch ein Beweis dafür, wie einflussreich Wissenschaftler auf die Politik sein können. Winkler widerspricht der These, er habe mit diesem Buch seine Memoiren vorgelegt, und doch ist es eine Art Materialsammlung, mit zahlreichen Denkanstößen, der Beschreibung seines Lebensweges als Historiker, der mit seinen Lebenslinien die wichtige Debatte über den Westen und seinen schwindenden politischen Einfluss angestoßen hat.  Winkler setzt sich für die Werte des Westens, ihre Gefährdungen und auch ihre Verteidigung ein.  

 

Im ersten Kapitel beschreibt Winkler seine beeindruckende Universitätskarriere, im zweiten Teil geht es um seine Beiträge zum politischen Diskurs und der dritte Abschnitt ist den persönlichen Begegnungen Winklers gewidmet. Winklers Bücher erreichen mit 
250.000 Exemplaren Bestsellerzahlen. 


Wir begegnen in diesem Buch von Heinrich August Winkler also drei verschiedenen Leben des renommierten Historikers, der zuletzt an der Humboldt-Universität in Berlin gelehrt hat. Das erste Leben ist sein vielfältiger Werdegang als Historiker in verschiedenen Funktionen, im zweiten Teil thematisiert Winkler seine politischen Interventionen in den parlamentarischen und Regierungsbetrieb und im dritten Abschnitt seiner Lebenserinnerungen beschreibt Winkler seine persönlichen Begegnungen. Winkler wurde Historiker, weil es irgendwie auch schon in seiner Familie begründet lag, er ist Geschichtswissenschaftler in der dritten Generation, und er verbindet als Historiker mit der Geschichte die Auffassung, dass es sich immer um eine „praktische Forschungsabsicht“ handeln müsse. Insofern ist es nicht überraschend, dass er sich auch um die aktuelle Politik kümmert, obwohl Historiker doch eher eigentlich nur zurückschauend analysieren.

 

Der Westen war sein Leitthema. Und seine Bücher zur Entwicklung und zur politischen Rolle des Westens sind so auch Bestseller geworden.

 

Winkler erlebt die Folgen der Studentenrevolutiönchen in Berlin, er diskutiert die innenpolitischen Kontroversen, beschreibt Rot-Grün an der Macht und das Echo auf seinen Bestseller „Der lange Weg nach Westen“. Immer spielt bei ihm auch das Thema politische Moral mit. Kritisch wird er, wenn es um die Europäische Union geht. Da redet er von einer „Selbstrevision“ in Sachen Europa, und was den Nahostkonflikt und Krieg gegen die Ukraine angeht, schreibt er kritisch unter der Überschrift „Abschied von deutschen Illusionen“. Winkler beklagt die Schaffung einer Währungsunion, ohne gleichzeitig die politische Union zu verwirklichen. Er fordert einen Integrationsschub, der auch die Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion umfassen müsste. Wer nicht mitmischen will, soll hinten dranbleiben. Insofern plädiert er für die Zwei-Schritt-Lösung, was die europäische Integration angeht. Einigen ost- und mitteleuropäischen Mitgliedstaaten bescheinigt Winkler „illiberale Demokratien“ zu sein, den Abbau der Rechtsstaatlichkeit voranzutreiben, es fehle ihnen an dem inneren Zusammenhalt, der für eine gemeinsame europäische Willensbildung notwendig sei. Im Kapitel über die Ukraine steht der interessante Satz ein leitender Mitarbeiter des Kanzleramts habe bestätigt, dass es keine Strategie gegenüber Russland gäbe: "Wir haben keine Strategie, wir entscheiden von Fall zu Fall“. Genau das war unser Problem mit Kanzlerin Merkel im Inneren wie im Äußeren, wie ich auch meine. Diese Maxime, so bestätigt Winkler, gelte auch für andere Politikbereiche, aber auf keinem Gebiet wirken sie sich so fatal aus wie auf dem der Verteidigung. Politik ohne Konzept eben. 

 

Was die Merkel-Konkurrenz, die SPD angeht, so kritisiert Winkler die nationalstaatlich, etatistisch betonte Ausrichtung der zweiten Phase der Ostpolitik von Egon Bahr in der Hauptsache  geprägt.

 

Das zweite Kapitel der „Politischen Interventionen und Kontroversen“ - man hörte schließlich in der Politik auf Winklers Wort - endet mit einem Hegel-Zitat „Die Wahrheit der Absicht ist nur die Tat.“ Dies schreibt er ins Stammbuch des neuen Kanzlers Friedrich Merz.

 

Der dritte Teil des Buches unter der Überschrift „Begegnungen und Erlebnisse“ ist eine Art Namedropping: Welche Menschen waren für den Lebensweg Winklers wichtig, wen hat er getroffen, wer hat ihn beeinflusst, welche Jahrhundertgestalten, etwa Churchill, de Gaulle und Adenauer haben Spuren hinterlassen. Helmut Schmidt und Wolfgang Schäuble hat er genauso getroffen wie Henry Kissinger, Ralf Dahrendorf, Fritz Stern oder den Kollegen Hans-Peter Schwarz. Im Gespräch mit Hans Dietrich Genscher plädiert er für eine Föderation von Nationalstaaten als europäisches Modell. Mahnend beschließt er sein Buch mit der Einsicht, Fatalismus wäre die falsche Antwort auf das Schwinden der überkommenen politischen Gewissheiten. Die Zukunft des Westens hänge davon ab, ob die westlichen Demokratien bereit seien, so eng wie möglich zusammen zu arbeiten, um sich auch wirksam zu verteidigen gegenüber den Bedrohungen von innen und von außen. Dbei sieht er die Rolle der Bundesrepublik Deutschland in einer auch führenden Funktion.

 

Heinrich August Winkler geboren 1938 in Königsberg, ist einer der prominentesten deutschen Historiker. Er lehrte von 1991 bis 2007 Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2014 erhielt er den Europa-Preis für politische Kultur der Hans-Ringier-Stiftung, 2016 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. 2018 verlieh ihm der Bundespräsident das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Seine großen Werke «Der lange Weg nach Westen» und «Geschichte des Westens» gehören zu den meistverkauften historischen Werken unserer Zeit.

 

Heinrich August Winkler: Warum es so gekommen ist. Erinnerungen eines Historikers. C.H. Beck

Thomas Mann - so viele Leben im Buch

Die zum 150. Geburtstag von Thomas Mann erschienene große Biografie des fünfzigjährigen Literaturhistorikers Tilmann Lahme über Thomas Mann ist etwas ungleichmäßig befrachtet, liegt etwas schräg. In Lübeck würde man sagen, sie „krängt“.

 

Das ist Absicht und ermöglicht, etwas Wichtigeres für den künftigen Geradeauslauf zurechtzurücken. Aber der Reihe nach: Was für ein Leben! Was für ein Werk! Der Autor erzählt das Eine von der Geburt an und behandelt das Andere von den peinlichen Jugendsünden bis zum Alterswerk. Das ist ja alles längst in dicken und gelehrten Büchern – denkt man – Gemeingut. Lahme geht sorgfältig vor, seine Sorgfalt ist nicht professoral, sondern wohltuend. Die vielen Personen, die den Weg Thomas Manns kreuzen und in diese Biografie finden, verwirren nicht, Lahme zeichnet sie unverwechselbar und mit ihrer Bedeutung für alles Weitere. Die frühe Verbindung zum Verleger Samuel Fischer, der schlechte Schulerfolg und der Umzug mit der von Testamentsvollstreckern gegängelten Mutter nach München, die Entstehung des Lübecker Familienromans „Die Buddenbrooks“ (1901) lassen Hoffnungen auf die ja bekannte Erfolgsgeschichte keimen.

 

Lahme erzählt sie entlang der Sternstunden und der Schwächen mit erfrischender Urteilskraft – eine Literaturgeschichte über Thomas Mann.
Die politische Entwicklung Thomas Manns von den nationalkonservativen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zu dem Verteidiger der Weimarer Republik und dem aus Amerika geführten Kampf gegen Hitler über die BBC verfolgt sein Biograf aufmerksam, gelegentliche Anwandlungen von Antisemitismus im Werk benennt er kritisch. Er wirf einen Blick in die Protokolle des Stockholmer Nobelpreiskomitees und ahnt „Als sich die achtzehnköpfige Kommission 1929 für Thomas Mann entscheidet, ehrt sie offiziell den Autor von Buddenbrooks. Inoffiziell, nur in den Akten erkennbar, zeichnet sie den reaktionären, antidemokratischen Thomas Mann aus, den sie für den eigentlichen hält.“


Alle kennen die Familie Mann, die Ehefrau Katja, geb. Pringsheim, die sechs Kinder gebiert. Hinter seinem verschlossenen Arbeitszimmer nennen sie ihn den Zauberer. Nicht allen Kindern stand ein glückliches Leben bevor. Aber Thomas Mann selbst – dem muss das alles doch gefallen haben. Hier fängt das Lebensschiff zu „krängen“ an, weil Lahne ein Leitmotiv in seine Biografie einfügt, von dem man ahnt, munkelt, das man überhört, auch prominent wider besseres Wissen verleugnet. Thomas Manns homoerotische Grundierung ist von der Schulzeit bis ins hohe Alter zuweilen Hindernis, selten Glück, oft auch Gegenstand seiner Literatur. Sein Biograf ist unerbittlich; in jedem Werk, den bedeutenden wie denen am Rande, weist er diese Grundierung nach und unterstreicht damit ihre lebensentscheidende Bedeutung für den „Zauberer“.

 

Leitmotive haben es an sich, dass sie das ganze „Stück“ über erklingen. Ein solcher Ohrwurm wird nicht jedem gefallen. Lahme kämpft aber hier einen – wie wir sehen werden – verdienstvollen Kampf um die Wahrheit.
Er legt den Finger auf editorische Eingriffe in die Tagebücher Thomas Manns, die das angeblich „Unaussprechliche“ hinter im Original nicht stehenden … verbergen. Die finden sich auch, wenn Thomas Mann über seinen nicht immer gelingenden ehelichen Verkehr Tagebuch führt.

 

Lahme legt den Finger auch darauf, dass zwei Schlüsseldokumente, Briefe an seinen Jugendfreund Otto Grautoff, mit dem er die homoerotische Grundierung teilt und mit dem er in jungen Jahren an ihr verzweifelte, einfach in einer Verlagskladde liegenblieben, ohne der Forschung zur Verfügung zu stehen. Der Biograf veröffentlich sie, um der Wahrheit über das schwierige Leben Thomas Manns näher zu kommen.

 

Überhaupt lässt Lahme diesem Grautoff Gerechtigkeit widerfahren, dessen Lebensbericht in Paris ungelesen liegt. Lahme hat Einsicht in ihn genommen ebenso wie in einige der Briefe Thomas Manns an ihn, in jungen Jahren geschrieben, die durch die Wirren der Zeit nach London gelangt sind. Zu seinem Leitmotiv passt auch der Besuch von drei Studenten im kalifornischen Haus Thomas Manns zu Weihnachten 1949.

 

Die junge Frau in der Gruppe hat über diesen Besuch einen kleinen Text verfasst. Sie war die später weltberühmt werdende Susan Sontag, die aus der wiederholten Lektüre des „Zauberbergs“ den homoerotischen Aspekt des Romans gefiltert hatte. Ihr Bericht wird erstmals in dieser Biografie abgedruckt.

 

Sie wurde eine bekennende Lesbierin, erhielt 2003 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und sagte in ihrer von Lahme zitierten Dankesrede: „Kein anderes Buch war in meinem Leben so wichtig wie »Der Zauberberg« – der ja von nichts anderem als dem Zusammenstoß unterschiedlicher Ideale im Innersten der europäischen Zivilisation handelt.“


Wozu dient die manchmal auch anstrengende „Krängung“ des Lebensschiffs, was ist das Echo des Leitmotivs Homoerotik? Es hat sich nicht viel verändert seit den jugendlich Nöten Thomas Manns mit seiner Entdeckung und dem schmerzhaften Austausch darüber mit Otto Grautoff. Die offensichtliche Homoerotik Thomas Manns wird von seinem Verlag und allen früheren Biografen verniedlicht, verschwiegen oder vertuscht. Es ist das Verdienst Tilmann Lahmes, diesen Stillstand am Beispiel Thomas Manns, eines frühen Opfers dieser Haltung, aufgezeigt zu haben.


Harald Loch


Tilmann Lahme: Thomas Mann   Ein Leben
Mit Susan Sontags nie gedrucktem Essay „Bei Thomas Mann“
Dtv, München 2025   592 Seiten   über 100 Abb.   28 Euro

Der gute Mensch aus Offenburg

Der Untertitel von Jürgen Todenhöfers Buch „Geschichte eines Lebens“ ist komplett falsch. Dieser Mann hat mindestens so viele Leben bisher gelebt wie Kapitel in diesem Buch stehen. Es sind nämlich 30!
Todenhöfer lebt viele Leben und das vor allem ganz oft gleichzeitig.
Intensiv, menschennah, prinzipientreu. Bei der Fülle seiner Themen bietet es sich an, in dieser Rezension eine Teilung vorzunehmen. Allein schon die Beschreibungen der Kriegsszenarien in Algerien, Afghanistan, in Chile, im Iran und Irak, in Syrien, gegen den IS- Staat und im Gaza sind so umfangreich, dass man mit einer einzelnen Rezension kaum auskommt. 


Deshalb teile ich meine Buchbesprechung in zwei Teile und greife zunächst den aktuellsten Themenbereich heraus, nämlich das 29. Kapitel „Russland-Ukraine: Noch so ein irrer Krieg?“


Das gesamte Buch bespreche ich dann in Folge 2. Es sind also sehr viele Geschichten, die Jürgen Todenhöfer in diesem Buch versammelt. Insofern müsste in der Unterzeile von mehreren Leben also im Plural die Rede sein.


Eins ist ganz klar: der Politiker Todenhöfer ist auch Journalist, und so schreibt er sein Buch entsprechend abwechslungsreich und vielfarbig. Seine Stilmittel reichen von der bloßen Reportage, über tagebuchartige Aufzeichnungen bis hin zu philosophischen Einordnungen seiner politischen Grundsätze. Sein wichtigster: Todenhöfer hasst Kriege. Sein zweiter Punkt, er kümmert sich um die Menschen. Sein drittes Credo ist, bleibe glaubwürdig und halte dich an deine Prinzipien. Er spricht sogar etwas hochtrabend von seinem inneren Gerichtshof, dem er folgt.
Gehen wir auf sein Schluss-Kapitel, auf den Russland Krieg ein. In der politischen Debatte wird dies sicher wieder für einige Aufregung sorgen. Nach seinem alten Prinzip und seiner Vorgehensweise ist Jürgen Todenhöfer natürlich auch wieder vor Ort, als der Krieg beginnt, er beobachtet den Kampf um die Vororte, wo die Russen beweisen, dass man auch die zivile Bevölkerung mit Bomben strafen darf. Eine Rückblende führt uns zu den Auseinandersetzungen auf dem Maidan und die Vereinnahmung der Halbinsel Krim durch Russland.


Todenhöfer beschreibt Deutschlands Verhältnis zu Russland und zeigt von Kanzler Brandt, Schmidt bis Helmut Kohl und Angela Merkel, welche Einschätzungen diese Politiker zum russischen Reich hatten. Natürlich hat der Interviewer auch Michael Gorbatschow getroffen, denn seine langjährige Arbeit beim Burda Verlag hat ihm natürlich so manche Tür geöffnet. Todenhöfer ist immer nah bei den Menschen, schildert ihre Einstellungen und Schicksale, aber nimmt sich auch heraus klare politische Positionen zu beziehen auch wenn sie sehr strittig sind. 
So fordert er ganz radikal eine Verhandlungslösung in diesem Krieg, denn nach seiner Erfahrung haben Kriegs-Auseinandersetzungen nun wirklich überhaupt keinen Sinn, denn sie haben nur menschliche Opfer, vor allem Kinder. Sein Postulat: Teilrückzug der russischen Truppen, international garantierte Neutralität der Ukraine, bei gleichzeitigem Verzicht auf NATO-Mitgliedschaft, von der UNO kontrollierte Volksabstimmungen im Donbass und auf der Krim, sowie der Stopp aller gegen Russland gerichteten Waffenlieferungen und Sanktionen.
Auch das ist ein Grundsatz von ihm Waffenlieferungen dürfen niemals geschehen.


Ja, es stimmt schon, dieser Todenhöfer ist fundamentaler Idealist und Moralist. Das weiß er sogar selber, und er träumt sich dann auch gerne politische Lösungen herbei, die man schon auch als unrealistisch bezeichnen könnte, aber man wird ja auch einmal phantasieren dürfen, z. B darüber, dass es ohne dieses Russland keinen dauerhaften Frieden geben wird.


Deutschland und Russland müsse eine echte strategische Partnerschaft, eine politische und wirtschaftliche Macht bilden, an der keine Weltmacht vorbeikommt. Beide Länder könnten so viel Sinnvolles gestalten. 
Wenn man sich aber die Realitäten betrachtet, kann man sich durchaus an den Kopf greifen über so viel naive politische Position, während die Bomben auf die ukrainischen Städte, Felder und Menschen fallen. Die Bomben sprechen eine komplett andere Sprache als Todenhöfers Wunschdenken-Postulate.


Todenhöfer holt auch wieder das Argument hervor, die NATO habe sich zu nah an das russische Reich gedrängt. Hans-Dietrich Genscher habe ihm selbst in einem Gespräch mehrfach detailliert geschildert, dass man versprochen habe, bzw. ausdrücklich zugesagt, dass sich die NATO im Falle einer Wiedervereinigung nicht einen Millimeter nach Osten bewegt. Natürlich erkennt Todenhöfer auch, dass die Weltmächte geostrategische Überlegungen haben.


Aus all seinen Analysen, die Todenhöfer am Ende des Buches liefert, zieht der ehemalige CDU-Abgeordnete des Bundestages und langjährige Entwicklungs- und Rüstungskontroll-Experte sowie stellvertretender Vorsitzender des internationalen Medienkonzerns Burda ein klares Urteil:  Gründe einfach eine eigene Partei! Damit scheitert er jedoch komplett und liefert auch die Fehleranalyse dazu. Am Ende macht sich der 85-Jährige Politiker auch Gedanken über den Tod, vor dem er keine Angst hat, denn er hält es mit dem Motto des italienischen Richters Paolo Borsellino, der von der Mafia getötet wurde. „Wer Angst hat, stirbt jeden Tag. Wer keine Angst hat, stirbt nur einmal“.
In den letzten Sätzen umreißt Todenhöfer noch einmal sein politisches Credo, bzw. er nennt das seine „drei Schwüre“, denen er treu bleiben will: Jeden Menschen so zu behandeln, wie er selbst behandelt werden möchte. Den Kriegen die Charaktermaske herunterreißen und jeder Form von Rassismus kompromisslos entgegenzutreten.


 Jürgen Todenhöfer ist der „gute Mensch aus Offenburg“, und diese Seiten seines vielgestaltigen Lebens werde ich in der nächsten Rezension besprechen.


Den „guten Menschen aus Offenburg“, der viele Hilfsprojekte gestartet hat, mögen heutzutage manche Kritiker als „Gutmensch“ diffamieren. So ist unsere Gesellschaft, vor allem abgebildet in den so genannten „sozialen“ Medien. In seinem Text greift Jürgen Todenhöfer sehr oft zu moralischen Kategorien, in einer Deutlichkeit, die die Frage aufwirft, ist es denn wirklich so, aus einer pauschalen Verurteilung der amerikanischen Aggressionspolitik zu folgern, sich nun an die russische Seite zu werfen. Könnte gefährlicher sein als die „Westbindung“. Jürgen Todenhöfer ist ein moralischer Rigorist, leidenschaftlicher Missionar seiner politischen Ansichten, aber er ist eben auch Demokrat genug gegenteilige Meinungen zu akzeptieren.  


Eines muss man an dieser Stelle am Schluss konstatieren: Das Buch liest sich sehr spannend, flüssig und süffig, im Unterschied zu vielen anderen Lebensbeichten von Politikern.

 

Jürgen Todenhöfer wurde 1940 in Offenburg geboren. Von 1972 bis 1990 war er CDU-Bundestagsabgeordneter und Sprecher der Unionsparteien für Entwicklungs- und Rüstungskontrollpolitik, von 1987 bis 2008 war er Stellvertretender Vorsitzender eines großen internationalen Medienkonzerns. Er zählt zu den kenntnisreichsten Kritikern der Militärinterventionen im Mittleren Osten und bereist seit 60 Jahren die Krisengebiete dieser Welt. Dabei versucht er stets, mit allen Seiten zu sprechen: mit Rebellen, Terroristen, Präsidenten und Diktatoren, vor allem aber mit der leidenden Bevölkerung. Bei C.Bertelsmann sind zahlreiche Bestseller von ihm erschienen, darunter »Andy und Marwa – zwei Kinder und der Krieg«, »Warum tötest du, Zaid?«, »Teile dein Glück« und »Inside IS. 10 Tage im Islamischen Staat«. Mit seinen Buchhonoraren hat er u. a. ein Kinderheim in Afghanistan und ein Kinderkrankenhaus im Kongo gebaut sowie zusammen mit dem israelischen Schriftsteller David Grossman ein israelisch-palästinensisches Versöhnungsprojekt finanziert.

 

Jürgen Todenhöfer Geschichte eines Lebens 
Und folgt dir keiner, geh allein 
C.Bertelsmann 

Die grüne Sicht auf die Republik

Wenn der Name Jürgen Trittin fällt, denkt man zuerst eher an ein trockenes Brötchen, er wirkt immer so furchtbar rational, emotionslos, ein bißchen arrogant und unnahbar. Aber seine politische Autobiographie „Alles muss anders bleiben“, erschienen bei Droemer, ist alles andere als trockene Hafer-Kost, ich würde sagen eher saftiges Vollkorn. Mit hohem Sauerteiganteil und treibender Kraft.


Schlauerweise ist diese Autobiographie nicht chronologisch angelegt, schließlich wäre das vermutlich etwas unübersichtlich geraten, muss er doch ein halbes Jahrhundert auf 380 Seiten zu Papier bringen. So war es ein kluger Schachzug, vier Hauptkapitel zu den Themen Ungerechtigkeiten zu suchen, und unter diesem Oberbegriff seine Texte zu subsumieren, zu den einzelnen Aspekten Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Ökologie und internationale Politik. Das verschafft dem Buch eine klare Struktur.

 
Überraschend beschäftigt sich Trittin einleitend mit dem Thema Film, und beginnt ausgerechnet mit Clint Eastwood. Unter der Überschrift „Ich hasse Ungerechtigkeiten“ führt uns Trittin an sein Lebensmotto heran. Immer wieder tauchen auch demokratietheoretische Überlegungen in seinem Text auf, es geht ein grün angehauchtes Panorama der Geschichte der Bundesrepublik an uns vorbei. Kaum eine politische Entwicklung lässt Trittin aus, das reicht vom Ende der 60er Jahre, über die sozial-liberale Koalition bis hin zur heutigen gescheiterten Ampelregierung. Und so ist das Motto „Alles muss anders bleiben“ geradezu total aktuell. Und gilt für alle Parteien.


Trittins Credo „Wer die Gesellschaft verändern will, braucht die Bereitschaft sich selbst zu verändern“, diesen Beweis müssen die Grünen jetzt allerdings erst konkret wieder antreten. 


Trittin schildert seinen persönlichen Lebensweg eher kursorisch nordisch zurückhaltend als detailgenau oder aufgeblasen, schließlich kommt es ihm eher auf die politischen Schlussfolgerungen an als auf seine eigene persönliche Lebens- und Karriereentwicklung. Interessant das Kapitel über den „Deutschen Herbst“, seine Schilderungen über den Terror in der Bundesrepublik Deutschland oder über BILDfälschungen zu seiner eigenen Person oder seine Überlegungen zum Thema Asylrecht, alles ist interessant zu lesen, auch für den, der nicht unbedingt auf der grünen politischen Seite steht.


Trittin fordert von der Politik “good governance“, (für die Ampel verspätet!) errichtet Brandmauern gegenüber rechts, (hoffentlich rechtzeitig!) beschäftigt sich mit den sozialen Fragen, auch der Armut und kommt schließlich in einem breit angelegten Kapitel zu dem Spezialthema für ihn: Was ist grün? Und was ist Ökologie? Und was ist Nachhaltigkeit? Hier reicht das Themenspektrum von der Ölkrise und den Grenzen des Wachstums über Whyl und Gorleben bis hin zum Kampf gegen die heutige Klimakrise. Auch die neuerlichen Kriegsentwicklungen in Libyen, in der Ukraine und im Gaza- Krieg lässt Trittin Revue passieren.


Deutschland sieht er beim Thema Krieg in der Ukraine- am „Ende der deutschen Illusionen“, er schließt sich dem Urteil von Olaf Scholz an, dass wir alles dafür tun müssen, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verliert, ohne dass wir selbst Kriegspartei werden.
Eine lesenswerte Biografie, die aus dem üblichen Rahmen fällt, weil sie nicht vor lauter Selbstgerechtigkeiten strotzt, für den Weihnachtstisch also durchaus geeignet ist, wenn man sich mit grünen Haltungen noch auseinandersetzen will.


Seine Leitmotive beim Thema Kampf um die Demokratie: 


Sicherheit braucht starke Institutionen 
• Sicherheit braucht die Herrschaft des Rechts und
• Sicherheit ist Schutz der Demokratie vor Anti-Demokraten, und so bleibt ihm beim Thema Europa und multipolare Welt auch die Forderung 
• Sicherheit braucht eine handlungsfähige Europäische Union
,

 

eine Forderung, die es noch umzusetzen gilt. Und das könnte seiner Auffassung nach ja auch geschehen, denn wenn wir die Welt erhalten wollen, müssen wir sie verändern. In der letzten Zeit wäre ja dazu ausreichend Gelegenheit , gewesen. „Verpasste Chancen“, könnte sein nächstes Buch genannt werden. 

Die homoerotischen Gefühle Thomas Manns

Es geht in diesem biografisch angelegten Titel aus dem Rowohlt Verlag um das homoerotische Verhältnis zwischen Thomas Mann und Paul Ehrenberg, doch liest man das Buch ist es eher ein verborgenes, verstecktes, verdruckstes Verhältnis, wenn man es von außen betrachtet. Manches Zitat von Mann, das auch schwülstig daherkommt, verspricht mehr an Tiefe liebender Empfindungen, doch am Ende scheitert diese persönliche Beziehung eben auch. 

Die beiden ziehen sich in Eheverhältnisse zurück, und es bleibt alles so, wie es in bürgerlichen Zeiten jener Jahre sein soll. 


Lesen wir erst einmal zwei Zitate: „Wo zwei sich treulich nehmen und ergänzen, wächst unbemerkt, dass freudige Werk der Musen.“ Mann zitiert hier Eichendorff. Es handelt sich um eine Widmung von Thomas Mann. 


Ein weiteres Zitat: „Drum lass mich wieder, Freund, ans Herz dich drücken.“  Zitat Ende.

 
Und eben das Titel-Zitat: „Man kann die Liebe nicht stärker erleben“,


Thomas Mann hat eben auch gegenüber Männern Gefühle. Zwar war es im Kaiserreich so, dass 20.000 Männer verurteilt wurden, weil sie Sex mit anderen Männern hatten. Jahrelang kämpften Sexualwissenschaftler um die Abschaffung des Paragraphen 175. 


Der Mief jener kaiserlichen strengen Jahre führte dazu, dass homoerotische Beziehungen in der Verborgenheit gediehen. 
Es ist eine schwierige Sexualitätsbeziehung der beiden Männer, die in diesem Buch nicht immer punktgenau analysiert und charakterisiert werden kann. Es geht dann eher um den indirekten Beweis der Homoerotik. Der Text muss dann selbst im Vagen bleiben, der Leser macht sich dann den Reim darauf, wenn der Autor mehr Fragen aufwirft als er sie öfter konkret beantworten kann. Das Verhältnis der Beiden ist oft von Aggressionen gegen Paul geprägt. Man schreibt etwa: “Wie ich sie hasse diese Geschlechtlichkeit“, oder „Trennen wir den Unterleib von der Liebe“. 


Thomas Mann und Paul Ehrenberg treffen sich in München in den gesellschaftlichen Kreisen der Salons, es wird vorgelesen, musiziert, getanzt., geliebt. Gemeinsame Faschingsbälle sind an der Tagesordnung. Sie genießen Wein, Musik, was die erotische Beziehung angeht, so ist es ist eine „Liebe zwischen Ungleichen.“ Thomas Mann behandelt seinen Liebhaber immer von oben herab. 


Ehrenberg hat als Maler nur einen mittelmäßigen Erfolg. Thomas Mann sucht immer nach Geschichten und Figuren, und so taucht Paul auch später in Romanen auf, etwa im „Doktor Faustus“. 
Wenn Thomas Mann seinen homoerotischen Liebhaber einen „tapferen Maler“ nennt, dann ist das nicht gerade literarische Überhöhung. 
Thomas Mann hat mit seinem Buddenbrooks-Buch Erfolg, wird populär, während Paul Ehrenberg mit seiner Naturmalerei eher nicht auf dem Erfolgswege ist. 
Dieses Verhältnis kennt ein häufiges Auf und Ab der Gefühle: Abschätzigkeiten wechseln sich ab mit Grobheiten und Verachtung. Es wechselt auch zwischen bloßer Freundschaft und übergroßer Liebe. 
Fischer analysiert: „Seine Aggressionen gegen Paul sind immer auch Autoaggressionen gegen seine eigene, nie ganz akzeptierte Sexualität“.

 

Es ist eben auch ein Machtgefälle das hier herrscht. Es ist durchaus umstritten in der Literaturwissenschaft, wie tief die mentalen und körperlichen Beziehungen des Nobelpreisträgers zur Männerwelt hin waren. Die einen schreiben, dass nichts darauf hindeutet, was auch nur im Entferntesten einer körperlichen Beziehung geähnelt hätte, während Oliver Fischer keinen Zweifel daran lässt, dass Thomas Mann diese Seite der männlichen Sexualität auch ausübte. Eben eher im Verborgenen. 
Katia Mann, die spätere Ehefrau von Thomas Mann, sagt, dass die Überlegung, Thomas zu heiraten, nicht ihre Idee war, es ging von ihm aus, sagt Katia. 


Thomas Mann zeugt mit ihr Kinder und schreibt gleichzeitig, „…mich quält der Gedanke, dass ich mich nicht hätte menschlich attachieren und binden dürfen.“ So sehen glückliche Verhältnisse nun eben nicht aus. 
Fazit: Das Buch führt uns in eine Zeit zurück, als homoerotische Liebschaften und tiefes erotisches Interesse zu Männern verborgen bleiben mussten, versteckt wurden. 


Das Buch lüftet einige Schleier, führt uns in eine nicht-tolerante Zeit zurück, als homoerotische Liebschaften und tiefes erotisches Interesse zu Männern vor der Gesellschaft im Geheimen bleiben musste. 
So bleibt vieles in dem Buch auch Beschreibung von Schwärmerei, die der Phantasie des Lesers überlassen wird. An vielen Stellen steht eben ein Vielleicht und kein Gewiss · Sicher · Garantiert, um das Verhältnis der beiden Seiten zu beschreiben. 


Thomas Mann: Neues Buch über die homosexuelle Seite des Schriftstellers | NDR.de - NDR 90,3


Oliver Fischer, geboren 1970, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und katholische Theologie. Er arbeitet als freier Journalist in Hamburg, unter anderem für «Geo Epoche» und «Merian». 2016 gründete er die Thomas Mann-Gesellschaft Hamburg, deren Vorsitzender er ist. Zudem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft.
Oliver Fischer Man kann die Liebe nicht stärker erleben Thomas Mann und Paul Ehrenberg Rowohlt

 

Oliver Fischer Man kann die Liebe nicht stärker erleben Thomas Mann und Paul Ehrenberg Rowohlt

 

Unseld: 100 Briefe an Weltliteraten

„Hochverehrt“ hieß damals die unterwürfige Ansprache, die Grüße an Hermann Hesse waren beispielsweise „verehrungsvoll“ und die Unterschrift vom Verleger Siegfried Unseld waren mit einem „ergeben“ verziert, Unseld der höfliche, der zielgerichtete, der kommunikative Verleger, der seine Autoren um den Finger zu wickeln wusste. »Ich möchte später in meinem Verlag eine Reihe: Romane der Weltliteratur (oder ähnlich) veröffentlichen« schreibt er seinem Professor. 
Er lässt auch gerne andere für sich einsetzen, Zuckmayer soll für seine Verlagsgründung gewonnen werden. 


Für seine Promotion setzt er beim Professor „eine Pistole auf die Brust“. 
Unseld weiß, was er will. Und so spricht er Suhrkamp selbst an, er will in seinem Verlag in irgendeiner Form mitarbeiten. Und das gelingt ihm auch. Lektorat und Vertrieb interessieren ihn und der Autor Hermann Hesse.  Vom 7. Januar 1952 an ist Unseld Mitarbeiter des Suhrkamp Verlag. 
 
Auch wo Honorare zu ergattern sind, weiss der Jungverleger: „Durch jede Publikation in unserem Verlag verstärkt sich ihr Rang, und in diesem Verhältnis erhalten sie besseren Zugang zur Milchkuh Rundfunk etc“.


Aber, er weiß auch: „Der Mittelmäßige kann sehr viel verdienen“, schreibt Unseld an Ingeborg Bachmann, die ein unstetes Leben führt und da bietet Unseld einen Hafen im Verlag an: „Wie sehr es Dich nach einem sicheren und endlich einmal ruhigen Port zieht, so sehr bist Du doch Wandernde und Fahrende zwischen den Ländern, zwischen Möglichkeiten und Fixierungen. Die Dauer, als Phänomen und Möglichkeit, wird etwas Bezwingendes, Verführerisches für Dich haben, und doch weißt Du auch, daß es für eine bestimmte Art Mensch diese Dauer nicht gibt, nicht geben darf.“

 

Der Grafiker Willy Fleckhaus bestimmt das vielfarbige Design des Verlags, es wird zum Markenzeichen, er arbeitet seit 1959 mit dem Suhrkamp Verlag, entwickelt das Design für die Bibliothek Suhrkamp, 1963 startet die edition suhrkamp, eine Taschenbuchreihe, „für alle bestimmt, zu deren täglichem Umgang moderne Literatur und insbesondere die deutsche Literatur gehört: Literatur nicht als Dekoration, sondern als ein zu nutzender Lebenswert«. 


Das Ableben des Altverlegers und Mentors Suhrkamp erschüttert Unseld: „Da ist von heut auf morgen ein Partner weggefallen, ein Gegenüber, mit dem Du Dich Tag und Nacht unterhieltest, eine Wand, an die Du Dich lehntest, und gegen die Du Dich stemmtest, und nun ist sie zusammengebrochen und Du hast das Gefühl, als flögest Du durch einen merkwürdig luftverdünnten Raum, ohne Halt und Haltung, und immer ist irgendwie die Gefahr des Zerschellens an tückischer Klippe zugegen.“ 


Unseld sammelt die Großen der Literatur für sich ein, zum Beispiel Hans Magnus Enzensberger: „Du kennst mich und weißt, daß die ausschließlich literarische Linie des Verlages nicht um einen Deut verlassen wird, ich möchte eher noch größeren Wert auf Substanz und Qualität legen und also jener Neigung zum Allerweltsverlag, wie sie berühmte, unrühmliche Beispiele zeigen, widerstehen. Ich werde dies wohl kaum ohne eine gute Portion Glück, sicherlich nicht ohne Mitarbeiter und Gleichgesinnte, nicht ohne Lotsen, Topographen und Wünschelrutengänger vermögen.“

 

Helene Weigel, der Brechtikone, verspricht der Charmeur, Machztmensch und macho-geneigte: „Zweifeln Sie nicht an meiner Loyalität Ihnen gegenüber und bauen Sie auf die Gewissheit, dass bei uns alles geschieht, Brechts Werk und seine Wirkung zu sichern.“ 
Max Frisch, der den Trend zur Kommerzialisierung kritisiert, fragt Unseld, ob er sich als Industrieller vorkommt, ihm verspricht er „… mein Verlag, ist eben keine Firma, keine Agentur für Literaturverwertung …“

In einem Brief an Alexander Mitscherlich kommentiert er die studentischen Unruhen so: „Hier sind die Verhältnisse leicht unruhig, unter der Decke der sprachlosen Mehrheit grollt es, darüber aber beherrschen die Angst- und Panikmacher das Feld.“ 


In einem Brief an Helmut Schmidt kritisiert er die semantische Verwendung des Wortes „Wiedervereinigung“ der beiden deutschen Staaten, die es nie geben wird. „Was wir realisieren können, ist eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu einem dritten. Mir schiene es richtig, wenn man von einer ‚kommenden Vereinigung‘ spräche.

 

Thomas Bernhard ebnet er den Weg zum Erfolg und seinem Sohn Joachim Unseld den Weg in den Verlag: „… ich will, dass Du mein einziger Nachfolger wirst; Du bist mein Erbe.“ 


Später zerstreiten sich die beiden Joachim wird abgefunden. 
50 000 Briefe hat Unseld ins seinem Verlegerleben geschrieben, 100 wurden repräsentativ ausgewählt und sehr fundiert kommentiert. Unbedingt Zitate und Notate mitlesen.


Die Briefe sind oft Schmeicheleien, aber auch zielgerichtete Willenserklärungen des Verlegers, der genau wusste, was er wollte. Und als Atlantikschwimmer hatte er auch Durchhaltevermögen. Sein Verlagsleben ermöglichte das Publizieren von Dichtung und die Wissenschaft, Avantgarde und Klassik, Revolte und Tradition, wie Thomas Steinfeld in einer Rezension schreibt. Das Buch ist Porträt einer Zeitenepoche über Literatur des vergangenen Jahrhunderts. 2002 endete das erfolgreiche Verlegerleben. 


Siegfried Unseld wurde am 28. September 1924 in Ulm geboren und starb am 26. Oktober 2002 in Frankfurt am Main. Nach dem Abitur wurde er im Zweiten Weltkrieg zum Kriegsdienst einberufen und war drei Jahre lang, bis 1945, als Marinefunker im Einsatz. Nach seiner Rückkehr absolvierte er beim Ulmer Aegis Verlag eine Lehre als Verlagskaufmann. 1947 erhielt er durch die Vermittlung von Professor Weischedel die erstrebte Zulassung an der Universität Tübingen und studierte dort Germanistik, Philosophie, Nationalökonomie, Völkerrecht, Bibliothekswissenschaften und Sinologie. Seinen Lebensunterhalt bestritt Unseld als Werkstudent. Bis 1950 arbeitete er im Verlag J. C. B. Mohr in Tübingen. 1951 promovierte er mit einer Dissertation über Hermann Hesse zum Dr. phil. 1952 trat er in den Suhrkamp Verlag ein, wurde 1958 Gesellschafter der Suhrkamp Verlag KG und übernahm nach dem Tod Peter Suhrkamps die Verlagsleitung. Neben seiner beruflichen Tätigkeit besuchte er 1955 das von Henry Kissinger geleitete Internationale Seminar der Harvard Universität in Cambridge/Mass. (USA). Unseld führte die Verlage Suhrkamp und Insel und den 1981 von ihm gegründeten Deutschen Klassiker Verlag bis zu seinem Tod im Jahr 2002

Der Mann, der die Spannung im Film erfand


53 Filme hat der Altmeister des Thrillers in über fünf Jahrzehnten produziert. Seine Freunde nannten ihn "Hitch“, was jedoch oft verborgen blieb, war die besonders wichtige Rolle seiner Frau   Alma Reville beim gemeinsamen Filmeproduzieren. 


Das ist das besondere Kennzeichen dieser Hitchcock-Biografie, die auch in der Überzeile zu dem Buch „Eine Liebe fürs Leben“ zum Ausdruck kommt. Der Autor schildert das Leben Hitchcocks in drei großen Etappen, zunächst das Kämpfen „Hitchs“ um Anerkennung in England in seinen frühen Jahren, dann das goldene Zeitalter in Teil Zwei mit der Übersiedlung des Ehepaars nach Amerika und konkret nach Hollywood. Dort entstehen dann seine größten Meisterwerke, aber es sind auch immer wieder Misserfolge, die den großartigen Regisseur ereilen, wenn besondere Ideen sich am Mainstream der Zelluloidfabrik brechen. Im dritten Teil dann die letzten Jahre des Filmregisseurs, die überschrieben sind mit der Überschrift DER AUSKLANG. In einem Abspann erklärt der Autor das zeitlose Vermächtnis von Mrs. und Mr.Hitchcock.

 

Im Anhang sind dann Anmerkungen, Zeittafeln, die Filmografie, ein Register, der Dank und schließlich auch der Bildnachweis aufgeführt.
 Die einzelnen Kapitel sind immer wieder von großartigen szenischen Bildern unterbrochen. Vor den Kapiteln stehen auch Zitate, die impressionistisch in den folgenden Text mit einführen, etwa den zu Beginn von Janet Leigh: „The lady had a very sharp ey.“ 


Jedes Drehbuch, jede Kameraeinstellung, die szenische Ausstattung, all das wird von der Ehefrau von Alfred Hitchcock minutiös geprüft und schließlich freigegeben oder nicht; etwa mit Sätzen: „Du kannst den Film nicht rausgeben, Hitch.“ Warum war das so? Weil die Leiche noch blinzelte, und Mrs. Reville hatte es gesehen, dass, die Leiche noch blinzelte. 


Das Ehepaar bildete, so der Autor, im Prinzip eine schöpferische Einheit und auch privat ein glückliches Paar. Sie seien EINS gewesen. 
Der Autor erzählt das turbulente Leben von Alfred Hitchcock am Set, zugleich aber auch das harmonische Familienleben zwischen Ehefrau und seinen Kindern und Enkeln. Das symbiotische Verhältnis der beiden Filmemacher zeigt sich vor allem im Schnitt eines Films, die als eine Kunst, als  ein Statement beim Filmemachen empfunden wird.  


Als Alma Hitchcock am 6. Juli 1982 in Los Angeles starb – zwei Jahre nach ihrem Mann –, schrieb die Los Angeles Times in ihrem Nachruf: „Der Hitchcock-Touch hatte vier Hände – zwei davon gehörten Alma.“ 
Dem Filmemacher bescheinigt der Autor eine gewisse Unschuld und eine Lebensfremdheit, vor allem aber eine gewisse Scheu gegenüber Menschen. Geradezu ein Trauma wird es für ihn, als sein Vater ihn bestraft, indem er ihn nach einem Fehlverhalten in eine Gefängniszelle einsperren lässt. Dieses Motiv persönlicher Demütigung wird später in den Filmen von Hitchcock immer wieder vorkommen. 


Seiner Ehefrau Alma wird zuweilen unterstellt, sie wirke ein bisschen herrisch und „Hitch“ fürchtete sie. Das kann gut sein. 
Immer wieder kämpft der Filmregisseur auch mit den Größen der Filmproduzenten, die natürlich immer den Einnahmeerlös an den Kinokassen im Auge haben. Die visuelle Virtuosität von Alfred Hitchcock hatten sie nicht immer im Blick, sie musste sich immer wieder am einzelnen Projekt selbst beweisen und die Filmoberen überzeugen. Dazu gehörten daneben auch subtilste Überredungskünste. 


Der französische Hitchcock-Fan Francois Truffaut, der „Hitch“ in umfangreichen Interviews stundenlang befragt hat, sagt zum Filmgeheimnis des bekannten Thriller-Autors: „Vom Entferntesten zum Nächsten, vom Größten zum Kleinsten“, das sei das Stilelement des Regisseurs. Zugleich wird ihm aber auch bescheinigt, dass er am Set eine geradezu schläfrige, dösende, mit einem unergründlichen Lächeln auf den Lippen verbundene Ruhe ausstrahlte, so als wären gar keine Regieanweisungen notwendig. Auf der anderen Seite probte er mit nicht bekannten Schauspielern stundenlang irgendwelche Einstellungen. 
Eine Marotte war, nachdem er nachmittags einen Tee getrunken hatte, die leere Tasse hinter die Schulter zu werfen oder wenn es einmal an dem einen oder anderen Schauspieler fehlte, selbst in den Anfangsszenen eines Filmes vorzukommen, und dies wurde dann später geradezu zu einem Markenzeichen.


Nicht immer war die Presse auf der Seite des Filmemachers. 
Thilo Wydra arbeitet sich von Kapitel zu Kapitel, von einem zum nächsten Film, manchmal doch sehr ausführlich ab.
Hitch fremdelt etwas mit Hollywood, er gilt halt als etwas seltsam und vor allem als sehr britisch. Er ist der „englishman abroad“. Ein Produzent nennt ihn einmal „fat, forty and full of fire“.


Die Tochter schildert das Arbeiten der Filmeltern so: „Sie hatten eine große Ehrlichkeit, wenn es um ihre Arbeit ging und waren ihre eigenen schärfsten Kritiker.“ 


Sowohl in seinem beruflichen Leben als Filmregisseur als auch in seinem Privatleben kämpft Alfred Hitchcock um sein Gewicht, um das Anerkennungsgewicht in der Filmbranche als wichtiger Regisseur mit internationalem Format und im Privatleben um die Pfunde, die er mit sich herumträgt. 


Auf die großen Filmemacher des französischen Kinos Chabrol und Truffaut hat Alfred Hitchcock einen nachhaltigen großen Einfluss gehabt und ihr Filmschaffen entscheidend mitgeprägt.
Hitchcocks skurriles, eigenartiges Denken kommt auch in solchen Sätzen zu Tage: „Was für mich lustig ist? Einen Film wie Psycho zu drehen. Das finde ich urkomisch.“


Szenen aus diesem Thriller machen Menschen noch heute Angst, wenn sie unter die Dusche gehen, weil die Bilder von Hitch sich so tief ins öffentliche Bewusstsein eingeprägt haben. Als ein Zuschauer einmal in einem Brief äußert, dass seine Tochter sich wegen der Mordszene nicht mehr duschen möge, antwortet „Hitch“, “…dann schicken Sie sie in die Reinigung.“ Da war er, der britische Humor. 
Psycho und Die Vögel sind längst als Filmklassiker in das kollektive Gedächtnis der Menschen eingegangen. 


Typisch für ihn der Satz: „Ich habe keine Hobbys, also werde ich einfach sehen müssen, wo die nächste Leiche auftaucht. „So spannend sein Filmleben war, so normal war sein Ableben. Seine Familie bestätigte, er sei friedlich eingeschlafen. Jedoch, wie eine dramatische Pointe in einem seiner Drehbücher für den Schluss eines Films, zeigt der Autor auf den letzten Seiten ein schreckliches Feuer. Viele Erinnerungsstücke des Ehepaars sind im Haus der Tochter bei einem großen Brand 2018 komplett verbrannt. So als hätte „Hitch“ diese Szene in das Drehbuch des Lebens geschrieben oder eben seine Frau Alma Reville, die im Vorspann oder Abspann oft namentlich genannt und in dieser Biografie als Ehefrau von Alfred Hitchcock eben in besonderem Maße gewürdigt wird. „Endlich ein Buch, das Alma, ›die Frau an seiner Seite‹, als Hitchcocks ebenbürtige und wichtigste Mitschöpferin erkennt und beschreibt“, sagt die Regisseurin Margarethe von Trotta.


Ein Buch für Cineasten und Thriller- Fans und „Making of“-Begeisterte

 

Thilo Wydra, geboren 1968 in Wiesbaden, lebt in München. Nach dem Studium der Komparatistik, Germanistik, Kunstgeschichte und Filmwissenschaft an den Universitäten Mainz und Dijon (Burgund) arbeitet er seit den frühen 1990er Jahren als freier Autor und Publizist

 

Thilo Wydra Eine Lebe fürs Leben Alma und Alfred Hitchcock Heyne Verlag

 

Die sieben Farben der Einsamkeit


Schon seltsam, dass der Staatsgründer Israels noch von keinem deutschen Biographen für würdig befunden wurde, in einem Buch in Memoiren gewürdigt zu werden. Dabei hören wir tagtäglich Nachrichten über den Gaza-Krieg und die Rolle Israels dabei. Israel die langzeitumstrittene Staatsgründung.


Sein Name, David Ben-Gurion (ursprünglich David Josef Grün) wurde immerhin festgehalten bei der Namensgebung des Flughafens von Tel Aviv. 


Mit der Verkündung der Unabhängigkeitserklärung 1948 begann die Geschichte des modernen Staats Israel. Gurion war der erste Ministerpräsident des neugegründeten Staates, dessen Existenzberechtigung in der Folge immer wieder zu politischem Streit, Kriegen und internationalen Konflikten führte.

Und es gab noch eine Lücke auf dem Buchmarkt, niemand hatte bis dato die Geschichte der Ehefrau Bin Gurions beschrieben, auch über sie existierte bisher weder eine Biographie noch ein Roman. Stephan Abarbanell hat sie geschlossen. 


Der Autor reiste nach Israel und ergründete vor Ort die Zusammenhänge, wie er ausführlich im Nachwort notiert, wer ihm alles dabei geholfen hat diese Liebes- und Ehebeziehung zu hinterleuchten. Glücklich scheint das Schicksal von Paula nicht gewesen zu sein, von Minsk in die USA gegangen, vermisst sie den amerikanischen Lebensstil im Kibbuz der Wüste: 


„In nahezu jedes Land hätte man sie schicken können, solange es über fließend Wasser, Heizungen, Kühlschränke und eine vernunftgesteuerte Regierung verfügte (also eigentlich keines). Aber nicht in die Wüste. Und nicht in einen Kibbuz am Ende der Welt, wo ... ihre Kinder und Freunde fern waren.“ Mit dem Leben in der Wüste kommt sie nicht klar, niemand hatte sie gewarnt davor: „Wie sollte man auch erkennen, was man nicht kennt.“ Zwischen den Dialogzeilen auch immer wieder Politisches. 


Sie ist eine frustrierte Ehefrau, erst recht, weil Ben Gurion angeblich drei außereheliche Beziehungen pflegte. Frustrationen bestimmten ihr Leben, das eben gekennzeichnet war von den sieben Farben der Einsamkeit. 

 

Stephan Abarbanell, 1957 geboren, wuchs in Hamburg auf. Er studierte Evangelische Theologie sowie Allgemeine Rhetorik in Hamburg, Tübingen und Berkeley und war viele Jahre lang Kulturchef des rbb.

 

Stephan Abarbanell Paula oder die sieben Farben der Einsamkeit BLESSING

Klopstock - die Biographie

„Das waren noch Zeiten, als an der Frage, wie der Daktylus und der Spondäus in der deutschen Sprache wiederzugeben seien, das Leben hing“ – so schwärmt der Bielefelder Literaturprofessor Kai Kauffmann in seiner Biographie über Klopstock. Der 300. Geburtstag des Autors in diesem Juli war kein seiner Beisetzung im Jahre 1803 in Hamburg vergleichbares Großereignis. Damals „begleiteten 126 Wagen die Leiche, welche unter einer Ehrenwache von 109 Mann zu Fuß und zu Pferde durch Zuströmen vieler Tausender und unter mehreren angemessenen Feierlichkeiten an einem heiteren Frühlingstage eingesenkt wurde“ (zeitgenössischer Bericht). Wer wurde da zu Grabe getragen? 

 

Der Biograph schmückt die ganze Lebenserzählung mit zahlreichen Beispielen aus dem umfangreichen Werk Klopstocks, so dass sie sich auch als Lesebuch eignet, denn die auf 46 Bände konzipierte historisch-kritische Hamburger Klopstock Ausgabe wird allenfalls von einer Hand voll Spezialisten in die Hand genommen werden. Klopstock gilt in erster Linie als Autor des „Messias“, eines in freien Hexametern geschriebenen biblischen Epos, eines heute kaum noch lesbaren, über einen 25jährigen Schaffensprozess entstandenen Werks. Sein Biograph begleitet diesen Prozess und es gelingt ihm, dabei so etwas Spannung zu erzeugen. Die ergibt sich schon aus den äußeren Lebensumständen Klopstocks, der 20 Jahre lang in Kopenhagen am Hofe des ihn aushaltenden dänischen Königs verbracht hat. Danach verlegte er seinen Lebensmittelpunkt nach Hamburg, wohin er auch wieder zurückzog, nachdem eine kurze Episode in Karlsruhe von ihm beendet wurde, wo er vom badischen Markgrafen eine lebenslange Pension erhielt. Zwischen die Arbeiten am „Messias“ schob Klopstock eine Vielzahl von Oden und Elegien, in denen er verschiedene Versmaße ausprobierte und entwickelte. Kauffmann stellt sie als frühe Meilensteine für die Herausbildung moderner, freierer Poesieformen nachvollziehbar vor. Er schreibt damit einen unverzichtbaren Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts.


Wenn es um die poetologische Sache ging, war Klopstock ein streitbarer Geist. Die – manchmal über Bande gespielte - Auseinandersetzung mit Wieland ist ein wichtiges Detail. Mit seinem jüngeren Zeitgenossen Goethe trug er eine Fehde über dessen Lebenswandel aus, als er erfuhr, welche Ausschweifungen der zusammen mit seinem Weimarer Fürsten begangen hatte. Goethe verbat sie die Einmischung. Kauffmann differenziert in Klopstocks Autoritätsanspruch gegen Goethes Autonomieanspruch. Es zeichnete sich früh ein Ringen um die dichterische Vorrangstellung zwischen dem bereits etablierten Klopstock und dem aufstrebenden Goethe ab. Dem trägt der Biograph mit einem Satzzeichen im Titel Rechnung: Das Ausrufezeichen hinter Klopstock ist ein Zitat aus Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“, in dem der Titelheld in der Gewitterszene Klopstocks Gedicht „Landleben“ zitiert, das Lotte offenbar kennt und sagt: Klopstock!“   


Viele Einzelheiten aus Leben und Werk Klopstocks sind heute nicht mehr allgemein bekannt. Er hat die Französische Revolution bejubelt und ihre mörderische Wandlung scharf kritisiert. Er sprang auf den vaterländischen Zug des Hainbundes und schrieb heute als nationalistisch disqualifizierte Verse. Sein Beitrag zu einer Rechtschreibreform – man solle so schreiben, wie man spricht – blieb folgenlos und sein Projekt einer „Deutschen Gelehrtenrepublik“ Utopie. Bewundernswert gelingt es Kauffmann, die biographischen, poetologischen und gesellschaftlichen Fragen zu bündeln und wie selbstverständlich und gleichzeitig erscheinen zu lassen. Die Langeweile, die manchen bei der Lektüre des Originals befallen kann, kommt in dieser „endgültigen“ Biographie nie auf.


Harald Loch
 
Kai Kauffmann: „Klopstock!“   Eine Biographie
Wallstein, Göttingen 2024   420 Seiten   26 Euro

 

Der verbrannte Ketzer: Giordano Bruno

Die Strafen waren schwer: Entweder gab es lebenslange Zwangsarbeit auf einer Galeere oder es drohte der Scheiterhaufen, Verbrennen bei lebendigem Leibe.

 

So scharf war der „Wächterstaat“ der kirchlichen Inquisition gegenüber Ketzern. Es ging darum, kirchliche Irrtümer zu vermeiden. Diese Glaubenstribunale der katholischen Inquisition hatten die Aufgabe, den „Widerstands-Virus“ durch Häresie zu unterbinden. Es sollte der Ruhm Gottes und seiner Kirche weiter gelten, Irrlehren waren auszumerzen. Es galt der harte Kampf der Ketzerei dem verbreiteten Unglauben.


Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte an der Universität Fribourg. Er hat in seinem Buch „Der nach den Sternen griff - Giordano Bruno Ein ketzerisches Leben“ ein unglaublich detailliertes, dokumentarisches Buch über den Revolutionär des Mittelalters vorgelegt. Es liest sich wie ein spannender Thriller über den intellektuellen jener Zeit, der in den religiösen Zentren Europas, in Genf, Toulouse, Paris, Oxford, London, Wittenberg, Prag und Zürich seine lästerlichen Reden verbreitete.

 

Der geistreiche Verächter aller Glaubenswahrheiten wurde überall in Europa zunächst als Gelehrter empfangen, aber je mehr er in seinen Reden und Schriften von sich gab wurde er früher oder später als böser Ketzer vertrieben. In Venedig und später in Rom geriet er in die Fängen der Inquisition, wurde dann aber nach Rom ausgeliefert, zunächst in jahrelange Kerkerhaft gesteckt, und schließlich im Heiligen Jahr 1600 in einem feierlichen Zeremoniell öffentlich verbrannt. Volker Reinhardt hat alle vorliegenden Schriften und Dokumente des Inquisitionsverfahrens entschlüsselt und mit einem großen Zitatenschatz neu interpretiert. Es gilt, ein Buch zu schreiben über einen eiskalten Justizmord, heißt es im Klappentext. Die Verhöre, die Zeugeneinvernahme, die Einlassungen der Inquisition und deren Urteilsfindung werden minutiös aufgezeichnet.

 

Bruno erklärt immer wieder, dass seine Ausführungen böswillig verdreht worden sein. Es gab auch einen Wiederholungsprozess, in dem alle Zeugen noch einmal einvernommen wurden. Es kamen weitere Anklagepunkte hinzu, unter anderem, dass sich Giordano Bruno abträglich über den Papst und seine Macht geäußert habe. Nach dem Urteil des Autors deckten die Zeugenaussagen ein wahrhaft „imposantes Ketzereispektrum“ ab.

 

Aber es hapert, so heißt es wörtlich an der Qualität der Zeugen, die offensichtlich dem Angeklagten gegenüber feindlich eingestellt waren und leicht durchschaubare Motive hatten, sich an ihm zu rächen oder sich selbst bei der Inquisition „lieb Kind“ zu machen. Auch die letzten Bekehrungsversuche nach der Urteilsverkündung waren vergeblich. Am Morgen des 17. Februar 1600 wurde Giordano Bruno auf dem Campo de Fiori öffentlich verbrannt. Es gilt als sicher, dass sich bei dem Verbrennungsprozess Giordano Bruno von dem ihm entgegengestreckten Kruzifix verächtlich abwendete, also Glaubenssicherheit bis in den Tod hinein. Alle seine Schriften waren bereits vorher am 8. Februar aufgenommen worden in den Index der verbotenen Bücher. 

 

Interessant ist an diesem Buch auch, dass nicht nur der historische Prozess dieses ketzerischen Lebens dargestellt wird, sondern auch in einem Epilog das Nachleben eines großen „Unzeitgemäßen“ dargestellt wird. Ob Diderot, Hegel oder wie ich hinzufüge in einem Lied von Konstantin Wecker ist das Gedächtnis über Giordano Bruno wachgeblieben. Der Papst sprach am 12. März 2000 vom „Unrecht der Exekution“. Der Autor verwehrt sich aber gegen heutige Inanspruchnahmen Zitat: „Keine der vielen Vereinnahmungen wird ihm (Bruno) als Ausnahmegestalt und Kind seiner Zeit gerecht“. 


Volker Reinhardt Der nach den Sternen griff Giordano Bruno Ein ketzerisches Leben CH Beck

 

Volker Reinhardt ist Professor em. für Geschichte an der Universität Fribourg.

 

Pressestimmen


„Ein Justizmord, bilanziert Volker Reinhardt in seiner packenden Biografie. Anhand von neu entdeckten Dokumenten zeichnet der Freiburger Historiker den Prozess gegen Giordano Bruno nach.“
NZZ Geschichte, Thomas Ribi

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„Eine Biografie, die man auch als Epochengeschichte Europas lesen kann.“
ZEIT Wissen

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„Trägt in seiner sehr gut lesbaren Biographie nicht nur altbekannte und neu entdeckte Quellen zusammen, sondern weist auch auf deren begrenzte Aussagekraft hin.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Andreas Bähr

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„Reinhardt, routinierter Biograf mit Büchern von Luther bis Voltaire und von Machiavelli bis Montaigne, zeichnet das Lebensbild eines Freigeistes nach, der erst hofiert und dann verjagt wurde.“
WELT, NZZ, RBB Kultur und Radio Österreich

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„Reinhardts lebendige Sprache macht das Werk zu einem echten Lesevergnügen.“
taz, Leon Holly

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„Kriminalistisch äußerst spannend“
Deutschlandfunk Kultur, Michael Opitz

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„Volker Reinhardt erzählt dieses unglaubliche Leben gleichermaßen flott wie historisch präzise.“
Falter, Oliver Hochadel

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„Reinhardts Buch weckt die Lust darauf diesseits des Nachruhms den Schriftsteller und Philosophen Giordano Bruno wieder stärker zu beachten.“
Philosophie Magazin, Christoph Bartmann

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„Mehr als eine Biografie eines Philosophen zu Beginn der Neuzeit, es ist Mahnung zu Toleranz und Meinungsfreiheit in unserer Gegenwart.“
Cicero, Alexander Grau

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„Volker Reinhardt hat Giordano Brunos Lehrpfad von Italien bis England verfolgt, seine Schriften gelesen und erstmals jene Dokumente über den Prozess der Inquisition untersucht, die in den Archiven des Vatikans lagen und erst Ende des 20. Jahrhunderts freigegeben wurden.“
Salzburger Nachrichten, Ursula Kastler

Klaus Mann:Literatur-Drogen-Todessehnsucht

Mit 542 Seiten legt Thomas Medicus, der unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Frankfurter Rundschau gearbeitet hat, nun als freier Publizist in Berlin, eine opulente Biographie des Thomas-Mann-Sohns Klaus Mann vor. 


Sein Buch-Gegenstand: Ein bewegtes, turbulent-trubeliges Leben eines schillernden Bohemians, der als Schriftsteller jedoch im Schatten seines Vaters, des Nobelpreisträgers Thomas Mann steht. 


Medicus schildert die Münchner Kindheit, die Karriere des Dandys in der Weimarer Republik, seine homosexuellen Eskapaden und Krisen, bis zur politischen Emigration als Hitlergegner, als die Nazis sich zu Verfolgern der Juden entwickelt hatten. Dieses schillernde Leben, das mit einem Selbstmord endet, ist für Medicus die symbolhafte Verkörperung eines gesamten Zeitalters, in dessen Höhen und Tiefen und vor allem ständigen Gefährdungen Klaus Mann seinen Mann stehen muss und doch scheitert. 


Es ist ein Leben voll Unrast und nicht Ruhe, voll permanentem Unterwegs-Sein. Hemmungslosigkeit bestimmt den Charakter von Klaus Mann, dessen Schreib- und Lesezwang ein Leben lang anhält, und das durch exzessiven Lebens-Ausdruck geprägt war. Schon in seinem Tagebuch hält Klaus Mann fest: "Ich möchte so gerne berühmt werden.“
 Klaus Mann nennt sich selbst „ ein Mensch meiner Art“, und diese Definition ist eine Selbsteinschätzung seines Schwulseins. 


Für ihn ist die Romantik der Unterwelt unwiderstehlich, das tobende Dasein der Weimarer Republik mit Drogen, Tanz und wechselten Liebschaften ist genau das Richtige für ihn, seine Lebensweise. Dazu gehört der Schnaps, der Champagner, Männer und Frauen, der Aufenthalt in teuren Hotels, das Herumreisen in ganz Europa kostet im Zug und im Flugzeug eine Menge Geld, und das Kapital dafür muss erst durchs Schreiben sicher nicht leicht erwirtschaftet werden. 


Androgyne Gestalten werden von nun ab Dauergäste im literarischen Werk Klaus Manns, der stets das Weibliche am Mann und nicht dessen Männlichkeit betont. Die Erotik ist auch Dauer-Thema in der gesamten Biografie Klaus Manns, vielleicht an einigen Stellen doch auch etwas überbetont.


Groß und mächtig fällt allerdings auch der Schatten des Vaters auf den Sohn, das ewig beschriebene Thema im Verhältnis der Familie Mann untereinander.


Homoerotisch verführbar blieb Thomas Mann sein Leben lang auch, homoerotisch, wohlgemerkt, nicht homosexuell, schreibt Medicus über den Vater Thomas Mann, dessen Sohn diese Differenzierung nicht vornimmt. 


Diese sehr detailreiche, faszinierende gründliche, ausgezeichnet geschriebene Biographie ist außerordentlich nah am Leben des Literaten orientiert, der sich gerne in Transvestiten-Lokalen herumtreibt, als Dandy fieberhaft unterwegs ist, die Liebschaften wechselt, ein nervös irrationales Bedürfnis nach ständigem Wechsel und Bewegung in sich trägt, der nie so recht zur Ruhe kommen kann, über dessen Leben Medicus aber schreibt: „Weder der junge noch der ältere Klaus Mann war ein originärer Denker von analytischer Schärfe. Er sammelte die Früchte seiner weitläufigen Lektüren und versuchte sich an einer Synthese. Stets ging es dabei ums große Ganze, mehr intuitiv als diskursiv. Das seismografische Erfassen gewissenhafter Entwicklungen gehört dabei zu seinen Stärken. Seine Feststellung, man habe das ständige Gefühl, zwischen zwei Katastrophen zu leben, sollte sich bald als richtig erweisen.“


Mit seinem Schönheitskult, seiner Exzentrik, seiner Blasiertheit und Eleganz protestiert Klaus Mann gegen die Vulgarität der Welt. 
Ausführlich entwickelt Klaus Medicus seine Interpretation vom Leben Klaus Manns auch aus den Werken des Autors selbst heraus.
Immer wieder sind es jedoch die Drogen, Kokain, Morphium, später auch Heroin, die an der Schaffenskraft des Autors nagen. Zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik gehört eben auch die Geschichte des psychedelischen Rausches.


Immer wieder treiben Selbstmordgedanken den emigrierten Autor zu Todessehnsuchts-Gedanken, die sich häufiger einstellen, sowie Einsamkeitsgefühle überhaupt. 


Es ist immer wieder der Kampf um Anerkennung, der Klaus Mann vorantreibt und über die permanente Müdigkeit hinweghilft.
Eine erschreckende Klarheit liegt in dem Satz: „War ein Liebesobjekt nicht mehr verfügbar, begehrte Klaus Mann den Tod.“
zugleich drängte ihn die zunehmende literarische Erfolgslosigkeit in die Ecke.


Nach der Niederlage des Nazi-Regimes kehrt Klaus Mann nach Deutschland zurück, kann jedoch nicht mehr recht Fuß fassen. Als er die US-Armee verlässt, schreibt er in sein Tagebuch „Entlassung, Unsicherheit, Entwurzelt, Ekel.“


Klaus Mann wird zu einem Spielball seiner Emotionen und Launen, mit denen er nicht mehr zurechtkommt.

 

Es ist eine Art rasender Stillstand in, dem er sich befindet. Verdeutlicht man sich, dass er in zwei Jahren und knapp fünf Monaten 60mal den Ort in Europa wechselt, 1200 Hotelzimmer kennengelernt hat, kann man erkennen, welcher Art von getriebener Mensch Klaus Mann war, eine Art nomadische Unrast trieb ihn an. 


Am Ende inhaliert Klaus Mann Gas und schneidet sich die Pulsadern auf.
Ein schwieriges Leben war an sein Ende gekommen, die Drogen nährten den Teufelskreis von Regression, Realitätsflucht und Todeswunsch. 

Hinzu kam die Vermeidung von Entscheidungen, die notwendig gewesen wären, häufig aber entweder nicht getroffen oder widerrufen wurden, schreibt Medicus, umso trauriger sein Suizid in „wortloser Einsamkeit“, mit diesen Worten endet Medicus seine eindrucksvolle, faszinierende detailreiche, spannend zu lesende Biographie über Klaus Mann, eine Nahaufnahme auf ein tragisches Leben, auf einen Literaten, dessen wichtiges Werk „Mephisto“ mir immer noch auch heute in bleibender Erinnerung geblieben ist.


Thomas Medicus Klaus Mann Ein Leben Rowohlt

 

 

Thomas Medicus, geboren 1953, schrieb u.a. für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und war stellvertretender Feuilletonchef der «Frankfurter Rundschau», viele Jahre arbeitete er für das Hamburger Institut für Sozialforschung. Heute lebt Thomas Medicus als freier Publizist in Berlin. 2012 veröffentlichte er die Biographie «Melitta von Stauffenberg», die NZZ dazu: «Was Medicus ausgegraben und recherchiert hat, ist sowohl bemerkenswert als auch bisweilen unglaublich. Gut geschrieben ist es zudem.» 2020 folgte die Doppelbiographie «Heinrich und Götz George», über die der «Deutschlandfunk» meinte: «Aufsehenerregend … In der Lebensgeschichte bricht sich mehr als ein Jahrhundert deutscher Geschichte.»

 

PRESSESTIMMEN

 

Süddeutsche Zeitung
Die opulente Klaus-Mann-Biografie ermöglicht eine Neubewertung des Lebens ... Medicus hält viele Fäden zur Lebensgeschichte eines Getriebenen in der Hand und macht deren oft fatales Zusammenwirken deutlich.

 

Harry Nutt, Berliner Zeitung
Eine kluge Biografie, die mit Klischees aufräumt und Überraschendes offenbart ... so anschaulich und detailliert erzählt.

 

Berliner Morgenpost
Eine fulminante Biografie ... die erste, die dem schillernden Klaus Mann in jeder Beziehung gerecht wird.

 

Tilman Krause, Die Welt
Eine große Biographie.

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ein eindrucksvolles Porträt … Medicus beschreibt vor allem die zerrissene Persönlichkeit Klaus Manns, die zu Extremen neigte und einen scharfen Verstand mit tiefer Verzweiflung vereinen musste.

 

MDR Kultur
In Medicus' detailgesättigtem und exzellent geschriebenem Buch spiegelt sich mehr als ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte - und Familiengeschichte.

 

General-Anzeiger
Spielerisch wechselt Thomas Medicus zwischen dem Leben und Schreiben Klaus Manns, schafft eine profunde heutige Einschätzung.

 

ORF
Beeindruckend ... Ein absolut lesenswertes Buch. Diese Biografie ist ein Muss für Mann- und geschichtsinteressierte Leser.

 

MDR
Eine detailreiche und überaus angemessene Biografie ... Die überragende Qualität besteht darin, dass sie im Spiegel von Klaus Manns Lebens auch die ganze Epoche lebendig werden lässt.

Universell - wirksam - begabt: GOETHE

Wen würde Goethe am 1. September in Thüringen wählen? Müßige Frage! Das großartige „Porträt eines Lebens“ des 1954 geborenen Literaturwissenschaftlers Thomas Steinfeld schließt wenigstens jede nationalistische oder, wie man gegen Ende von Goethes Leben sagte, „vaterländische“ Partei auf seinem Wahlzettel aus. Das Lebensporträt des in aller Welt als größten deutschen Dichter gefeierten Goethe bildet nicht nur seine Literatur vom „Götz“ und Werther bis zu Faust I und II, Wilhelm Meister und den Wahlverwandtschaften und manchen nahezu unbekannten Werken mit knappen Zusammenfassungen, zuweilen vom Bekannten abweichenden kritischen Würdigungen und den Zusammenhängen ihrer Entstehung überzeugend ab.

 

Dieses Porträt zeigt den ganzen Menschen von seinen Anfängen in der Frankfurter Familie, seinen Jugendjahren dort und den Studienjahren in Leipzig und Straßburg bis zu seinem Lebens- und Wirkungsmittelpunkt in Weimar. Es berichtet von dem leitenden Verwaltungsmann und frühen Kulturmanager in dem gar nicht so unbedeutenden thüringischen Herzogtum, mit dessen Landesherrn er sich unkonventionell verstand und dem mit er sich später auseinanderlebte.

 

Das Lebensbild blickt dem Naturforscher nicht nur über die Schulter, sondern reflektiert auch seine Erfolge und Irrtümer auf diesem Gebiet. Goethe war keiner, den das weibliche Geschlecht kalt ließ. Steinfeld zählt sie alle auf, diskret, jede zu ihrer Zeit: Als Einundzwanzigjähriger verliebte er sich im elsässischen Sessenheim in Friederike Brion, ließ sie aber bald allein. Legendär war seine nicht nur auf den langjährigen Briefwechsel zu reduzierende Freundschaft zu Charlotte Freifrau von Stein. Mit Christiane Vulpius hatte Goethe vor ihrer Heirat jahrelang zusammengelebt und auch Kinder bekommen, die bis auf den Sohn August sämtlich früh verstarben. Nach dem Tod seiner Frau verliebte er sich in Marienbad als Übersiebzigjähriger in Ulrike von Levetzow, die damals siebzehn Jahre jung war.

 

Goethes Italienreise ist legendär und auch auf seine Reisen in die Schweiz oder auf den französischen Kriegsschauplatz bei Valmy nimmt der Biograf sein Publikum mit. Die Zeiten waren turbulent: Die Französische Revolution, Napoleons Siegeszug bis vor die Tore von Moskau und sein Rückzug, die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und die Neuordnung Europas nach dem Wiener Kongress, die rasante Entwicklung von Naturwissenschaften, Medizin und Technik – das alles ergeben die „Bilder der Zeit“, wie der zweite Teil des Buchtitels heißt.

 

Goethe war universell interessiert, begabt und wirksam, als Dichter genial, als Kern der Weimarer Klassik bis heute unübersehbar. Seine Freundschaft zu Schiller nimmt in Steinfelds Buch einen ebenso angemessenen Raum ein wie sein Einfluss auf die kurze Blüte der Universität Jena mit den Philosophie-Größen Fichte, Schelling und Hegel. Was er anfasste, gelang meistens mit einer gewissen Lässigkeit. Sein eigener Arbeitsbereich war glänzend strukturiert und Steinfeld zitiert Berichte über die konzentrierte und gedächtnisstarke Arbeitsweise des Mulitalents.

 

Alles das ist längst in der überbordenden Goethe-Literatur wohlbekannt, meistens bejubelt und gehört zum gefälligen Hintergrundrauschen des deutschen Bildungsbürgertums. Wer das wie Steinfeld alles überblickt, fesselnd erzählt und würdigt, muss selbst universell interessiert und gebildet sein. So liest sich dieses Porträt Goethes als eine kritische Literaturgeschichte der deutschen Klassik, als eine Gesellschaftsgeschichte eines thüringischen Kleinstaates und die vieles umwerfende Geschichte Europas während Goethes langer Lebenszeit, als ein Entwicklungsroman des großen Dichters und als Einladung, Goethe wieder zu lesen.

 

Das Buch zitiert mannigfach Gedichte, Briefe, Romane und Theaterstücke – sämtlich in überzeugender Textauswahl und glücklich eingepasst in die fortlaufende Erzählung über ein eindrucksvolles Leben. Gern legt man so ein gutes Buch nicht aus der Hand.


Harald Loch

 

Thomas Steinfeld, geboren 1954, war Literaturchef der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», bevor er zur «Süddeutschen Zeitung» wechselte, dort lange Jahre das Feuilleton leitete und zuletzt als Kulturkorrespondent in Italien arbeitete. Von 2006 bis 2018 lehrte er als Professor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern. Er ist Autor vielbeachteter Bücher, darunter «Weimar» (1998), «Der Sprachverführer» (2010), «Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx» (2017) und «Italien. Porträt eines fremden Landes» (2020). Für seine Übersetzung von Selma Lagerlöfs Roman «Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden» war er 2015 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Thomas Steinfeld lebt in Südschweden.
 
 
Thomas Steinfeld: Goethe   Porträt eines Lebens, Bilder einer Zeit
Rowohlt Berlin

Habermas - ein deutscher Philosoph

Der Münchner Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer beklagte dereinst in seinem 1976 erschienenen Buch: „Das Elend der Intellektuellen“ die mangelnde Analysefähigkeit der Linken Theorie. Sontheimer hatte kurzerhand auch die Linke Theorie zur Keimzelle politischer Gewalt erklärt. 

 

Hier wollen wir das Elend insofern weniger differenziert betrachten als eine intellektuelle Debatte in Deutschland angesichts von Instagram und Tiktok,  heutzutage ist sie eher wieder in die universitären Kanäle des Elfenbeinturms zurückgedrängt worden, und wie im Fall von Habermas ein 90ter Geburtstag herhalten muss, dass wieder einmal über Erkenntnis und Philosophie debattiert wird. 


Der Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin beschäftigt sich mit dem Philosophen Habermas zunächst einmal in Form von persönlicher Erinnerungskultur, denn er wuchs schon bei seinen Großeltern in Gummersbach als Nachbar der Familie Habermas auf. Dieser persönliche Bezug motiviert ihn, sich mit dem Autor zu beschäftigen, der manchen Kampf in der intellektuellen Kampfzone der Bundesrepublik theoretisch wie journalistisch praktisch geführt hat. Verstanden und Missverstanden!

 

Dennoch hat der widersprüchliche Denker einer ganzen Epoche sein Gesicht gegeben. Jeder Student der Politikwissenschaft oder Soziologie der 1970er Jahre hatte die Habermas- Werke aus dem Suhrkamp Verlag zu Hause zu stehen, zuweilen ungelesen, zuweilen zur Hälfte verstanden, zuweilen auch mehr durchdrungen, allerdings mit dem Restrisiko bis zu einem gewissen Grad an Unverständlichkeit als Leser übrig und alleine geblieben zu sein. 

 

In einer persönlichen Rahmenhandlung beschreibt der Autor, wie er sich dem Denker in Starnberg In dessen Eigenheim nähert, durchaus mit einer gewissen Ehrfurcht verbunden. Dass der Philosoph ihm in fabrikneuen Reeboks entgegenkommt, fasziniert den Kulturwissenschaftler und beweist ihm die bürgerliche Moderne des 90-jährigen, der auch zu aktuellen Themen wie den digitalen Medien, dem Ukraine-Krieg oder der Krise im Nahen Osten durch publizistische Aktivitäten in Tages- und Wochenzeitungen Stellung nimmt. 

 

Der Autor nähert sich bei Tee und Marmorkuchen dem großen Denker, und so beschäftigen sich die beiden relaxed mit Gesellschaftsanalyse: „Bei Habermas atmet jedenfalls alles gepflegte Normalität.“ Der Autor empfindet die Annäherung aber auch so: „Das Charisma, das er im Gespräch entfaltet, war mir weder aus seinen Büchern noch von seinen öffentlichen Auftritten bekannt.“ 


Der Verleger von Habermas, der renommierte Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld, hielt Habermas für den „hellsten Intellekt der Generation“. Unseld verdiente einiges an den berühmten Titeln von Habermas „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, „Erkenntnis und Interesse“, „Theorie des kommunikativen Handelns“ und vielen anderen Werken. Allein die Literaturliste in diesem Denkerbuch ist ebenso lesenswert, aber eher für den politikwissenschaftlich geschulten Studenten-Geist der 1970er Jahre. Habermas zu lesen ist in einer Gesellschaft, in der die philosophische Debatte an den Rand gedrängt ist und die Tagespolitik die Schlagzeilen bestimmt, ein Minderheiten-Vergnügen, ein Trend, den man mit einer Überschrift aus dem Buch bezeichnen könnte: „Abschied vom Tiefsinn“. 

Habermas dagegen hat selbst bibliographischen Hunger. Das heißt, seine Quellen-Quellen sprudeln geradezu, doch Habermas bekennt, er sei kein „Weltanschauungsproduzent“.

 

Sein Philosophie-Konkurrent Peter Sloterdijk nennt ihn verächtlich „Genie der Paraphrase“, später kritisieren andere Autoren, Habermas habe einen Mangel an Originalität. Aber Zeitgenossen erinnern sich eben auch immer wieder an Vorlesungen des Gesellschaftsanalytikers, dessen Ausführungen „dunkel, fremd und hoch kompliziert“ wirkten, in einer „schwierigen Diktion“ formuliert, jedoch von einer unglaublichen Anziehungskraft. 


Gerade die Rebellen der Alt-68er lasen ihn, empfanden jedoch zunehmende Entfremdung. 


Wer mit Habermas diskutiert, muss ein ungeheuerliches Maß an „Begründungsanstrengung“ aufbringen, schrieb der Soziologe Oskar Negt. 


Das begriffliche Instrumentarium von Habermas produziert Begriffe wie „Rationalisierung“,“ Lernprozesse“, „Öffentlichkeit“, „Erkenntnisinteresse“, „Diskurs“ „Kommunikation“, „Strukturwandel“, „kommunikative Kompetenz“ „herrschaftsfreier Raum“ und viele andere mehr. 

 

Habermas hat ein persönliches Handicap, eine Gaumenspalte, die ihm das Mündliche erschwert und das Schriftliche dafür ersatzweise befördert. Er meidet deshalb moderne Medien wie Radio und Fernsehen, schrieb eher für die ZEIT oder SÜDDEUTSCHE als Medienintellektueller. 
Habermas fürchtet in seinem Buch „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, dass Mediennutzende, wie Kinogeher, Radiohörer und Fernsehzuschauer eine Gesellschaft entstehen lassen, die nicht mehr der Kraft des Buchstabens vertraut, erklärt ein Kernsatz des Buches von Philipp Felsch. 


Verzweifelten die einen an der Entrücktheit seiner Sprache, ging sie den anderen nicht weit genug, meint wohl auch, Habermas ließ das Radikale vermissen, dennoch schreibt er an seinen Verleger Unseld: „Du bewegst dich in einer Welt von Rotariern, mit der mich nichts verbindet“. 

Habermas hat die Lust am schwierigen Denken und Schreiben.

In der Debatte „Historikerstreit“ spielt Habermas eine große Rolle, indem er den Vergleich der ursächlichen Verkettung von Auschwitz und Gulag als eine verharmlosende Apologie zurückweist. Der Berliner Historiker Ernst Nolte hatte in einem FAZ Artikel geschrieben, die nationalsozialistische Judenvernichtung sei eine Reaktion auf die Massenmorde des Stalinismus.


Habermas versteht sich bis heute als linker Sozialdemokrat, der den Grünen gegenüber misstrauisch blieb. 


Als Hildegard Hamm-Brücher ihm 1999 den Theodor-Heuss-Preis überreicht, sah Habermas ein, dass er in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen war. Zehn Jahre vorher galt er noch als Anarchist. Als er den „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ erhält, sitzt das ganze Kabinett des Bundes in der Paulskirche. 


Wenn es um Krieg geht und die Debatte darum erweist sich Habermas als wahrhaft staatstragender Denker, allerdings ist er auch der Überzeugung, dass man sich im Krieg gegen die Ukraine um einen Waffenstillstand bemühen müsse, und die Suche nach einer Verhandlungslösung im Konflikt mit Russland unumgänglich ist.

 

Er sieht auch durchaus den Abstieg des Westens, verbunden mit einem Niedergang der politischen Institutionen in den Vereinigten Staaten. 
Der Kulturwissenschaftler Felsch ist bestürzt, dass er Habermas als den eigentlich letzten Idealisten nun endgültig fatalistisch erleben muss. Felsch kommt zu dem Fazit, dass die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis endgültig offenbar werden, Habermas in seinem Wirken in seiner Zeit, im Prinzip die bundesrepublikanische, am stärksten verhaftet war, und gerade dies ein zeitloses Vermächtnis darstelle. 


Ein schlaues Buch des Annäherns an einen großen Philosophen, der die wichtigen Debatten der Bundesrepublik initiiert und geprägt hat. Die wiederum hat ihn nicht immer verstanden oder auch gerne missverstanden. Ein Buch für Erinnerungspolitiker, Geisteswissenschaftler, besonders Philosophen, Politologen und Soziologen und Kulturwissenschaftler, die das Debattenklima der alten Bundesrepublik verstehen wollen, ein anspruchsvolles Buch. Und eine Lektüre für Richard David Precht. 

 

Philipp Felsch Der Philosoph Habermas und wir Propyläen

 

Videos

 

Jürgen Habermas - und das Begreifen der Gegenwart (youtube.com)

 

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=wqLFMevtutk

 

 

Philipp Felsch, geboren 1972, ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Studium las er lieber die Bücher von Michel Foucault und Niklas Luhmann als den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Sein Buch „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, 1960–1990“ (2015) wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, zuletzt erschien „Wie Nietzsche aus der Kälte kam“ (2022).

Lebenserinnerungen eines Verlegers

Das Buch ist eine Reise ins Äußere und ins Innere. Wir folgen Michael Krüger in die Länder, die er besucht hat und mit ihm in das Innere der Menschen, denen er begegnet ist im Laufe seine Verleger-Lebens. Und zugleich verrät er auf dieser Lebensreise durch die Zeiten etwas über sein eigenes Inneres. 


Seine Aufzeichnungen, Biographie würde er es sicher nicht nennen, beginnen mit einigen Stoßseufzern über „Summen für drittklassige Romane und halbseidene Sachbücher“ des Buchmarktes, „denen man schon von weitem ansieht, dass sie nach drei Monaten wieder vergessen sind.“ Krüger beklagt mangelndes Kulturverständnis in Bayern, am Beispiel der Bayerischen Akademie der schönen Künste, der er einmal vorstand, „vom Staat so wenig geliebt“, es bleibt ihm ein Rätsel: „Vielleicht hängt es damit zusammen, dass in Bayern Intellektualität traditionellerweise nicht besonders hoch im Kurs steht“ 


Krüger vermeidet Branchengetratsche und Skandalgeplauder: „… dazu habe ich nicht die geringste Lust. Man vergiftet sich nur selber, wenn man sich auf das Niveau dieser neuen Blog-Warte begibt.“ Dennoch erfahren wir in dem Buch interessante Interna, zum Beispiel, dass Fassbinder einen autobiografischen Roman, schreiben wollte, es einen Vertrag gab, aber er diesen nicht mehr hat schreiben können. 


In einer Aufzählung von KÖNNTE, HÄTTE, MÜSSTE erzählt Krüger, was dieses Buch alles nicht ist. So lesen wir über Menschenbegegnungen, Szenen, Länder, eine Nachkriegskindheit zwischen Nikolassee, Schlachtensee und Wanze, die ersten Romanerfahrungen mit Faulkner, die Gedichte und Hörspiele von Günter Eich, Knut Hamsun, Hermann Hesse, die Stücke von Tennessee Williams. Krüger gibt zu, sich mit seinem etwas angeberischen Eifer als Vielleser in nicht-literarischen Kreisen nicht nur Freunde gemacht hat. 


Geradezu mit hinterlistigem Humor beschreibt er die linken Irrwege seiner Zeitgenossen, die mit revolutionärem Geschrei die Verlage als neue Chefs kapern wollten. Krüger trifft Linke wie Wagenbach und Feltrinelli, beschreibt die diskussionseifrigen Hinterstübchen- Treffen, während sich in der wirklichen Wirklichkeit die international operierenden Konglomeraten von Verlagen zu Riesen-Unternehmungen zusammengeschmolzen wurden: „Man schlief als Autor des Limes Verlages ein und erwachte bei Bertelsmann, der dann wenig später Random House und schließlich sogar Penguin hieß oder umgekehrt.“
Da ging sie dahin die so genannte Avantgarde. 


Wir lernen seinen Verlagsgründer Dr. Carl Hanser kennen, der schon vor Urzeiten die Frage stellte: „Was verliert Europa, wenn es Russland verliert.“


Ein reines Lesegnügen für Buchinteressierte, wir verschlingen Anekdoten und Anekdötchen, erfahren über die Lust vom Büchermachen und den Frust, Lästereien am Rande, Vorder- und Hintergründiges, das Buch ist eine Personen-Fundgrube und ein Bestiarium der Büchermacher. 
Krüger klaubt seine Geburtstagessays und Todesreden über verstorbene Zeitgefährten auf, wir lesen seine Gedichte, seine eindrucksvollen Impressionen über den römischen Winter während seiner Aufenthalte in der Villa Massimo. Natürlich trifft er Alberto Moravia, Natalia Ginzburg, Umberto Eco, die Verlegerin Inge Feltrinelli, „die schrillste und schönste Frau der Buchmesse“. 


Heute macht Krüger seine Reisen nur noch in seinem Kopf, in seiner Phantasie, hört dazu Gilmour von Pink Floyd zu, in seiner blühenden Phantasie sitzt er in der Küche von Gregor (und Beatrice) von Rezzori, der einen Risotto zubereitet, und alle hören Bruce Chatwin zu, der seine Abenteuer in Patagonien erzählt. „Und alles ist gut.“

 

Köstlich, wenn Krüger beschreibt, wie auffällig simpel seine Klamotten bei Preisverleihungen sind, diese ihm auch irgendwie zuwider. Oder solche Bekenntnisse über Marcel Reich-Ranicki: „Offen gesagt, war mir R-R als Unterhalter lieber denn als Kritiker“ oder Sätze wie „Wenn der Botschafter zu einem Streichquartettabend lädt, weiß man, was einen erwartet. Man sitzt da und muss ein vergeistigtes Gesicht machen.“ Das macht eben Lust und Laune, das Buch zu verschlingen. Wir erfahren so nebenbei, dass der Titel „Tadellöser & Wolff“ von Krüger stammt, der Autor Kempowski ihn ganz und gar nicht wollte. 


Krüger bringt den Filmemacher Werner Herzog mit Mühen zur Schriftstellerei: „… man muss als Verleger Geduld haben! Zu Herzog habe ich immer gesagt: Du bist eigentlich ein Dichter. Aber weil dir das zu langweilig ist, zu Hause zu sitzen und Gedichte zu schreiben, musst du wie ein Berserker Filme drehen“. 


Michael Krüger hat beschlossen, mindestens hundert Jahre alt zu werden, denn es gibt noch so viel zu entdecken Krüger benennt am Ende des seine „Leerstellen“. „Natürlich geht die Welt demnächst unter. Aber nicht vor der nächsten Buchmesse“.


Dies ist ein Buch von einem Büchernarren über Büchernarren, im Suhrkamp-Verlag publiziert, einem „Käfig voller Buchnarren“.

 

Michael Krüger wurde am 9. Dezember 1943 in Wittgendorf/Kreis Zeitz geboren. Nach dem Abitur an einem Berliner Gymnasium absolvierte er eine Verlagsbuchhändler- und Buchdruckerlehre. Daneben besuchte er Veranstaltungen der Philosophischen Fakultät als Gasthörer an der Freien Universität Berlin. In den Jahren von 1962-1965 lebte Michael Krüger als Buchhändler in London. 1966 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker. Zwei Jahre später, 1968, übernahm er die Aufgabe des Verlagslektors im Carl Hanser Verlag, dessen Leitung er im Jahre 1986 übernommen hat. Seit 1981 war er Herausgeber der Literaturzeitschrift Akzente.
Im Jahr 1972 veröffentlichte Michael Krüger erstmals seine Gedichte, und 1984 debütierte er als Erzähler mit dem Band Was tun? Eine altmodische Geschichte. Es folgten weitere zahlreiche Erzählbände, Romane, Editionen und Übersetzungen. Die Cellospielerin ist sein erster Roman im Suhrkamp Verlag. Michael Krüger lebt in München.

 

Veranstaltungen mit Michael Krüger im Februar finden Sie unter diesem Link


https://www.suhrkamp.de/person/michael-krueger-p-2687

 

 

 

Presse

 

Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste (WELT/NZZ/rbb Kultur/Ö1)

Sachbuch-Bestenliste (DLF Kultur/ZDF/DIE ZEIT)

SPIEGEL-Bestseller

 

»Es wirkt fast, als wollte Krüger sich dafür rechtfertigen, dass er eben keine klassische Autobiografie geschrieben hat ... Das wäre nicht nötig gewesen. ... [Er hat] eine mitreißende Geschichte seines Lebens verfasst. ... Man [möchte] ihm ... eine Bitte äußern: Schreiben Sie bitte auch in Zukunft keine schnöde Autobiografie. Schreiben Sie lieber noch mal ein derart herrliches, überraschendes Buch!«
Sebastian Hammelehle, DER SPIEGEL

 

»Eine Reise in das Herz der europäischen Literatur.«
DIE ZEIT

 

»... ein vergnügliches Buch, in dem nahezu jede Autorin, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schrieb, einen Auftritt hat.«
Arno Widmann, Frankfurter Rundschau

Naoíse Mac Sweeney: Der Westen   Die neue Geschichte einer alten Idee

Ist die Erzählung von der griechisch-römischen Herkunft der Westlichen Zivilisation nicht längst widerlegt? Naoíse Mac Sweeney stellt dazu verstörende Fragen, überraschende Antworten und bedenkenswerte Ausblicke. Vielleicht ist die 1982 in London geborene klassische Archäologin und Professorin an der Universität Wien auch besonders prädestiniert für eine „neue Geschichte“ der alten Idee vom Westen. Sie ist als Tochter chinesischer und irischer Eltern geboren. Ausgangspunkt ist ihr Blick nach oben in der Library of Congress in Washington, wo 16 Bronzefiguren die Entstehung der westlichen Zivilisation repräsentieren sollen: Homer, Herodot, Michelangelo, Beethoven usw. Sie sucht als Frau mit Einwanderungsgeschichte ihren Platz in dieser Geschichte. Stimmt der „Stammbaum“ dessen, was man unter dem Westen oder der westlichen Zivilisation versteht noch, hat er je gestimmt?

 

Die Autorin wählt einen klugen, eigenwilligen Ansatz: Sie schreibt kurze biografische Essais über 14 Persönlichkeiten aus mehr als zwei Jahrausenden und beginnt mit Herodot, dem „Vater der Geschichtsschreibung“. Er ist in der Nähe vom klassischen Troja, also in Asien geboren und hatte anatolische und griechische Eltern. In Athen gelangte er zu frühem Ruhm, war aber von der nach Perikles beginnenden Ausgrenzung als „Fremder“ so betroffen, dass er nach Italien auswanderte und dort sein Hauptwerk schrieb. Er gehörte zwei Kulturkreisen an und in seinem Werk finden sich keine Stellen, die etwa die anatolisch-asiatische Welt niedriger als die griechisch-europäische darstellen. In dieser Eingangsbiografie macht Mac Sweeney schon deutlich, worauf es ihr ankommt: Die antiken Zivilisationen waren weder „westlich“ noch „orientalisch“. Sie bestanden gleichzeitig, mit- und auch nebeneinander, befruchteten sich gegenseitig. Sie setzt das in ihren nächsten Skizzen fort. Wenn sie über Livilla, die Lieblingsenkelin des ersten römischen Kaisers Augustus schreibt: „Es gab nur wenige Reiche, die auf kulturelle und rassische Reinheit weniger bedacht waren als die Römer. Der Geschichtsschreiber Livius behauptete, die ursprüngliche Bevölkerung der Stadt habe aus Einwanderern bestanden, die aus allen Himmelsrichtungen gekommen seien – angezogen von Romulus‘ Politik der Nichtdiskriminierung.“  Und so geht es weiter in der Demontage der Erzählung von den „klassischen“ Ursprüngen der westlichen Zivilisation.

 

Hellas und das römische Imperium waren Sklavenhaltergesellschaften. Gesammelt und überliefert wurde die griechische Antike von arabisch-muslimischen Gelehrten in Bagdad. Byzanz setzte die römische Tradition fort, wurde aber im 4. Kreuzzug von weströmischen Kreuzrittern wie ein Feind überfallen und geplündert. Katholische und orthodoxe Konfessionen kämpften gegeneinander bis die Türken Konstantinopel/Byzanz eroberten. Das brachte Russland ins Spiel und machte Moskau zum „dritten Rom“, das noch heute in der Propaganda unter Putin eine Rolle spielt. Keine Kontinuität nach Westen bis zur Renaissance, als man sich in Italien und im westlichen Europa der griechischen Gedankenwelt annahm, ohne sie zu kopieren.

Nach Sweeney ist die Erzählung von der westlichen Zivilisation und ihrer Überlegenheit eng mit dem europäischen Imperialismus, mit der Versklavung von Millionen Menschen aus Afrika und einem unhistorischen Rassismus verbunden.

 

Der Widerspruch zwischen der in den jungen Vereinigten Staaten proklamierten Gleichheit aller Menschen und den ihnen zustehenden Menschenrechten einerseits und der weiter praktizierten Sklaverei selbst bei den prominentesten Politikern der jungen USA wurde durch die Erzählung von der westlichen Zivilisation der Weißen übertüncht, die Diskriminierung unter Berufung auf die griechisch-römische Antike, angereichert durch das Christentum, gerechtfertigt. Ein krasses Beispiel ist die Geschichte der Phillis Wheatley, die 1761 in Boston als siebenjährige Sklavin verkauft wurde. Ihre Besitzer ließen ihr eine breite Bildung zuteilwerden, so dass sie als Jugendliche nicht nur Englisch, sondern auch Latein und Griechisch beherrschte, Sie schrieb Gedichte, die ihr keiner abnahm. Schließlich wurde ein Tribunal von 18 weißen Männern einberufen, die Phillis prüfen sollten. Sie bestand diese Prüfung vor dem Gouverneur der damals noch britischen Kolonie glänzend und ihre Gedichte wurden veröffentlicht und ein großer Erfolg.

 

Die dreifache Diskriminierung – schwarze Sklavin, Jugendliche, weiblich – war geplatzt. Das britische Empire wird durch den mehrmaligen Premierminister Gladstone als Rechtfertigungsregime für Weltherrschaft repräsentiert. Gegen Ende ihres spannenden Buches kommt Mac Sweeney auf Hongkong zu sprechen. Hundert Jahre war das Gebiet an der chinesischen Südküste britische Kronkolonie. Ihre Gesellschaft war westlichen und chinesischen Zivilisationen und Traditionen verpflichtet. De Autorin bedauert das von China betriebene Scheitern der Gleichzeitigkeit und sich ergänzen Gemeinsamkeit von westlichen und fernöstlichen Elementen.

 

Mac Sweeney schreibt, dass der Westen aufhören müsse, sich die griechisch-römische Antike als einzigartigen und reinen Ursprung vorzustellen: „die historischen Fakten lassen auf eine Große Erzählung von der Geschichte des Westens schließen, die weit komplexer, reicher und divers ist. Sie ist ganz entscheidend von einer Dynamik geprägt und damit Imstande, Veränderungen zu begrüßen.“

 

Harald Loch

 

Naoíse Mac Sweeney: Der Westen   Die neue Geschichte einer alten Idee

Aus dem Englischen von Jens Hagestedt und Norbert Juraschitz

Propyläen, Berlin 2023   526 Seiten   34 Euro

 

Willy Brandt - der Mensch und Kanzler

Die inzwischen vielzitierte BRANDT-Biographie von Peter Merseburger, viel gelobt und von Gunter Hofmann auch mehrfach zitiert, hat noch sechs weitere Biografien als Nachfolger. Brandt - die attraktive Biographien - Natur, rätselhaft, mysteriös, unentzifferbar, noch heute. 
Hofmann sucht einen eigenen MEIN-BRANDT-Ansatz, denn er war dabei, oder daneben oder als ZEIT-Parlamentskorrespondent mittendrin im Politszenario in Bonn und Berlin.


Seine Biographie folgt keiner strengen Chronologie, das macht das Lesen für den Normalleser etwas schwierig. Sie lebt auch vom Zitatenschatz früherer Veröffentlichungen, von Einschätzungen anderer Personen, von autobiografischen Schriften, aus denen Hofmann sehr, sehr ausführlich zitiert. Kritiker monieren dennoch sachliche Fehler. Für einen der Geschichte verpflichteten Verlag wie CHBeck überraschenderweise fehlt die Bibliographie völlig!!!


Es geht Hofmann darum, das Rätsel, das Mysterium Brandt auflösen, den Menschen zu interpretieren. 


Ausgangspunkt seiner Betrachtungen sind in vielen Fällen autobiografische Schriften und zeitgenössische Reden von Brandt, den er in langen Zitaten immer wieder ausführlich zu Wort kommen lässt. Die auch von anderen Autoren genannten Leitfiguren spielen in Zitaten mit. 
Die zentralen Fragen in Hofmanns Buch: Was für ein Mensch war Willy Brandt, wieso trat er für die Moderne ein, wie waren die Beziehungen zwischen Brandt-Wehner-Schmidt und Grass als Sonderbeispiel, wo lagen die Motive für die Ostpolitik? Thema auch: Brandt und die Wiedervereinigung und Brandt in seinem Verhältnis zu Kohl. Seltsam, die SPD steht nicht an prominenter Stelle. 


Kommen wir also zur Ostpolitik, jenes heftig umstrittene Kapitel deutscher Politik damals - und heute wieder, als wäre die Ostpolitik der SPD am Ukraineüberfall und am Gasdebakel schuld.
Ja, Brandt misstraute Egon Bahrs These „Wandel durch Annäherung“. Brandt fürchtete, es müsse sich auch der Westen wandeln und dem Osten annähern. Übrigens stammt die Annäherungs-Formulierung von einem Beamten im Außenministerium, nicht von  Egon Bahr, er sagt selbst „Ostpolitik ein Marathonlauf von tausend Tagen“. Er nutze die verdeckte, schweigende Diplomatie im Hintergrund, mit „back channels“ aus dem Geheimdienstmilieu. 


Hofmann reklamiert, die Ostpolitik würde "aus ihrem historischen Kontext" gerissen, und was den Ukrainekrieg angeht, formuliert Hofmann „'Mein Brandt“ hätte sich wohl den Einwand zu Herzen genommen, die Ukraine sei im Schatten der deutschen Russlandpolitik gestanden". 


So ist die deutsche Debatte um Appeasement-Politik leider etwas schwarz-weiß-undifferenziert gefärbt.
Auf der Krim verhandelte Willy Brandt mit Breschnew bei einer Bootsfahrt auf dem Schwarzen Meer, er machte aber auch klar: „Dieser Vertrag bedeutet nicht, dass wir Unrecht anerkennen oder Gewalttaten rechtfertigen.“ „Ich wollte, wir wollten, dass ungelöste Fragen der Vergangenheit uns nicht daran hinderten die Zukunft zu gestalten.“
Hoffmann interessiert vor allem die innere Entwicklung Brandts, er versucht dem Menschen nahezukommen. Betrachtet Hofmann Willy in einer psychologischen Dimension lässt er Brandt sagen „…war ich (Brandt) vielleicht ein bisschen zu eigen“. „Wer ihm zu nahekam, engte ihn zu sehr ein. Wenn ihm jemand nahe kam, vermisste er es.“
Auf die SPIEGEL-Frage, ob Kandidat Brandt empfindlich sei, antwortet Willy „Sicher, manchmal ja. Es wechselt sehr.“ Brandt hatte depressive Phasen.


Gunter Hofmann schreibt, er wolle nicht ins Psychologisieren geraten, wenn er etwa die Rolle des Vaters des unehelichen Willy Brandt beleuchtet, den Brandt aus dem Kopf und aus dem Lebenslauf streichen will. Aber die Psychoebene kommt an vielen Stellen des Buches doch zum Vorschein, und es ist eben die Stärke des biographischen Ansatzes von Hofmann diese zu interpretieren.


Brandts Leben ist ein Leben ohne Vater, fast ohne Mutter, kein Chefredakteur herrscht über ihm, frei wollte er sein, sich nicht unterordnen müssen, Emanzipation als Selbstbehauptung: „Freiheit schreibt er sehr früh sehr groß.“ 


Wenn es ums Persönliche geht, zeigt Brandt sich gegenüber Journalisten zum Beispiel spröde. 


Es sind die kleinen Beobachtungen und Bemerkungen am Rande, die diese Biographie so farbig machen. Etwa: „Brandt war ein Pfennigfuchser“. Oder, dass Brandt in Berlin durch Wilhelm Furtwängler die klassische Musik lieben lernt. Sprachen lernen fällt ihm leicht, sich ins Fremde einzufühlen und darauf einzulassen ebenso. Brandt schwärmte auch für sein kleines Landhaus in Südfrankreich, nicht nur von Skandinavien.


Das Angebot, Chefredakteur von dpa zu werden, kommt für Brandt zu spät, es liegt schon ein Angebot vor, Attaché der norwegischen Militärmission in Berlin zu werden. Brandt sagt zu.
Verfolgung befürchtend, nutzt Brandt diverse Namen: Willy Brandt, Herbert Frahm, Felix Frank, Martin und andere Pseudonyme. 
Brandt mochte krumme Lebensläufe, er hatte ja selbst auch einen. 
Brandts Verhältnis zu Günter Grass nannte Merseburger eine „scheue Freundschaft“. Die Kapitel über Grass, Wehner und an einigen Textstellen über Helmut Schmidt sind sehr ausführlich, einfühlsam und erhellend. Lars Brandt über Wehner, wenn die Familie Wehner auf Ödland zu Besuch kam: „Es lag in seiner geheuchelt freundschaftlichen Privatheit allseitige Verlogenheit.“ 


Bandt schafft es nicht zur Beerdigung Wehners zu gehen. Zu tief waren die Verletzungen. Warum? Nach dem Moskauer Eklat fühlte sich Brandt von Wehner verraten, spätestens nach dem Zuruf aus Moskau, „Der Herr badet gern lau“. Die Entschlusskraft des Kanzlers wurde damals heftig angezweifelt. Brandt sagt selbst zur BASTA-Politik: „Den Tisch beeindruckt der Faustschlag wenig. Wen sonst?“
Erschreckend, was die Journalistin und nahe Freundin Wibke Bruhns sagt: Brandt war am Ende, wusste nicht weiter, trug sich mit Selbstmordgedanken und bedauerte, keine Pistole zur Hand gehabt zu haben.


Was bleibt ist sicher der Satz: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Das war Brandts Überzeugung: „Wir sind keine Erwählten, wir sind Gewählte.“


Ein farbiges Porträt des SPD-Kanzlers, mit eigenem Ansatz, etwas üppig zitatfreundlich und genau deshalb verwundert es, dass ein Literaturverzeichnis fehlt!


Gunter Hofmann: Willy Brandt. Sozialist, Kanzler, Patriot. C.H. Beck, München 2023. 


Gunter Hofmann war bis 2008 Chefkorrespondent der ZEIT.
Rezensionen


„Gunter Hofmanns fesselnde Biografie über Willy Brandt zeigt einen Politiker auf der Suche nach einem besseren Deutschland und liefert eine überzeugende Verteidigung von dessen Ostpolitik.“
Süddeutsche Zeitung, Joachim Käppner

 

„Eine glänzende Biografie … Für Hofmann war Brandt ein Mann mit Charakter. Ein Patriot. Und ein Politiker mit Klasse.“
Frankfurter Rundschau, Michael Hesse

 

„Eine von Sympathie getragene sehr persönliche Annäherung an Willy Brandt“
Der Tagesspiegel, Ernst Piper

 

„Gunther Hofmann lässt Atmosphärisches lebendig werden … Man stößt immer wieder auf erhellende Anmerkungen des Bonner Korrespondenten.“
Deutschlandfunk Andruck, Michael Kuhlmann

 

„Näher als diese (Biographie) ist noch keine Darstellung dem Menschen Brandt hinter dem Mythos Brandt gekommen.“
Dresdner Morgenpost

 

„In seiner Biografie geht Gunter Hofmann auch auf aktuelle Streitfragen ein.“
Das Parlament, Joachim Rieker

 

„Eine überzeugende Interpretation von Brandts Politik aus dem Blickwinkel heutiger Problemstellungen. Wer der politischen Persönlichkeit Brandts näherkommen möchte, dem sei die Lektüre des Buches sehr angeraten.“
sehepunkte, Bernd Rother

 

„Eine spannende Lektüre“
Chrismon

 

VIDEO


Links Vorwärts Gespräch mit dem Autor https://www.youtube.com/watch?v=mAxqQe_eMtI

Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung

 

https://willy-brandt.de/aktuelles/audio-video/willy-brandt-sozialist-kanzler-patriot/

 

Audio


https://www.deutschlandfunk.de/gunter-hofmann-willy-brandt-sozialist-kanzler-patriot-dlf-a650cdd6-100.html

Das Tragische war ihr Talent: Die CALLAS


Maria Callas hatte den tiefen menschlichen Instinkt für das Tragische. Das waren ihre Lieblingsrollen auf der Bühne und im richtigen Leben, vor allem auch, was ihre Beziehung zu Männern angeht. Die Callas war eine Diva, geplagt von Selbstzweifeln und der Angst, von den Männern, aber auch von ihrem Publikum nicht geliebt zu werden. Zugleich war sie in der Welt der Primadonnen eine Kämpferin, durchaus konkurrenzbewusst. Sie lebte nach dem Motto: Bitte nie jemanden um einen Gefallen, du kriegst sowieso nichts geschenkt im Leben. Mit 17 Jahren schon singt sie in Puccinis Oper "Tosca". Ihre Stimm-Technik von hundertprozentiger Perfektion zu Glanzzeiten, ihre Darstellung intensiv und voller Dramatik, ihre Gestik überzeugend, ihr schauspielerisches Talent faszinierend. 
Ihr Leben war der pure Luxus, Champagner im Maxim in Paris, Jetset-Treffen in Moritz mit Karajan, Benefiz-Bälle in New York, sich unter die juwelenbestückten Promi-Gäste mischen, mit Filmstars am Strand im Sand spazieren, Glamour, Glamour, Celebrities. 


Die Behauptung hielt sich aber hartnäckig: Die Callas hat kein Herz. 
Die Autorin schildert in 30 Kapiteln und auf mehr als 500 Seiten die Callas als „schizophrene Person“, auf der einen Seite erfolgreiche Sängerin und Diva, auf der anderen Seite Frau und Liebende, zwei Personen im Widerstreit, im Berufsleben ein außerordentliches Stimmphänomen der Gegenwart, privat mehr unglücklich als glücklich. Begeistert, aber auch kritisch aufgenommen vom Publikum. 
Kollegen im Umfeld nennen sie launisch, herrisch, eine Frau mit versengendem Ehrgeiz, unbeliebt, nimmersatt auf Erfolg und Geld ausgerichtet. 


Zum Beispiel wird die Rivalität zwischen der Konkurrentin Tebaldi und der Callas als ein Duell Taube gegen Adler etikettiert, Friedensvogel gegen Raubvogel.


Die Callas war eine Primadonna mit hitzigem Temperament im Herzen, sie war die Königin der Scala in Mailand und zugleich der Star der Boulevardpresse, weil sie unendlich lange mit dem griechischen Reeder und Tankerkönig Onassis zusammen und auch auseinander war. 
Ihr Lebensmotto war: „Was ich zu sagen habe, singe ich.“
Die Callas, eine streitsüchtige Diva, am Opern-Set ein Stimmwunder, das auf der Bühne auch die Faust ballen konnte und zugleich die Menschen vor Rührung zum Weinen brachte. 


Während in Europa der Erfolgsschlager „Weiße Rosen aus Athen“ die Hitlisten eroberte, sang die Callas Hauptrollen auf den Opernbühnen dieser Welt und produzierte eine Schallplatte nach der anderen.
Sie unternahm nicht lebensgefährdende Suizidversuche, vergaß, ihre chronische Sinusitis konsequent zu behandeln, die ihrer Stimme schadete, sang erkrankt dennoch auf den internationalen Bühnen die größten Opernrollen.

 

Von den Männern wurde sie immer wieder enttäuscht. Aber sie gab sich nie auf, wenn sie abgewiesen wurde, rappelte sie sich wieder auf, kämpfte gegen probenschlappe Regisseure, feindliche Opernintendanten bis an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit, nein besser gesagt, sie kannte gar keine Grenzen. 


Zuweilen blieb das Publikum im Zuschauerraum kühl, wenn sie sich wieder einmal überfordert hatte. Kollegen meinten, sie ist zu den Gestalten geworden, die sie auf die Bühne gebracht hatte, Opfer der angeblich sadistischen Neigungen von Onassis, die sie zur Selbstverleugnung veranlassten.


Im richtigen alltäglichen Leben las sie „Readers Digest“ und wollte von den Verbrechen der Obristen in Griechenland oder den revolutionären Geschehnissen der 68er in Paris so gut wie gar nichts wissen. Dennoch sang sie lebensnah wie viele damals zu den Songs der Beatles oder zu den Lyrics von Frank Sinatra, wenn sie sich deren Stimmen von einem Kassettenrecorder ins Haus holte. 


Die Callas brauchte die Resonanz des Publikums wie das tägliche Brot. 
Am Ende ihrer Karriere von nervöser Erschöpfung geplagt, durch Überarbeitung und Überanstrengung ausgelaugt musste die Lebensbilanz-Rechnung für Maria, der Frau, von der Callas, dem Star, bezahlt werden. Jetzt sagt sie oft, ich bin es müde, benutzt zu werden, den Klatsch, die Rache und die Intrigen auf und hinter den Bühnen zu ertragen.


Eva Gesine Baur hat nicht nur Literatur- und Musikwissenschaft und Gesang studiert, sondern auch Psychologie. Das alles kommt ihr in diesem umfangreichen biografischen Sittengemälde über die Diva Callas zugute, weil sie die menschlichen Gründe und Abgründe genau darzustellen weiß. Diese Biografie ist ein detailliertes Personen-Panoptikum jener Zeit, eine Schilderung des Operngeschäfts und der Klassikszene, eine Diva-Studie, die den Opernbegeisterten fasziniert. Zugleich werden wir in eine Zeit zurückbeordert, als das Starsein, prominent in Film, Fernsehen, Presse und Illustrierten, mehr noch fasziniert hat als heutzutage im digitalen oberflächlichen Leben zwischen Internet, Facebook, Tiktok und Instagram, wo sich das Prominentsein abnutzt und sehr stark relativiert. Außerdem sind die Klassikstars im Dschungelcamp noch nicht angekommen.


Eva Gesine Baur ist promovierte Kunsthistorikerin und hat zudem Literatur- und Musikwissenschaft, Psychologie und Gesang studiert. Sie hat Bücher über kulturgeschichtliche Themen und unter dem Namen Lea Singer mehrere Romane veröffentlicht. 2010 wurde ihr der Hannelore-Greve-Literaturpreis verliehen, 2016 der Schwabinger Kunstpreis.

 

Maria Callas Die Stimme der Leidenschaft Eine Biograpie C. H. Beck 

 

Friedrich Christian Delius -                      Biographie in Alphabetform 

Also fast am Ende des Lebens sagt sich der Schriftsteller, jetzt könnte man doch noch eine Biographie schreiben, aber es ist etwas die Scheu da, es denn dann auch wirklich zu tun. Erst recht bei dem Selbst-Skeptiker Friedrich Christian Delius, denn wie heißt das Eigen-Zitat unter dem Buchstaben A am Anfang seiner Lebensbeschreibung in Alphabetform: “Achtzig Jahre, dazu sollen andere was sagen.“ Und doch tut er es dann selbst. 


Delius findet eine eigene ABC-Form, alphabetisiert alle kürzeren und längeren Kapitel unter dem Anfangsbuchstaben A, und erst im zweiten Buchstaben dekliniert er die einzelnen Themen von A bis Z durch. Getreu dem Motto Fontanes, das unter dem Stichwort Anfang gelistet wird: „Der Anfang ist immer das Entscheidende“, sagt unser aller Fontane, „hat man’s darin gut getroffen, so muss der Rest mit einer Art von innerer Notwendigkeit gelingen, wie ein richtig behandeltes Tannenreis von selbst zu einer graden und untadeligen Tanne aufwächst.“
Beim Schreiben der ABC-Biographie fürchtet Delius schon im Vorwort Begradigungen, Vereinfachungen, Beschönigungen, Selbstüberschätzungen - genau das Gegenteil dessen, was Aufgabe von Schriftstellerinnen und Schriftstellern ist. 


Da ist sie also, seine Skepsis, die ihn nicht davon abhält, einen normalen, spielerischen Ansatz, ein Selbstporträt in Collagen zu wählen, und er gesteht gleich zu Beginn: „Dies Buch hat also viel mehr Lücken als Seiten.“ 


Wir erfahren in Folge seine Blutgruppe A, Rhesus-positiv, dass er dereinst als Honorar für einen Kalendertext hunderttausend Blatt bestes DIN-A4-Papier erhält, dass Günter Kunert Abendrotpostkarten aus aller Welt sammelt, wir finden Delius‘ Absage, in Klagenfurt beim Bachmann-Preis zu lesen, und Absagen, wenn schlechte Manuskripte bei ihm als Lektor im Wagenbach-Verlag ankommen. 


Zur politischen Bewegung Achtundsechziger wird Delius grimmig, sie sei so auf ihre eigenen Mythen und Klischees hereingefallen wie sonst keine, denn: „Alles war anders, nämlich viel widersprüchlicher, mehrdeutiger, spielerischer.“


Adenauer ist für Delius „Kindheitskanzler, Wahlplakatekanzler, Zeitungskanzler“. „Je älter er und ich wurden, desto mehr wollte ich, dass er zurücktritt.“ 


Delius ist Fußballfan, sein Team-Motto findet er in Sammy Drechsels legendärem Fußballbuch „Elf Freunde müsst ihr sein“. 


Delius Biographie ist bodenständig, geburtsheimatverbunden, nicht abgehoben, nicht selbstlob-verliebt.


Delius kommt aus Nordhessen. Er liebt „Ahle Worscht“, eine nordhessische schmackhafte Landwurst: „Ein Biss, und schon sind die Äcker, Heuballen, Ställe, Bauernstuben, Mittagsglocken, Kornfelder wieder da, und vieles mehr.“ 


Delius beschreibt ein üppiges Picknick mit Günter Grass, durchlebt erneut Erinnerungen an RAF-Zeiten, entdeckt wieder alle Tanzstundenbekanntschaften, die keine Liebesbekanntschaften werden. 
Bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung bekennt er im Bewerbungstext: „Lesen und Schreiben gelernt und zugleich stotternd und stumm geworden.“  Mit Literatur und Schreiben überwindet er sein Sprech-Handicap.


Delius würdigt die Verlegerpotenz von Klaus Wagenbach, seinem Förderer, obwohl er mit diesem im Streit liegt wegen des radikaleren Kurses in Zeiten der RAF, in der „bleiernen Zeit“. 


In einem Artikel zum Tod von Delius heißt es in der ZEIT.: „Erstens er ist immer dabei gewesen. Zweitens: Er war stets einer der Leisen im Umkreis der Lauten. Und drittens nutzte er diese beiden Umstände, um zu einem diskreten und deshalb psychologisch für alle Zwischentöne besonders empfänglichen Chronisten der Ereignisse zu werden. Tatsächlich lässt sich die Geschichte Deutschlands von den letzten Kriegsjahren bis in die Gegenwart anhand seiner Bücher rekonstruieren“, schreibt Iljoma Mangold.


Angesichts seiner Kontakte zu renommierten Schriftsteller-Kollegen in der DDR beschreibt Delius die Stasi-Haltung so: „Sie vermuteten Konspiration, wo es um Freundschaft ging, sie vermuteten Staatsfeindlichkeit, wo es um Literatur ging. Da ich viel mit dem Auto unterwegs war zwischen verschiedenen Freunden und Kollegen, gaben die Beobachter mir den Decknamen ‚Fahrer‘ “.


Albert Schweitzer ist dem zehnjährigen Dorfjungen ein Vorbild, Albert Camus ein Idol des 18jährigen, Alexander Fest wird zu seinem Verleger und Alexander Kluge ein gern gelesener Autor, wenngleich Delius fürchtet: „Niemand wird schneller als er durchschauen, was du für ein naiver, mittelmäßiger Kerl bist.“ Und trotzdem schreibt Delius unentwegt weiter: „Alleinsein, Einsamkeit, Abstandhalten, Meinungsvorsicht, Zweifel, Freude am Fragen, Schweigen, das sind die ersten Voraussetzungen, um zu schreiben.“


Gegenüber vier konkreten Rezensenten empfindet Delius Rezensionsfrustration, ihre Namen nennt er nicht, auch die FAZ ignoriert seine Buchneuerscheinungen oft, meine Diagnose mit A: Literaturkritiker-ALLERGIE!


Stichwort „Amazon: Nicht eine Bestellung, kein Cent bis heute. Das soll so bleiben.“ Unter dem A-Buchstaben notiert Delius auch: „Amour Fou“, hier heißt es unkonkret: „Die eine oder andere. Mehr muss nicht verraten werden, auch hier nicht.“ 


Dem Läufer Liebrichs setzt er ein kleines Extra-Kapitel-Denkmal und enthüllt die Gelbsucht-Krankheiten der Weltmeister-Elf, der 1954 zur Leistungssteigerung in wenigen einzelnen Spritzen gemeinsam Traubenzucker verpasst worden war.  


Zurück zum Autorendasein: „Was ist die größte Anstrengung im Literaturbetrieb? Erst die Anstrengung, dazuzugehören? Dann, dort nicht an den Rand gedrängt zu werden? Oder endlich die Anstrengung, sich da rauszuhalten? Sind das überhaupt Anstrengungen?“


Trotz Computerwelten im Alltag des Schriftstellers: „Phantasie, Handwerk, Denken, Fleiß, Formulieren - bleibt meine Sache, zum Glück.“ Sein alter Macintosh samt Tastatur mit Schweißspuren ist inzwischen im Literaturarchiv Marbach zu besichtigen“, erwähnt Delius am Schluss. Mit dem Kapitelstichwort AZZURRO beendet der Italien- und Romfreund seine Alphabet-Biographie, und wie heißt es so schön bei ihm: „Es gibt kein Ende, es gibt nur Anfänge.“


Trotzdem ist an dieser Stelle die Rezension nun zu Ende. Es ist ja auch wahr: Für Delius war auch Schluss - mit dem Leben - am 30. Mai 1922 - in Berlin. 


Audios

 
NDR

SWR


RBB


Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.


Friedrich Christian Delius Darling, it's Dilius Erinnerungen mit großem A Rowohlt

 

Vom Fernsehmann zum Staatsmann: Selenskyj

Bücher sind nun mal eine träge Ware. Es dauert verdammt lange im Produktionsprozess, bis sie auf den Markt kommen, schließlich im Laden landen und dort auch mal versanden, wenn die Presse oder der Kunde sie nicht wahrnehmen wollen. Zuweilen müssen Buchproduzenten gegensteuern, wenn sie ein Thema schnell auf den Markt bringen müssen, um Profil zu zeigen oder zügig ein aktuelles Thema vor der Konkurrenz zu besetzen oder ganz einfach ein Geschäft vor der Konkurrenz zu machen. 


Sergii Rudenko’s politische Biografie über Selenskyj ist so eins. Vor dem Kriegsbeginn konzipiert und dann schnell aktualisiert, als die Russen in der Ukraine einmarschierten. Das Buch ist sehr detailreich in den Tiefen der ukrainischen politischen Entwicklung verfangen. Die vielen Namen, Verbindungen, Organisationen, Oligarchen, Hierarchen sind für den westlichen Leser nur schwer in die politische Logik der Ukraine einzuordnen. 


Das Buch zeigt den Aufstieg eines Mannes vom Komiker zum Staatsmann, vom Fernsehstar zum internationalen Führer eines Landes, das sich im Krieg mit Russland befindet. 


Der Autor verspricht im Vorwort, nicht zu moralisieren, keine Vorurteile zu bedienen oder gar zu manipulieren, es gehe ihm um Fakten, allein um Fakten. Von denen liefert er dann sehr, sehr viele. Schon eingangs gibt er in der Biografie zu verstehen, dass dereinst Historiker über Selenskyjs Rolle werden befinden müssen, dessen künftiges Schicksal immer mit dem endgültigen Bruch mit Russland verbunden sein wird. 
Wir erfahren sowjetische Erbschaftsangelegenheiten, etwa dass genug Geld für die Raumfahrt vorhanden war, aber nicht für die Heizung der Dorfschulen. Wir lernen Selenskyjs Vorgänger Janukowitsch näher kennen, der irgendwann nach Russland abhaut. Gescheiterte Pressesprecherinnen kommen ebenso vor, wie Oligarchen, die es sich im Machtzentrum vom Präsidenten gemütlich gemacht haben. 
Andererseits verschwinden Aufsteiger auch schnell wieder von der politischen Bildfläche. 


Der Autor diagnostiziert dem ukrainischen Präsidenten reformerische Schwäche in Fragen der Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung und der Landesführung im Allgemeinen und benennt zugleich Geldgeschäfte im Ausland über sogenannte Offshore-Konten. Selenskyj gab das mit der Begründung zu, man habe als Fernsehsender dem direkten Einfluss gegenüber der eigenen Politik im Lande so entgehen wollen. 
Es ist also auch ein Buch über Affären, Pfründe und persönliche Beziehungen zum Präsidenten, die für den schnellen Aufstieg erfolgreich waren. Kollegen beurteilen den Staatsmann in der Rolle des Geschäftsmannes so: Mit ihm ist nicht gut Kirschen essen. Keine Sentimentalitäten. 


Im Schlusskapitel kriegt der Autor dann die Kurve, wenn er im Epilog über den Kriegspräsidenten spricht, hinter dem heute - geeint, stark und als uneinnehmbare Bastion - die ukrainische Gesellschaft stehe.
Manchmal gilt auch der umgekehrte abgewandelte Satz Gorbatschows: Wer zu früh schreibt, den bestraft die Historie. 


Sergii Rudenko SELENSKYJ Eine politische Biografie HANSER


Sergii Rudenko, geboren 1970, ist ein in Kyjiw beheimateter ukrainischer Journalist. Im ukrainischen Programm der Deutschen Welle ist er mit einer wöchentlichen Kolumne vertreten. Außerdem ist er Chefredakteur beim privaten Informationssender Espreso.tv, der 2014 aus der Maidan-Bewegung hervor gegangen ist. Sein in der Ukraine 2020 erschienenes Buch ist die erste Biografie Selenskyjs und wurde für die internationale Publikation aktualisiert.

 

Fodorová über Reinerová

Ausnahmsweise darf ich einmal persönlich werden. Mein Alterssitz liegt an der tschechischen Grenze, und seit die Russen dieses Land besetzt hatten, 1968 war das, interessiere ich mich für diese Land, seine Menschen, seine Politik und seine Literatur. So habe ich einige Werke von Lenka Reinerová gelesen, ihr politisches Schicksal kennengelernt und konnte – kurz vor ihrem Tod – in Prag ein letztes langes Interview mit ihr führen.* (veröffentlicht im Wieser Verlag)

So war ich gespannt auf das Buch von Anna Fodorová „Lenka Reinerová Abschied von meiner Mutter Mit einem Nachwort von Jaroslav Rudis“, erschienen bei btb.

 

Ich muss zugeben, ich war und bin ergriffen von diesem sehr persönlichen Abschiedsbuch einer talentierten Autorin, die von Haus aus als Psychotherapeutin in London arbeitet und deren Spezialgebiet generationenübergreifende Traumata sind. Ihr breit gefächerter Ausbildungsgang vom Architekturstudium, über Drehbucharbeit bis zur Psychotherapie ist sehr inspirierend für die Entwicklung ihres Buches, das zugleich Selbsttherapie ist und die Selbstwerdung der Autorin immer mit erzählt. Das Konstruktive aus architektonischem Denken und der Sinn für Dramaturgie aus der Drehbucharbeit mischen sich in dem Abschiedsbuch zu einem überzeugenden Konzept.

 

In einem Vorwort zu meinem Reinerová-Buch schrieb ich: „Lenka, die Kronzeugin der Prager deutschen Literatur! ‚Man muss Tscheche, Deutscher oder Jude sein‘, sagt Peter Demetz über sein Prag. Lenka Reinerová war alles, in einer Person, vor allem Europäerin, mit einem unerschütterlichen Glauben an das Gute, an die Gleichheit und die Gerechtigkeit. Sie hat die letzten Tage Habsburgs erlebt, Masaryks Erste Republik, die deutsche Besatzung, die erstarrten Jahre im Kommunismus und das Scheitern des ‚Prager Frühlings‘, die samtene Revolution und heute den wuchernden von ihr nicht gerade geliebten Kapitalismus. Und die Blöcke, sie zerbrachen.“

 

Lenka Reinerová hat ein mehr als bewegtes, wildes, politisches und persönliches Schicksalsleben hinter sich gebracht: Den Überfall der Deutschen „Ich überlebte, - weil ich am Tage der Besetzung nicht im Lande weilte“ -, die Verfolgung durch Kommunisten, die russische Besatzungszeit, die Wendezeit, sie saß in Gefängnissen und war lebenslang auf der Flucht. Widerstände, Tragödien, Verluste, Freunde und Erfolge prägten ihr Leben.

 

Als Schriftstellerin reduzierte sie ihre Berufsbezeichnung auf Erzählerin, weil sie eben darstellen wollte, was ist, wie ihr Kollege Egon Erwin Kisch, der ihr Vorbild war. In der Literatur fand sie selbst einen Ruhepunkt.

Es ist ein sehr poetisches, lebensnahes und persönlich anrührendes Buch, das Fodorová da gelungen ist.

 

Sie wuchs mit dem Geklapper von Schreibmaschinen auf. In „starrsinniger Bewunderung“ beschreibt sie die Leidens- und Lebensgeschichte ihrer Mutter, heiter-ironisch, melancholisch, liebevoll und doch auch distanziert analytisch, aber auch Zweifel sähend, denn Reinerovás Mantra war „Man darf sich nie selbst bemitleiden“. Das empfand die Tochter als unbarmherzig.

Es war also nicht „einfach gewesen, mit Eltern aufzuwachsen, die Helden waren“. Und zugleich mit einem Trauma erwachsen zu werden, das die Mutter empfindet, dank ihres Überlebens im Holocaustwahn des Naziregimes und allgegenwärtiger Seelenpein, weil der Verlust naher Menschen zu beklagen ist und der mitempfundenen Schuld, überlebt zu haben. „Das Trauma, für das es keine Worte gibt.“

Es ist auch ein Buch über das Altern und die Beschwernisse, die damit verbunden sind, vor allem, wenn die Mutter in Prag lebt und die Tochter in London arbeitet.

 

Mit 91 Jahren liest Reinerová noch das Buch „The Da Vinci Code“ und John le Carré und kritisiert die Schriftstellerkollegen. Aber ihr Ende naht doch bald. Nie glaubte die Tochter daran, dass ihre Mutter einmal sterben könnte, und doch geschieht es: „Gegen Morgen schlägt sie kurz die Augen auf, aber sie blickt irgendwo hin in die Ferne. Auf die Frage: “Woran glauben Sie?“ hat sie einem Kollegen geantwortet: “An das Leben.“

 

Anna Fodorová, 1946 als Tochter der Prager Schriftstellerin Lenka Reinerová (1916 – 2008) in Belgrad geboren, wuchs in Prag auf. Sie studierte an der Akademie der Künste, Architektur und Design in Prag, seit August 1968 lebt sie in England und machte ihren Filmabschluss am Royal College of Art in London. Sie drehte mehrere Animationsfilme, veröffentlichte ein Kinderbuch und schrieb Drehbücher für die BBC. Heute lebt sie in London und arbeitet als Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt psychoanalytische Psychotherapie generationenübergreifende Traumata.

 

Pressestimmen »Ein schonungsloses ehrliches Buch“ Deutschlandradio kultur

 

*Norbert Schreiber Lenka Reinerová Närrisch an das Leben glauben Lenka Reinerová im Gespräch mit Norbert Schreiber Wieser Verlag

 

„Meine Grundidee ist, beizutragen zur gegenseitigen Verständigung und Abschaffung aller Vorurteile und was es da noch so gibt…“ Lenka Reinerová

„Literatur, das ist eben diese Art, das wirkliche Leben darzustellen. Das ist alles.“ Lenka Reinerová

 

Zum Buch

 

Lenka Reinerová war die letzte lebende Kronzeugin der Prager deutschsprachigen Literatur aus der Generation Franz Kafka, Max Brod, Egon Erwin Kisch. Sie war Tschechin, Deutsche, Jüdin und bekennende Europäerin in einer Person, mit einem unerschütterlichen Glauben an das Gute, an die Gleichheit und die Gerechtigkeit. Sie hat die letzten Tage Habsburgs erlebt, Masaryks Erste Republik, die deutsche Besatzung, die erstarrten Jahre im Kommunismus und das Scheitern des »Prager Frühlings«, die samtene Revolution und heute den von ihr nicht gerade geliebten Kapitalismus. Der Radiojournalist Norbert Schreiber (Hessischer Rundfunk) besuchte die Literatin, die in den kulturellen Zirkeln der 20er und 30er Jahre in Prag ein und aus ging, von den Nazis und Kommunisten verfolgt, als Exilantin eine Irrfahrt rund um Welt erlebte. Lenka Reinerová starb am 27. Juni 2008 im Alter von 92 Jahren in Prag. Mit ihrem Tod ist diese Epoche der 20er und 30er Jahre in Prag aus dem Leben in die Bücher versunken. Ihre Stimme erklingt im „Prager Deutsch“ Ein letztes Dokument aus einer untergegangenen Welt.

Norbert Schreiber traf die Schriftstellerin in ihrer Prager Wohnung zum „hr2-Kultur Doppelkopfgespräch“ kurze Zeit bevor sie nach langjähriger Krankheit verstarb. Ihr gesamtes Leben lag ihr das deutsch-tschechische Verhältnis und das von ihr gegründete Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren am Herzen.

 

Auszug aus dem Einleitungstext

 

Eine Haushälterin empfängt freundlich auf tschechisch und bittet mich in das Wohn-Arbeitszimmer. Die „Grande Dame“ der deutschsprachigen Literatur in Prag begrüßt mich sehr herzlich, ihre munteren Augen verraten, dass sie sich freut auf ein Gespräch mit einem Deutschen aus Frankfurt am Main - trotz ihrer körperlichen Beschwernisse durch die langjährige Krebskrankheit und Chemothearpie. Sie trinkt einen Tee und bietet mir etwas zu trinken an. Sie sitzt etwas versunken in ihrem kleinen Sesselchen und blickt auffordernd zu mir auf: Lass uns beginnen, scheint sie zu signalisieren und beginnt schon selbst, mich auszufragen, wer ich bin, was ich tue, woher ich komme, sie stellt die „W“-Fragen der Journalisten, was das Interview soll, wo es gesendet wird, was ich vom deutsch-tschechischen Verhältnis halte, wie es denn ankomme, dass sie nun die Ehre hat, vom deutschen Parlament zum Gedenktag der nationalsozialistischen Opfer etwas äußern zu dürfen. Sie stellt die Fragen so, als müsste sie selbst noch etwas über unsere Begegnung schreiben.

 

Derweil habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich ihr vielleicht ein zu langes Gespräch zumuten werde, aber auf die Frage „kurzes oder langes Interview“, hat sie selbst entschieden und wie selbstverständlich, nachdrücklich betont: „Wir haben Zeit.“

 

Einen Tag nach unserem Interview wird die Schauspielerin Angela Winkler ihre Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag verlesen und sie wird es nur im Fernsehen anschauen können, wenn ihre Rede von jemand anderem verlesen wird. Das deutsche Volk wird Lenka Reinerová nicht mehr hören können, ihr Gesundheitszustand bindet sie an ihr Zuhause.

 

Aber ich werde sie gleich hören können, ihre „Stimme einer untergegangenen Welt“ für mich ganz allein, für einen einzelnen Deutschen der sie besucht, wird sie erklingen in ihrem „Prager Deutsch“.

 

Auszug aus dem Interview

 

Es gibt einen Kafka-Spruch über Sie, und der stammt vom Verleger Klaus Wagenbach, der besagt: Wenn man hören will, wie Kafka gesprochen hat, dann muss man nur der Reinerová zuhören, denn sie spricht „Prager Deutsch“.

 

„Eben, genau, das ist mein Prager Deutsch, und ich wurde schon unendlich oft gefragt, was das eigentlich sei, das Prager Deutsch. Es ist kein Dialekt, es ist meiner Meinung nach vielleicht eine besondere und eine bisschen eigenwillige Art des Deutschen, der deutschen Sprache, zweifellos beeinflusst durch die geographische Lage. Darin sind österreichische Einflüsse. Für mich, ich bin ja kein Wissenschaftler, ist das Prager Deutsch weicher und – wenn ich so sagen darf – ein bisschen schlampiger als das deutsche Deutsch. Das deutsche Deutsch ist exakt, sehr präzis, und wir sind, das kommt vielleicht vom Tschechischen wieder, wir sind etwas lockerer. Ich höre diesen Unterschied. Aber dass ich als geborene Pragerin, als eine in dieser Stadt aufgewachsene Person, Prager Deutsch schreibe, kommt mir ganz natürlich vor.

 

„…das ist eben diese Art, das wirkliche Leben darzustellen. Das ist alles.“
Lenka
Reinerová

 

Verleger Lojze Wieser schreibt zum Erscheinen des Buches: „Lesen und hören. Einsam und doch gemeinsam. Eine Verbindung, die die Tonalitat der Sprache zum Klingen bringt und die uns in gedruckter Form beim Lesen die Möglichkeit gibt, die Entwicklung des Gedankens in all seiner Zerbrechlichkeit nachzuzeichnen, dem Sich - Hintasten zu folgen, alle Seiten der Unsicherheit zu spüren, und dem Lesenden das Zugeneigtsein - zum Gedanken, zum Autor, zur Autorin, zum Thema - finden lässt. Die Idee kam von Norbert Scheiber vom Hessischen Rundfunk. Man müsse sehen, wie die vielen Gespräche, die von ihm und seiner Kollegenschaft im Laufe der Jahrzehnte geführt wurden, für die Leserschaft nutzbar gemacht werden. Wie macht man eine CD, die man gut lesen kann, und wie macht man ein Buch, das man gut hören kann? Es folgten viele Gespräche und Abwägungen. Viele sinnvolle und zu verwerfende Gedanken wurden gewälzt und nicht zuletzt viele Versuche in der Buchbinderei gemacht, bis die richtige Form der Umsetzung gefunden war. GEHÖRT GELESEN ward geboren. Ein Buch mit doppeltem Umschlag, wo sich im aufklappbaren und doch nicht flattrigen Schutzumschlag die CD zum Herausnehmen und Hören befindet und das sich von außen doch nicht von einem Buch unterscheidet. Nun liegt der zweite Band der neuen Reihe GEHÖRT GELESEN im Wieser Verlag vor.

 

Pressestimmen „Vielen Dank für dieses tolle Tondokument. Sehr weise Worte und außerdem noch typisches Prager Deutsch gehört, das leider kaum mehr in der Form gesprochen wird.
Portal Radiokunst

 

Edgar Selge Hast du uns endlich gefunden?


Edgar Selge ist ein beeindruckender erfolgreicher Schauspieler, und er wagt sich nun mutig auf ein neues Terrain: das Schreiben! Es ist also sein erster Roman, ein Debut, in dem er Autobiographisches mit Fiktionalem mischt. „Jetzt sitze ich hier und schreibe das auf. Hoffentlich verschwinde ich nicht zwischen den Sätzen. Je genauer ich bin, desto fremder werde ich mir.“ 


Der Text enttäuscht nicht, Selge verschwindet nicht zwischen seinen Sätzen, im Gegenteil, es schwindet vielmehr das mir Fremdsein dieses Charakterdarstellers von Satz zu Satz, und wir gewinnen als Leser nach und nach ein klares Bild von ihm und einer typisch deutschen Familie, mit strengem Über-Vater, einem Gefängnisdirektor und der Mutter, die treu im Haushalt zu dienen hat.


Selge blendet in die autoritäre Nachkriegszeit zurück. Er erfährt das strenge Erziehungsregiment der Eltern wie ein Déjà-vu. Selge berichtet vom Freud und Leid in seiner Kindheit. Sein Vater ist strafversetzter Gefängnisdirektor, der gerne vor Publikum Klavierkonzerte gibt. Die Gefangenen dürfen zuweilen seiner klassischen Hausmusik lauschen. 
Er beschreibt das Elternhaus so: Kultur steckt in ihnen, Gedichte haben sie im Kopf, Musik pulsiert in ihrem Blut und in den Fingern. “Ich bin derselbe Träumer“, sagt Selge und stellt zugleich die Frage: „Was für ein Teufel steckt bloß in mir? Wie lange werden sie draufschlagen müssen auf mich, auf meinen Po, auf meinen Rücken, in mein Gesicht, bis dieser Teufel endlich Reißaus nimmt?“


Es ist also Gewalt im Spiel im Hause Selge. Der Debütautor mischt Sprachkritisches, Musikkritisches, Familienkritisches. Sein Fazit: „Mensch, Edgar, sag was los ist! Meine Liebe zu meinem Vater. Das ist, was los ist. Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.“ „Dann triffst du meine Wange, voll und klatschend. Ich greife mir vor Schmerz ins Gesicht…. Du musst zuschlagen. Das ist ein Zwang. Du musst die Welt in Ordnung bringen. Du musst mit Ohrfeigen die Welt besser machen.“ Das geht bis zur sexuellen Übergriffigkeit, die Selge nachempfindet. 


Auch ich bin in jener Zeit aufgewachsen, zum Glück ohne diese Gewalterfahrungen, aber die Zeiten damals, die Gedanken, das Empfinden, die Erlebnisse sind nachfühlbar, sie gleichen sich. Es ist eben der Muff von tausend Jahren und es sind zugleich die Folgen eines tausendjährigen Reiches. 


Selge liebt Musik und Sprache, das spürt man an jeder Stelle des Buches. Er komponiert lustige Vergleiche, etwa „Da sehen die Häuser aus wie Kaffeetanten.“ Und immer wieder erfahren wir Musikalisches. Wenn Selge etwa bei Marschmusik und Piccoloflöten die Beine nicht mehr stillhalten kann. Posaunen den Brustkorb dehnen. Oboen ihren Resonanzraum unter der Schädeldecke suchen. Das Fagott zwickt, schneidige Trompeten fassungslos machen, die Tuba saukomisch klingt und das Horn todtraurig. Er schreibt sogar von versoffenen Tönen. 
Solchen Beschreibungen folgen in knappen Sätzen klar formulierte Erkenntnisse, wie etwa: Reue kann nicht kontrolliert werden. Grundsätzlich nicht. „Wer das versucht, züchtet Schauspieler.“ 


Die Eltern sind für Selge keine Einzelwesen, sondern eine herrschende Institution. Es ist eine Macht, die verhört, schlägt, bestraft. Selge fragt: „Was ist die Wildnis in uns allen?“ Oben, im Apfelbaum, spielt er als junger Bub Krieg und ahmt Bombardierungen nach. 
Auf Seite 229 schildert Selge die Monotonie des Alltags, den Spießrutenlauf durch den täglichen Parcours der Haushaltspflichten, verursacht durch den „entsetzlichen Kreislauf“ der Mahlzeiten. Das reicht vom Haus saubermachen, übers Aufstehen und Essen planen, zum Einkaufen, bis zum Töpfe rausholen, Messer, Bretter raus, Gemüse schneiden, Bohnen schnippeln, Fleisch vorbereiten, Wasser aufsetzen, Zwiebel anbraten, Abwasch, Boden sauber halten, Mülleimer rausbringen, Fußmatten ausschlagen, Wäsche waschen, abnehmen, bügeln, zusammenfalten und so weiter und sofort. Alles bleibt an der Hausfrau hängen. Alles klebt an ihr dran „Diese Männer, die ihr Leben auf dem Erbe der Frauen aufbauen! Aber ihren Frauen das Haushaltsgeld zustellen!“ Oder „Für meinen Vater bedeutet Fleisch auf dem Teller die Wiederherstellung seiner Grundrechte.“ 


Das Thema Gewalt in der Familie, das Ur-Thema Nazi-Erbe wird im Text verarbeitet, etwa die Fragen wie kann man noch von edlem Menschentum reden angesichts der Kriegsgräuel und Judenvernichtung.
Als ihm auch die Mutter als Strafmaßnahme Schläge verpasst, empfindet Selge sie eher als eine Behauptung, ein Moment wie auf der Theaterbühne. Sie spielt das Schlagen, Edgar Selge schluchzt, um ihr wenigstens das Gefühl zu geben, dass ihre Strafe eine Wirkung hat. Die Mutter sagt, so weh kann das jetzt nicht getan haben. Und doch ist es Gewalt, die weibliche, die sanftere Variante. 


Es ist ein Buch vom Suchen und Finden, von Lüge und Ehrlichkeit, vom Erwachsenwerden und Kind bleiben, ein träumerisches und realistisches Buch zugleich. Ein Romanmonolog ohne eigentliche Handlung, eine Selbstvergewisserung ohne Gewissheiten, weil der Zweifel weiterlebt. 
Michael Krüger, einst Verleger und selbst Schriftsteller, rezensiert den Roman mit den Worten: Selge schreibt mit Ernst, Lakonie und trifft den "richtigen Ton". Es ist ein Debüt im Alter von 73 Jahren, mit seelischem Tiefgang, lakonischem Humor, Selbst- und Fremderkenntnis zugleich, befruchtet vom Können eines großartigen Schauspielers. 


Edgar Selge Hast du uns endlich gefunden Rowohlt

 

Abschied von Angela

Das Urteil über die Kanzlerin Angela Merkel hat die Welt längst gefällt. In Deutschland gehen die Meinungen weiter auseinander. Erst im Abstand und unter Berücksichtigung dessen, was oder wer ihr nachfolgt, wird eine historische Beurteilung möglich sein, die dann vielleicht „nachhaltig“ sein wird. Deshalb tut die Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld gut daran, ihr „Porträt einer Epoche“ ohne große Bemühungen ihrer vielfältig bewiesenen Urteilskraft eher als zeitgenössische Chronistin zu zeichnen.

 

Das wird ihr ein großes Publikum sichern, denn viele Deutsche wollen vor Ablauf der selbstbestimmt endenden Kanzlerschaft noch einmal wissen, was Merkel eigentlich bewirkt oder auch, was sie nicht bewirkt hat. 
Ganz ohne eine Beschreibung von Kindheit und Jugend in der DDR ist die Kanzlerin nicht zu erklären. So erfährt die staunende Leserin einiges über die von Merkel in Leipzig und Prenzlauer Berg gelebte Bohème-light, wie sie damals möglich war. Anders als Ralph Bollmann in seiner umfangreicheren Merkel-Biographie beschränkt sich Weidenfeld dann im Wesentlichen auf die Kanzlerin und verzichtet weitgehend darauf, die CDU-Vorsitzende als zweiten Fokus in den Blick zu nehmen. Das Sichtbare zählt für sie. Dabei lässt sie vielfach die Kanzlerin selbst zu Wort kommen.

 

Als Merkel z.B. der damalige Star im Kabinett von Guttenberg wegen der Plagiatsvorwürfe von der Fahne gehen musste, zitiert Weidenfeld die Kanzlerin mit einem vielleicht auch für aktuelle Fälle brauchbaren Wort vom 21.2.2011: „Ich habe keinen wissenschaftlichen Assistenten oder einen Promovierenden … berufen, sondern mir geht es um die Arbeit als Bundesverteidigungsminister … und das ist, was für mich zählt.“ Der hatte mit Merkels Segen gerade die Wehrpflicht abgeschafft. Zu einem Epochen-Porträt zählen auch die Stimmen der Zeit. Aus der Vielzahl derer, die die Autorin aufruft, ohne sich dem Urteil anzuschließen, sei die aus der umstrittenen Flüchtlingsfrage der „sonst strengen“ Zeit-Journalistin Jana Hensel zitiert: „Da bin ich mir sicher, dass wir eines Tages feststellen werden, dass sie recht hatte. Dass der Wir-Schaffen-das-Satz das größte Kompliment gewesen ist, das sie uns machen konnte. Sie hat uns Deutschen damit ein Stück ihrer Größe und Würde als Auftrag zurückgegeben. Und wir werden es schaffen, nun auch ohne sie.“

 

In einem interessanten Kapitel beschreibt Weidenfeld die Kanzlerin im gesellschaftlichen Rahmen des Feminismus auch ihre Beziehung zu Alice Schwarzer. Als sie gefragt wird, ob Deutschland angesichts vieler weiblicher Vorstandmitglieder in der CDU auf dem Weg ins Matriarchat sei, antwortet sie schlagfertig: „Nein, wir wechseln nur vom 20. ins 21. Jahrhundert.“ Mit solchen Zitaten porträtiert Weidenfeld treffend die Kanzlerin und eine Epoche, in der es immer auch um Quoten und vor allem um gleiche Rechte geht.


Die promovierte Physikerin Merkel hatte zwei Erkenntnisse abzuwägen: Die Kernenergie ermöglicht die Stromgewinnung ohne klimaschädliches Kohlendioxid aber Kernkraftwerke bergen ein hohes Risiko und die Entsorgung der radioaktiven Rückstände ist nicht gesichert. Am Ende entscheidet sie angesichts der Reaktorkatastrophe von Fukushima für Sicherheit und setzt verstärkt auf Wind und Sonne, um das Klima zu schonen. Diese Entscheidungsfindung sieht im Rückblick wie ein Zick-Zack-Kurs aus, erscheint aber – trotz ihrer handwerklich mangelhaften Umsetzung – nachvollziehbar. Einen Großteil ihrer weltweiten Reputation hat der Kanzlerin ihre ja nicht in die Wiege gelegte Europa-Zuwendung eingetragen, ihre von Strenge und später Nachsicht geprägte Haltung gegenüber Griechenland, ihr Friedensengagement in der Ukraine-Krise und in der Auseinandersetzung mit dem Iran.

 

Ihr weltweites Antreiben in der Klimapolitik geht vielen nicht weit genug, anderen viel zu weit. Die Epoche, die Weidenfeld als die Zeit der Kanzlerin porträtiert, geht aber weiter. Das Urteil über die Weichen, die Merkel in ihrer Kanzlerschaft gestellt hat, werden künftige Historiker fällen – wahrscheinlich dann wiederum kontrovers. Was die Autorin dieses Buches leistet, ist eine sorgfältige, weitgehend vorurteilsfreie Chronik, die aktueller kaum sein kann und die das lesende Publikum verschlingen wird.


Harald Loch


Ursula Weidenfeld: Die Kanzlerin   -   Porträt einer Epoche
Rowohlt Berlin, 2021   320 Seiten   22 Euro

 

Der Schatten-Bruder von Thomas Bernhard

Der „Schatten-Mann“ tritt heraus aus dem Dunkel und bekennt als Peter Fabjan: Ich bin der Bruder von Thomas Bernhard, hatte ein Leben an seiner Seite und schreibe jetzt einen „Rapport“, der bei Bernhards Hausverlag SUHRKAMP veröffentlicht wird, obwohl ich doch ureigentlich ein Mediziner bin, dem die Grundlage für ein Leben als Künstler fehlt.
Das Leben des Anderen, des Bruders, wird „nur geduldet“, schreibt Fabjan. Beide Brüder leben in Parallelwelten, die räumliche Nähe in Gmunden „bedingt ein verstärktes Miteinander“, es ist so etwas wie ein  Distanz-„Miteinander“, möchte man meinen, als wäre Corona schon unterwegs.


Die Familienverhältnisse sind so kompliziert, dass der Autor 105 Seiten braucht, bis sie en Detail geklärt sind und er zu seinem eigentlichen Thema, dem Verhältnis zu seinem Bruder, kommen kann. 
Die Süddeutsche Zeitung moniert, da wäre eine Ahnengalerie hilfreich gewesen. 


Beide Brüder hatten dieselbe Mutter. Peter Fabjan hatte jedoch das Glück, in eine Familie hinein geboren zu sein. Als uneheliches Kind wurde Thomas Bernhard ins Pflegeheim abgeschoben, er wuchs aber später bei seinen Großeltern auf. So erkennt Fabjan, dass die Kindheit seines Bruder-Patienten „wohl in frühster Kindheit erstorben“ war. 
Den eigentlichen Vater Alois Zuckerstätter wird Thomas Bernhard nie kennenlernen. Der verfällt der Trunksucht und begeht 1940 in Berlin Selbstmord.


Bernhard provoziert, verachtet, stößt geliebten Menschen vor den Kopf, löscht aus, wechselt zwischen Warmherzigkeit und Eiseskälte, heftiger Brutalität und Zuneigung. 


Bernhard leidet an einer tuberkulösen Rippenfellentzündung und Morbus Boeck, einer systemischen Erkrankung des Bindegewebes, die zur Herzerweiterung führt. Eine Herztransplantation wird erwogen, aber verworfen.


Fabjan lebt das Leben des Anderen, er ist Mediziner und gerät erst spät in die Rolle des behandelnden Arztes und Nachlassverwalters seines berühmten Bruders. 


Peter Fabjan mischt in diesem 200-Seiten-Buch Briefzitate mit Familienbildern, Medizinberichte mit Anekdoten, Tagebuchnotizen mit Beobachtungen der Sterbebegleitung. Hintereinander weg lernen wir in Kurzkapiteln wichtige Menschen kennen, die der Autor mit Thomas Bernhard gemeinsam getroffen und erlebt hat: Nachbarbauern, Handwerker, Immobilienmakler, Politiker, Architekten, Verleger, Regisseure, Schauspieler, Künstler, Kleinadelige, Hocharistokraten. 
Wir lesen Notizen, Protokolle, Lebensläufe, Reiseberichte, Krankengeschichten, Nachlassnotizen, Übersichten der Liegenschaften und des Immobilienbesitzes, Organisationsfragen zum Erbe, Lebensstationen und ein kurzes Fazit auf Seite 191 sowie den Lebenslauf des Autors selbst, der in diesen „Thomas-Bernhard-Teppich“ eingewoben ist.  Personenregister und Ahnentafel, wie gesagt, fehlen leider. 


So ist das Buch mehr Krankenakte als Literatur, mehr Dokument als Poesie. Der Text ist nah und doch so fern. Der Bruder-Autor bekennt: "Wenn Thomas nicht mehr lebt, werde ich meine Zuneigung viel stärker empfinden, als er es mir heute erlaubt." Die Frage für das Buch ist aber auch, wie viel Nähe und Distanz Fabjan sich in der Rolle des Bruders und behandelnden Mediziners erlaubt. Man spürt eher die Ferne zu Thomas Bernhard, und der ist da wie immer brüsk und radikaler zu sich und anderen: „Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“ 


Peter Fabjan Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard Ein Rapport SUHRKAMP

 

Der "Schatten"-Bruder: Heinrich Mann

Er ist der Schatten-Bruder: Heinrich Mann, Bruder von Nobelpreisträger Thomas Mann. Während sein Bruder Heinrich in Ost und West gerne gelesen und gefeiert wurde, blieb die große Anerkennung Heinrich Manns in der aufstrebenden Bundesrepublik der Adenauer-Zeit versagt. In der DDR dagegen war er beliebt, sollte zur Lebenszeit und auch nach seinem Tode politisch vereinnahmt werden. Als „politischer Träumer“ mit Weltverbesserungs-Ansatz und radikalem Idealismus starb er verarmt in den USA. 


Günther Rüther möchte unser Bild auf Heinrich Mann, Autor vom „Untertan“, zurechtrücken, ihn ins rechte Bild rücken. Er teilt seine Biographie in vier Abschnitte: das Wihelminische Reich, den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik, in die Zeit im USA-Exil, dem Land der Träume und in die Exil-Endphase des Lebens in Los Angeles.
Als Idealist setzt Heinrich Man auf Wahrheit und Gerechtigkeit, er träumt als Idealist von einer besseren Welt. Seine Traumverlorenheit fällt in der Buchhändlerlehre schon dem Lehrherrn auf, der Heinrich Mann Gleichgültigkeit und Wortkargheit attestiert. Bei ihm mischen sich depressive Momente mit Zeiten der ausgelebten Lebenslust. 
Heinrich Mann träumt von einem guten Leben: Satt zu essen, schönes Wetter in einem schönen Land und dann und wann eine angenehme Frau. Dabei schätzt er Schriftsteller, die soziale Wirklichkeit in ihren Werken abbilden, etwa Zola in Frankreich oder Hauptmann in Deutschland. 


Ärzte attestieren ihm die damals unter Künstlern modische Krankheit, die so genannte Neurasthenie, ein Zustand der Schwäche und Überreiztheit. Man fühlt sich nämlich schlecht, reist von Kur zu Kur, leidet an den Folgen der modernen zivilisatorischen Fehlentwicklungen. Überhaupt war sein Lebenswandel von „unerfüllten Sehnsüchten und Träumen bestimmt“ wie Rüther schreibt. 
Wir erfahren in der Biographie, dass Heinrich Mann im Geist der Zeit auch fahrlässig antisemitisch denkt, weil sich die Juden als Rasse gegen die Tendenzen des modernen Nationalstaatsprinzips wenden. Das passt erst mal so gar nicht zum Bild des Humanisten, Pazifisten und Sozialisten Heinrich Mann. 


Die Biographie folgt chronologisch den Haupt-Lebenslinien Heinrich Manns und der Linie seiner Werke, die er geschrieben hat. 
In einem Brief an seinen Bruder Heinrich kritisiert Thomas Mann dessen literarische Arbeit: Oberflächlicher Stil, Sätze, denen die innere Geschlossenheit fehlt, vor allem aber sprachliche Haltung und Strenge. 
Von da an, war ihr brüderliches Verhältnis gestört, Heinrich war tief verletzt, fühlte sich gründlich missverstanden, ihre Beziehung sollte sich, so der Autor, nie wieder ganz erholen. Während Thomas Mann mit den Buddenbrooks und anderen Werken von Erfolg zu Erfolg eilt, bleiben Heinrich Manns Werke in kleinen Auflagen hängen. 
Heinrich Mann verweigert sich der „Kriegsbesoffenheit“ in der Weimarer Republik, er träumt und schwärmt von Menschenrechten und Völkerfrieden, von Gerechtigkeit und Freiheit im Inneren, von Überwindung des Untertanengeistes, und er denkt europäisch, fußend auf den einigenden Kräften des europäischen Geistes und einer zukünftigen deutsch-französischen Freundschaft. 


Von den Nazis wurden auch Heinrich Manns Bücher verboten und verbrannt. 


Ausführlich widmet sich Rüther der deutschen Exilkolonie um Brecht, Werfel, Koestler, Feuchtwanger, die an der Cote d`Azur ihnen Zufluchtsort vor den Nationalsozialisten finden, der auch Heinrich Mann angehört. 


In seinem Buch „Der Haß“ richtet Heinrich Mann sich gegen die Nazi-Tyrannei, sie seien „Hohepriester des Hasses“. 


Von Lissabon aus tritt Heinrich Mann die Atlantikreise per Schiff an. Als „Ghostwriter“ in einem Filmstudio hält er sich gerade so über Wasser, schriftstellerische Erfolge bleiben aber aus, Mann ist angewiesen auf die Unterstützung seines Bruders. Der russische Botschafter steckt ihm ab und an etwas Geld zu. Seine Kontakte nach Ost-Berlin hatten ihn in der jungen Bundesrepublik verdächtig gemacht. Es gelang ihm, wie Rüther schreibt, kein Neuanfang auf dem amerikanischen Büchermarkt. 
Heinrich Mann stirbt am 11.März 1950 in Sonta Monica den „Gehirntod“.  Elf Jahre nach seinem Tod wird Heinrich Manns Urne in der Heimaterde in Berlin im Beisein von Walter Ulbricht beigesetzt. Dieser erklärt kurz und bündig „Heinrich Mann ist unser“. 


Der Biograph Rüther resümiert ebenso knapp: Mit diesen Worten fügte er ihm einen Schaden zu, von dem er sich bis heute nicht vollständig erholen konnte.“


Rüthers Biographie ist eine stark politik-historisch geprägte Analyse, die den Werken Heinrich Manns und ihrer literaturhistorischen Einordnung breiten Raum lässt, ohne das schwierige Verhältnis von Bruder zu Bruder überzubetonen, ergänzt um eine Zeittafel, Anmerkungsapparat Literaturauswahl, Abbildungsnachweis und Personenregister. Was fehlt, ist jedoch leider ein kommentiertes Werkverzeichnis von Heinrich Mann. Ein Buch für literaturgeschichtlich Interessierte Leser. 

 
Günther Rüther Heinrich Mann Ein politischer Träumer Biographe MARIX

Günther Rüther, Dr. phil., Emeritus der Exzellenz-Universität Bonn. Viele Jahre Leiter der Abteilung Begabtenförderung u. Kultur der Konrad Adenauer Stiftung. Im Verlagshaus Römerweg erschienen: Wir Negativen. Kurt Tucholsky und die Weimarer Republik, Theodor Fontane. Aufklärer – Kritiker – Schriftsteller, Theodor Fontane. Alles ist Zufall. Schriften eines Realisten und Heinrich Mann. Ein politischer Träumer / Biographie.

 

Günther Rüther Heinrich Mann MARIX

Der Untertan - bei Fischer neue Sonderausgabe!

 


„Vergesst nicht, das Buch von Mann zu beschnüffeln; es lohnt sich.“ Diese Empfehlung gab Albert Einstein am 22. April 1016 seinem Freund Michele Besso. Er meinte damit den Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann. Das Buch war einen Monat vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges fertiggeworden und in mehreren Folgen in „Zeit im Bild“ vorabgedruckt, aber als Buch kriegsbedingt noch gar nicht herausgekommen. Das war erst nach Aufhebung der Zensur nach dem Ende des Krieges möglich und erreichte bald eine Auflage von über 100 000.

 

Es wurde und blieb bis heute das Meisterwerk der klassischen Moderne oder – mit Bertolt Brecht – „der erste große satirische politische Roman der deutschen Literatur“. Seine zweite Renaissance erlebte er nach dem nächsten Weltkrieg. Zunächst brachte ihn der Aufbau Verlag in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone, wiederum in hohen, allenfalls durch die Papierknappheit begrenzten Auflagen.

 

Der DEFA Film von Wolfgang Staudte (1951) brachte ihn die Kinos, zunächst nur in der DDR. In der Bundesrepublik fiel er der Zensur zum Opfer und wurde erst mehr als 20 Jahre später gezeigt. Jetzt, mehr als hundert Jahre nach der ersten Auflage im Winter 1918, gibt der S. Fischer Verlag eine großformatige, kostbar gestaltete Sonderausgabe heraus. Sie enthält ein Nachwort von Ariana Martin und einen großen, von ihr besorgten Bild- und Materialanhang von nahezu 200 Seiten. Anlass ist der 150. Geburtstag Heinrich Manns am 27. März.
Wer den Roman nicht nur „beschnüffeln“ will, wie von Einstein empfohlen, wird bei der Lektüre vielleicht selbstkritisch in einen Spiegel blicken, sicher aber einen vortrefflichen Einblick in die deutschen Verhältnisse unter Wilhelm II. gewinnen. Die Satire ist unterhaltsam, entlarvend und visionär. Sie weist auf den unmittelbar nach Abschluss des Manuskripts ausbrechenden Ersten Weltkrieg, auf die teilweise fortbestehende Untertänigkeit nach dessen Ende und auf den Nationalsozialismus und den vielen in seinem Namen mordenden Tätern als Entschuldigung dienenden „Befehlsnotstand“ hin.

 

„Der Untertan“ ist ein literarisch anspruchsvoller, zeitloser politischer Roman, er hat einen bissigen Humor und liest sich unterhaltsam bei allem Ernst, mit dem er die wilhelminische Gesellschaft anprangert. Sein feiger Protagonist Diederich Heßling wuchs in einer Familie heran, in der die Eltern trotz ihrer fehlenden pädagogischen Sensibilität „von Gemüt überfließende Dämmerstunden“ hatten: „Aus den Festen preßten sie gemeinsam, vermittelst Gesang, Klavierspiel und Märchenerzählen, den letzten Tropfen Stimmung heraus.“

 

Solche Gefühlsseligkeit stellte sich im Erwachsenenalter des Heßling gelegentlich, etwa beim Anhören des „Lohengrin“ wieder ein. Kennzeichnend waren aber seine deutsch-nationalistische, überheblich-rassistische und die Arbeiter seiner Papierfabrik schikanierende Ausbeutung und seine kriecherische Haltung gegenüber der wilhelminischen Obrigkeit. 


„Der Untertan“ machte in der Weimarer Zeit durchaus Eindruck, verhindern konnte er das, was folgte, nicht. Zwei Weltkriege nach seiner Fertigstellung konnte der Stiernacken des Heßling in Staudtes großartiger Verfilmung die Grenzen des Kalten Krieges nicht von Babelsberg nach Bonn überwinden. Die in dem großen Bild- und Materialienanhang der hier anzuzeigenden Sonderausgabe enthaltene Rezeptionsgeschichte reicht bis in die junge Bundesrepublik und die DDR. Sie ist ein fortgeführtes deutsches Geschichtspanorama. Es ist im Roman selbst visionär vorausgesehen und in einigen der Erscheinungen der Gegenwart keineswegs nur Vergangenheit. „Der Untertan“ gehört also in jeden Bücherschrank und sein Geist aus jedem Kopf verbannt.


Harald Loch


Heinrich Mann: Der Untertan (Sonderausgabe)
Mit einem Nachwort und Materialanhang von Ariana Martin
S. Fischer, Frankfurt am Main   2021   638 Seiten   48 Euro

 

Meister der Dämmerung: Peter Handke

Handke und die Metamorphosen – Handke als Wanderer auf dem Weg – Handke als ständiger Wort-Verwandlungskünstler. Viele verschiedene AN-Sichten von und über Nobelpreisträger Peter Handke in diesem biographischen Buch von Malte Herwig:


Malte Herwig Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie. Aktualisierte und erweiterte Ausgabe PANTHEON


Handke über sich selbst: Würde er seine Autobiographie schreiben, hieße sie: Betrachtungen meiner Irrtümer. Und was sind Handkes Irrtümer? Ach, drehen wir doch erst einmal den Spieß um. Die Öffentlichkeit ist es, die etwas verwechselt. Handkes Worte – etwa zu Jugoslawien - sind seiner Auffassung nach keine politischen Statements, er begreift sie als Literatur. Und das versteht die Öffentlichkeit wiederum nicht. Es ist halt auch so: Wer Publikum beschimpft, muss mit seiner „Rückhand“ rechnen. 


Wenn Handke dichtet, schreibt, steigt er ins Bergwerk der Bilder und Sätze. 


Was bewegt ihn, setzt ihn in Bewegung? Die Themen: Krieg, Nationalsozialismus, Slowenien, mit der Mutter gegen die Väter – ein leiblicher und ein anderer, genannt Stiefvater, mit dem er brieflich auf die Entfernung kommuniziert. Das Vater-Sohn-Verhältnis für Handke „…eine Grundfrage der menschlichen Existenz“. Das alles beeinflusst sein Erzählen und noch vieles mehr.


Die Wirklichkeit wird durch sein Schreiben neu erschaffen. Sich findend, durch Erzählung und durch Wege, die zu gehen sind.  „Eine glückliche Kindheit verbringe ich erst in der Erinnerung“. Er fragt: „Mama, was ist ein Buchstabe?“ 

 
Handke hängt an Deutschland – sein Vater war Deutscher. Er liebt Slowenien und dessen Sprache. Dort ist er aufgewachsen. Österreich beansprucht ihn und will ihn aus Frankreich heimholen. Handke empfindet das eher als Heimsuchung. 


Handke liebt das Abseits, er liebt Schwellenorte, Peripherie, Randzonen der Großstädte. Deshalb lebt er im Vorort Chaville bei Paris.
Von Meinungen hält er nicht viel, sie haben für ihn eine tödliche Mechanik, denn Handke hat ein Ziel. Er stellt sich außerhalb des Bewusstseins, der Meinungen, der Vorstellung der anderen. Dort ist der Ort, wo er leben will.  Wenn er sich selbst beim Meinen ertappt, beginnt er den Kampf gegen sich selbst. 


Handke ist Musterschüler, was sonst? Der Lehrer bescheinigt ihm, ein kluger Fragensteller zu sein und stellt ihm in Aussicht, mit 50 ein Nobelpreisträger zu sein. Na bitte, etwas später hat es ja geklappt. 
Das Schreiben ist für ihn nicht nur Begabung oder Intuition, sondern auch eine Sache des beharrlichen Willens.

 
Im Internat ist er vernichtet worden. Seine Erzieher sind die Autoren, die Bücher, schreibt Malte Herwig.


Die Menschenscheu wird er nie ganz verlieren. Die Lebensbeschreibung des Nobelpreisträgers geht so nach den Worten seines Biographen: Die Schriftstellerrolle macht es Handke möglich zu balancieren: zwischen Einsamkeit und gesellig sein, zwischen Fanatismus und Gelassenheit, zwischen Kunst und Leben und ich würde hinzufügen zwischen Wirklichkeit und Literatur. 


Handke hält es mit Kafka, denn dieser schreibt, um zu sein. 
Schreiben ist Kampf mit sich selbst, die entscheidenden Ereignisse finden in der Innenwelt statt.


Der Beat der Zeit löst Handke die Zunge. Als Gymnasiast besucht er Bälle, geht leidenschaftlich gerne – auch später noch – ins Kino, wird zum „lonesome Cowboy“, sein Notizbuch dabei der Colt. Er lernt italienisch sprechen und Klavier spielen. 


Freunde bescheinigen Handke auf der einen Seite Schüchternheit, auf die andere „aggressive Verschmitztheit (Alfred Kolleritsch). Handke neigt zu Panikattacken und überreizten Nerven, notiert sein Biograph. Schon das Rascheln von Zigarettenpapier kann ihn kribbelig machen.
Herwig lässt die Lebensstationen farbig und detailgenau Revue passieren, indem er nicht seine eigene Vorstellungskraft strapaziert, sondern seine Handke-Darstellung entlockt Erkenntnisse aus dem Werk, aus der Literatur, aus den Sätzen, den Gedanken, den Geistesblitzen, aus den Gesprächen mit ihm und auch mit den Zeitzeugen und Freunden. Sein vertrautes Verhältnis zu seinem „Gegenstand“ strapaziert er nicht allzu oft. Sehr klug und überzeugend. 


Handke bescheinigt bei dem berühmten Treffen der Gruppe 47 den dort versammelten Poeten „Beschreibungsimpotenz“, feiert mit „Publikumsbeschimpfung“ Theatertriumphe (Beschimpfen ist kein Spiel, es ist die Wirklichkeit), wird in die Heldengalerie der Suhrkamp-Autoren aufgenommen. Der Pop-Poet liebt Beatles-Songs und Canned Head, besucht ein Rolling-Stones-Konzert, steht am Flipperautomaten und bekommt als jüngster Preisträger den Büchner-Preis. Später gibt er ihn protesthalber zurück.  


„Auf der Straße ging ich wie ausgesetzt.“ 


Angst ist sein Antrieb, die Panikattacken versetzen ihn in einen rauschhaften Zustand, seine Wahrnehmungsfähigkeit wird gesteigert. Er kann dann aber auch jähzornig, aufbrausend sein. Er braucht die Einsamkeit und leidet zugleich an ihr. „Gehe Autor, und auch deine Geschichte geht weiter.“ Schreiben gleicht einem Luftholen. „Sitzt du an einem Buch?“, fragt sich der Tagebuchschreiber Handke. „Nein, ich gehe.“


„Was ich zu sagen habe, steht in meinen Büchern“, schnauzt er journalistische Fragesteller an. „Von keinem Menschen, der zu mir kommt, höre ich, dass er sagt, dass er irgendwas von mir gelesen hat.“
Journalisten „halt Gesindel“.  


Handke lebt nach seinem Gesetz des Schreibens, das er über alle persönlichen Beziehungen und auch Konventionen der Gesellschaft stellt. 


Der ehemalige Hanser-Verleger und langjährige Handke-Freund Michael Krüger diagnostiziert ein Lebensproblem: Handke möchte alleine sein, um seine Arbeit zu tun, braucht aber auch andere Leute. 
„Tausend Seiten Einsamkeit“, notiert Herwig. 


Zugleich kann Handke Schriftstellerkollegen verbal vernichten, wenn er vollkommen ausrastet: „Hätte ich nicht meinen Fanatismus der Sprache, ich wäre auch ein Amokläufer geworden.“ Einen FAZ-Journalisten verprügelt Handke. 


Da holt sich nach Handke der eine Autor Details am Computer zusammen, um zu schreiben, der nächste formuliert „Scheißhausliteratur“, eine Nobelpreisträgerin ist „kunstgewerblich unterwegs“, Geschwafel, Zeitungssätze, Handke kritisiert seine Kollegen durchaus mit Vernichtungswillen. 


In seinem Haus in Chaville, südwestlich vor Paris gelegen, flickt er seine Hemden, sammelt er Pilze, wandert er im Wald, knackt Nüsse und kocht sich und anderen eine Pilzsuppe. 


Die Texte zum Jugoslawienkrieg, seine Rede am Grab Slobodan Miloševićs, den Besuch bei Karadžić und die umfangreiche Diskussion dazu, auch wieder anlässlich der Verleihung des Nobelpreises lässt Herwig nicht aus, Handke bedauert am Ende seine Interview-Äußerungen zu Srebrenica. 


Handke befreit sich am „Pfahl des eigenen Ichs“ von quälender Unsicherheit, Reizbarkeit und Nervosität. Es ist wie eine Überlebensstrategie. Sein Schreiben ist kein Ausdruck von Persönlichkeit, sondern Ausflucht von Persönlichkeit.

 
Malte Herwig gelingt auch mit den aktuellen Ergänzungen das intensive, tiefgehende, auch psychologische Porträt eines einzigartigen Literaten. Die familienhistorischen Hintergründe, die jungen Entwicklungen eines Ausnahmeschülers, die rasante Karriere eines Pop-Poeten, die umstrittenen politischen Wirkungen des Autors, die Entwicklung zum Nobelpreisträger, das alles ergibt ein breites, gelungenes, farbiges und tiefschürfendes Personen-Panorama. Das dramatische Werk Handkes kommt allerdings zu kurz. Dafür entschädigt die Schreibkunst des Biographen, der dem schwierigen Handke emphatisch auf die Pelle rückt. 


Der Anhang des Buches hat eine Zeittafel, eine Auswahlbibliographie ausführliche Bildnachweise, auch ist es reich mit privaten Schwarzweiß-Fotos illustriert. Leider fehlt ein Werkverzeichnis Handkes. 


 

„Der Kampf gegen mich selber ist der große Kampf“. Peter Handke

 

Malte Herwig, geboren 1972 in Kassel, studierte Literatur, Geschichte und Politik in Mainz, Harvard und Oxford, wo er 2002 mit einer Arbeit über Thomas Mann promovierte. Für sein Buch über Thomas Mann, Bildungsbürger auf Abwegen, erhielt er 2004 den erstmals gestifteten Thomas-Mann-Förderpreis. 2010 erschien Meister der Dämmerung, eine Biographie Peter Handkes. 2013 folgte Die Flakhelfer: Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden und 2015 Die Frau, die Nein sagt: Rebellin, Muse, Malerin - Françoise Gilot über ihr Leben mit und ohne Picasso. Malte Herwig lebt als Autor und Journalist in Hamburg.


Malte Herwig Meister der Dämmerung Peter Handke Eine Biographie 

(Aktualisierte und erweiterte Ausgabe PANTHEON 2020)

 

Pressestimmen

 

„Herwig weiß, den gewaltigen Stoff spannend zu bündeln, und formuliert glänzend“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

„In der nun vorliegenden aktualisierten Ausgabe seiner Handke-Biographie „Meister der Dämmerung“ zeichnet Malte Herwig erneut ein differenziertes Bild des Nobelpreisträgers, das weder ketzerisch ist, noch bloße Ehrerbietung. Es ist ein kluges Spiel der Fragen, zurückhaltend und von adäquater Sensibilität.“ (Welt kompakt)

Hörfunkinterview Peter Handke                         hr 2 Doppelkopf

Die Leonardo-Biographie bei CHBECK

Es wird immer seltener, „das schöne Buch“ in Händen zu halten. Kartonummantelte Schnell-Seller überschwemmen den Markt, Wegwerfbücher, die nicht den Weg ins ewige Bücherregal finden, haben sich beim Leser durchgesetzt, sie brauchen keinen Platz. Die electronic-Ware ist sowieso auf dem Vormarsch. Von den CLOUD-Büchern gar nicht erst zu reden. Da kommt vom CH-Beck-Verlag die Biographie von Volker Reinhardt über LEONARDO DA VINCI DAS AUGE DER WELT auf den Rezensenten-Tisch.


Was für ein Buch, was für ein haptisches Erlebnis, das Cover fokussiert auf einem da Vinci Porträt das Auge der „Dame mit dem Hermelin“. Die Goldlettern der Überschrift faszinieren. Der goldende Umschlagkarton adelt den beschriebenen Allroundkünstler des letzten Jahrtausends. Die Bebilderung ist drucktechnisch grandios, gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier.

 
Die technischen Zeichnungen Leonardo da Vincis sind groß genug abgedruckt, um die Einzelheiten mit dem Auge des Betrachters nachzuvollziehen. 


Ein wirkliches Lese- und Blättervergnügen dieses Buches. 
Zehntausende von Zeichnungen zeigen, was die Welt im Innersten zusammenhält und was menschliche Vorstellungskraft an Visionen hervorrufen kann, seien es nun Helikopter oder Unterseeboote, die Innenseite der menschlichen Körper oder die Außenseite der Natur. 
Apropos: Leonardo da Vinci war Außen-SEITER, der sah mit seinem Auge alles von einer anderen Seite als seine Zeitgenossen, auch als Anatom. 
Er galt schon zu Lebzeiten und bei alten Biographen als Außenseiter, als Verächter aller Werte, Normen und Regeln. Auch seine Malerei brach radikal mit Traditionen und Konventionen seiner Zeit. Mit neuen Maltechniken und Farben revolutionierte er die Malerei, kam jedoch zuweilen zeitlich mit der Lieferung verabredeter Werke ins Hintertreffen, wenn seine Schaffenskraft ihn selbst überrundete. 


Der Autor der Biographie verzichtet bewusst auf Hypothesen, Anekdoten und Stereotypen in der da-Vinci-biographischen Geschichtsschreibung. Volker Reinhardt zieht Textanalysen heran und finanzielle Hintergründe, um auf eine Art archäologische Wahrheitsfindung der Ausnahmeperson Leonardo da Vinci näher zu kommen. 


Ob Herkunft, Familie, frühe Prägungen, seine Zeit in Mailand, die späten Wanderjahre, die Schaffenszeit in Rom, die Suche Leonardos nach den Kräften der Natur, alle diese Buchkapitel ergeben ein immer klareres Bild des Rätsels da Vinci. 


Der üppige Buchanhang ist ausgezeichnet erarbeitet und fundiert mit einem gründlichen Verzeichnis der wichtigsten Gemälde versehen, eine Zeittafel und geographische Karte ist mit dabei, mit umfangreichen Anmerkungen und Literaturangaben versehen, mit Nachweis der Bildzitate und einem ausführlichen Personenregister ergänzt.
Der Historiker zieht im Schlusskapitel ein wichtiges Fazit über die Abwertung der Wortkultur: Sprache als Ausdruck von Individualität und moralischer Qualität werde heutzutage abgewertet, ja sogar der Lügenhaftigkeit verdächtigt.

 

Es zählt in diesen Zeiten mehr, was technisch machbar ist, trotzdem bleibt Leonardo da Vinci als Realität und Mysterium eine Quelle für Inspiration. Und dieses Buch wirkt durch Information ohne Manipulation.
Das ganze Buch ist Buchstabe für Buchstabe, Bild für Bild, Zeichnung für Zeichnung ein Beweis dafür und zugleich Quelle für weitere Inspirationen. 

 

Briefwechsel Hannah Arendt

Hannah Arendt: Wie ich einmal ohne dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen - Briefwechsel mit fünf Freundinnen


Hannah Arendt war eine fleißige Korrespondentin. Ihre Briefwechsel mit ihrem Heidelberger Doktorvater Karl Jaspers, mit Martin Heidegger, ihrem Ehemann Heinrich Blücher, mit Walter Benjamin oder Uwe Johnson sind längst veröffentlicht und von der Forschung intensiv rezipiert worden. Bislang war der Briefwechsel mit ihrer langjährigen Freundin Mary McCarthy als einziger mit einer weiblichen Korrespondentin ediert5 worden. Die beiden Arendt Forscherinnen Ingeborg Nordemann und Ursula Ludz haben jetzt gleich fünf weitere Korrespondenzen mit Freundinnen herausgegeben und kenntnisreich kommentiert. Für das gesamte umfassende Briefwerk der 1906 in Hannover geborenen, in Königsberg aufgewachsenen, vor den Nazis über Paris in die USA geflohenen und 1975 in Manhattan gestorbenen Denkerin gilt, was die Herausgeberinnen in ihrem Vorwort schreiben: „Hannah Arendts hinterlassene Briefe mit Freunden und Freundinnen führen mitten in die Gedankenwelt der politischen Philosophin, aber in ihrer unvoraussehbaren dialogischen Dynamik auch über sie hinaus.“ Wer waren die jetzt als Korrespondentinnen öffentlich herausgehobenen Frauen?


Anne Weil-Mendelsohn war Hannah Arendts „beste Freundin seit ich 14 Jahre alt bin“. Sie kannten sich als Schülerinnen aus Königsberg, studierten beide unabhängig voneinander Philosophie - Anne Promovierte bei Ernst Cassirer – und näherten sich mit ihren Ehemännern in der Pariser Emigration wieder. Der Briefwechsel setzt wohl erst in den USA ein; erhalten sind nur die Briefe von Anne Weil. Sie wurde nach dem Tod ihrer Freundin eine wichtige Quelle für die maßgebliche Arendt-Biografie von Young-Bruel. Leitmotiv der Freundschaft und der Korrespondenz blieb ein frühes Buchgeschenk Annes an Hannah, ein Buch von und über Rahel Varnhagen.
Die Freundschaft mit der schon 1950 gestorbenen Hilde Fränkel dauerte nur wenige Jahre. Hannah Arendt sprach von einer „erotischen Genialität“ ihrer Freundin, von einer „Intimität“ und einem „Glück“, das „umso größer ist, weil sie keine Intellektuelle“ sei. Die Korrespondenz führte oft über den Atlantik hinweg, wenn Hilde in New York blieb und Hannah auf Europareise war. Eine Postkarte aus einem Heidelberger Gasthaus vom Dezember 1949 macht den Anfang. Im Februar 1950 schreibt Arendt an die Freundin: „Über Deutschland könnte man Bände schreiben…Die Nazis (genannt Mitläufer) ziehen gerade jetzt wieder in alle ihre alten Stellen, gebärden sich dabei, als ob sie ein selbstverständliches Recht auf alle Stellen hätten. In Heidelberg sagte man mir gerade, dass man unter politisch Verfolgten, für deren Rehabilitierung sich alle Welt einsetzt, nur noch Nazis versteht.“ Anlässlich eines Besuchs von Hannah bei Heidegger schreibt der ein kleines Gedicht „für die Freundin der Freundin“…


Charlotte Beradt war die Dritte im Bunde einer nicht ganz aufgehenden „ménage trois“ zwischen ihr, Hannah Arendt und deren Ehemann Heinrich Blücher. Sie hatten sich Anfang der 1940er Jahre in New York kennengelernt. Manche Irritation stellte sich im Laufe der Korrespondenz ein. Besonders drastisch, als sich Hannah Arendt bei ihrem Ehemann nach der Anrede „Liebster“ darüber beschwert, dass er  vergessen hatte, ihr in Genf zum Geburtstag zu gratulieren. „Dies habe ich die Absicht, Dir bis an unser seliges Ende unter die Nase zu reiben. Immerhin, falls Du es vergessen hast, ich bin jetzt 50 Jahre.“ Und sie vergisst nicht, ihrem abgelenkten Ehemann nach New York zu schreiben, dass ihr „Jaspers, per Eilboten, damit es mich auch ja am Sonntag erreicht“, geschrieben hat.


Rose Feitelson war Freundin und Übersetzerin einiger Arbeiten von Hannah Arendt ins Englische. Sie war keine Emigrantin, sondern in New York geborene Jüdin, die erst durch die Bekanntschaft mit Hannah Arendt in Kontakt zu einer außerjüdischen Lebenswelt kam. Ihr Briefwechsel zwischen 1952 und 1963 betrifft politische Inhalte, besonders zu Arendts Berichterstattung über den Jerusalemer Eichmann-Prozess und deren Rezeption in den USA.


Schließlich Helene (Helen) Wolff, die überlebende Gattin des legendären Verlegers Kurt Wolff, dessen Werk sie nach dessen Tod fortsetzte. Hier geht es natürlich um verlegerische, editorische Fragen. Die Korrespondenz wendet sich erst spät vom „Sie“ zum „Du“ und enthält aufschlussreiche Querverbindungen etwa zu Günter Grass oder Uwe Johnson. Es geht um die von Arendt aus einer freundschaftlichen Distanz mitbetreute amerikanische Jaspers-Ausgabe sowie die englische Übersetzung wichtiger Texte Walter Benjamins. Ihrem Briefwechsel ist der Titel der gesamten Ausgabe dieser fünf Korrespondenzen entnommen.


Für alle fünf Briefwechsel gilt das typische Arendt-Wort aus ihrem Denktagebuch: „Freundschaft ist eine eminent republikanische Tugend“!

 
Harald Loch


Hannah Arendt: Wie ich einmal ohne dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen - Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff
Herausgegeben von Ingeborg Nordmann und Ursula Ludz
Piper, München 2017   678 Seiten   38 Euro

 

Benjamin - der Unvollendete

Das Neue und das Immergleiche!  Der 1892 in Berlin geborene Walter Benjamin interessierte sich zeitlebens für das Verhältnis zwischen beiden geschichtlichen Wundern. Es ist nicht die gleiche Differenz wie die zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen sondern die Grundspannung der geschichtlichen Zeit. In ihr lebte der deutsch-jüdische Philosoph, Schriftsteller und Kritiker nur bis zum 26.9.1940, als er sein Leben auf der Flucht in den Pyrenäen selbst beendete. Lorenz Jäger hat diesem „Leben eines Unvollendeten“, wie der Untertitel lautet, jetzt eine Biografie gewidmet, die auch andere Spannungen thematisiert: Benjamin wurde in eine assimilierte jüdische bürgerliche Familie geboren zu einer Zeit, da Assimilation und auch Bürgerlichkeit für ihn nicht mehr zur Debatte standen.

 

Mit Gershom Scholem früh befreundet, dem er – betrachtet man Benjamins Ende – leider nicht nach Israel folgte, diskutierte er Judentum ganz anders. Mit metaphysischen Ansätzen begann seine eher „bürgerliche“ Philosophie, aus der er bald einen „Materialismus der Dinge“ entwickelte. Seinen Marxismus schulte er – dann schon im Pariser Exil – in Gesprächen mit Brecht. Die ihm eigentlich gemäße politische Haltung eines Antistalinisten, ohne, wie Manès Sperber oder Arthur Koestler zum Häretiker zu werden, konnte er für sein Leben nicht mehr ausformulieren, weil er dazu keine Zeit mehr hatte.
Wer die sehr konservativ-kritische Adorno-Biografie Jägers kennt, ist gespannt, wie er es mit Benjamin hält. Die Erwartungen werden nicht enttäuscht.

 

Benjamins marxistische Grundfärbung kann seinem Biografen nicht gefallen – er nennt ihn wiederholt einen Bolschewisten. Den politischen Irritationen eines von den Nazis verfolgten deutschen Juden, der im Sozialismus und in der damals in Moskau vorherrschenden Macht dieser Todfeinde des Faschismus Rettung sah, dann aber nach dem Hitler-Stalin-Pakt und an der Schwäche des Westens verzweifeln musste, kann Jäger nur in der Attitude des – ex post - allwissenden Antikommunisten begegnen. Andererseits schätzt er die literarische Dimension in Benjamins Arbeiten: „Wenn Adornos Idiom unverkennbar manieriert anmutet, wofür die leichte Parodierbarkeit ein Beweis ist, so schrieb Benjamin in seinen besten Momenten ein klassisches Deutsch eigener Prägung, das oft geradezu klingt, als habe er diese vollendete Diktion allererst erfunden“. Jäger bewundert das „absolute Gehör für Prosa“, das Benjamin herausbildete.


„Das Leben eines Unvollendeten“, ist keine klassische Biografie. Sie ist zwar im Großen und Ganzen chronologisch. Trifft Jäger aber beim Nachzeichnen des Lebenslaufs auf Personen, die für Benjamin wichtig werden, flicht er kleine biografische Essays über sie ein. Das zeugt von Bildung und erzeugt Übersicht. Auf diese Weise begegnet der Leser Hannah Arendt, die in erster Ehe mit Benjamins Cousin Günther Stern, später Günther Anders verheiratet war, Adorno und Kracauer, Brecht und Scholem, Franz Hessel, mit dem er Proust übersetzte und Hofmannsthal, seiner Cousine Gertrud Colmar und der Frau seines Bruders, Hilde Benjamin. Hauptsächlich aber folgt die Struktur des Buches den Werken Benjamins. Jäger liest sie aus seiner entgegengesetzten Perspektive manchmal ohne rechtes Bemühen um Verständnis. Oft aber ist gerade dieser kritische Blick notwendig und gewinnbringend. Sehr hübsch und spektakulär verschränkt Jäger Benjamins Auseinandersetzung mit Goethes „Wahlverwandtschaften“ mit dessen persönlichen Erlebnis der – wie man es in der Welt der Konzerne nennen würde - „Überkreuzverflechtung“ zweier Paare. An Widersprüchen ist das Leben Walter Benjamins reich genug, um seinem routinierten Biografen Stoff für überraschende Momentaufnahmen zu bieten: Der letzte erhaltene Briefwechsel Benjamins, der nicht besonders ansehnlich war, aber auf Frauen anziehend wirken konnte, dieser letzte Briefwechsel erfolgte mit einer Prostituierten. Und als er aus dem Leben geschieden war, fanden die spanischen Behörden bei ihm einen Brief an einen Dominikanermönch. Folglich wurde dieser deutsche Jude mit einem katholischen Requiem ins Paradies verabschiedet. Insgesamt entsteht so ein wenn auch nicht liebevoll-empathisches aber doch voller Respekt und manchmal auch Bewunderung gezeichnetes, sehr lebendiges und  inhaltsreiches Porträt dieses immer wieder neu zu entdeckenden deutsch-jüdischen Denkers.


Harald Loch
 
Lorenz Jäger: 
Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten
Rowohlt Berlin, 2017   398 Seiten, zahlr. Abb.  23,99 Euro

 

Der ROSEN-Kanzler aus dem Rheintal

Was gibt es Neues zu Konrad Adenauer? Es kommt darauf an, für wen. Die Älteren werden in der aktuellen Biografie des im vergangenen Jahr verstorbenen Publizisten und Filmemachers Werner Biermann den Aufstieg der jungen Bundesrepublik und ihre frühen Sünden nachlesen. Die Jüngeren werden staunen und versucht sein, Parallelen zu heute zu ziehen. In keiner der früheren Biografien stand etwas über das den Weltfrieden wahrende informelle agreement zwischen Kennedy und Chruschtschow über die amerikanische Duldung des Baus der Berliner Mauer. Der in filmischer Schnitttechnik geübte Biograf geht bis zu den Großeltern zurück, um die einfache Herkunft, Armut und Sparsamkeit und die nicht selbstverständliche Mischung aus katholischem Christentum und preußischem Pflichtbewusstsein gegenüber dem Staat schon aus den rheinischen Wurzeln zu erklären.

 

Manch strenge Seite in Adenauers Persönlichkeit wird dadurch verständlicher. Der Biograf versucht – manchmal fast zu auffällig – Licht und Schatten dieser Persönlichkeit und ihrer Politik ausgewogen darzustellen, als müsste sein Text das Nadelöhr des öffentlich-rechtlichen Rundfunks passieren. Trotzdem liest sich seine Biografie dank des eindrucksvollen Laufs des langen Lebens Adenauers und wegen des Verzichts auf publizistische Extravaganzen als ein Beispiel zeitgeschichtlicher Spannungsliteratur. Ein großer Bilderteil illustriert Leben und Politik und lässt den Leser an der wachsenden Familie Adenauers teilhaben. Er hatte mit seinen beiden früh verstorbenen Ehefrauen insgesamt sieben Kinder und eine wachsende Schar von Enkeln.

 

Die rheinische Kindheit und Jugend, Studium der Rechte, die Zeit des Referendariats und als Assessor sind durch Strenge und Sparsamkeit geprägt. Erst seine erste Ehe führt Adenauer in den Kreis der Wohlhabenden und Mächtigen Kölns ein. Damit beginnt sein bis dahin eher unwahrscheinlicher Aufstieg zum Oberbürgermeister von Köln. Seine persönlichen Beziehungen ermöglichten diese Karriere erst, der er sich dann aber vor allem in der schwierigen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg erstaunlich gewachsen zeigte. Schon als Beigeordneter erwarb er sich einen guten Ruf, erhielt Angebote auf das Bürgermeisteramt in Aachen, setzte aber auf Köln, der Stadt, der er mit personalpolitischer Strenge aber auch stadtplanerischer Weitsicht bleibende Impulse verlieh. Bemerkenswert war sein Erfolg auch beim damals noch möglichen Aushandeln der Beamtenbezüge, der ihn an die Spitze der Skala brachte.

 

In der Weimarer Zeit leitete er den Preußischen Staatsrat in Berlin, in dem die Regionen des riesigen Bundesstaates Preußen vertreten waren. Eine Reihe von Skandalen, auch wirtschaftliche Fehlspekulationen während der Weltwirtschaftskrise brachte er mit Hilfe wohlhabender Freunde nahezu unbemerkt hinter sich. 1932 eröffnete er die auf seine Initiative gebaute erste deutsche Autobahn zwischen Köln und Bonn, die kurz darauf von den Nazis „zurückgestuft“ wurde, um den Mythos von „Hitlers Autobahnen“ zu begründen. Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Machthaber war die Absetzung Adenauers als Oberbürgermeister von Köln.

 

Während der Nazizeit versteckte sich Hitler zeitweilig in einem Kloster in der Eifel, weil ihm Gefahr drohte. Gegen Ende des Krieges wurde verhaftet, auf abenteuerliche Weise „befreit“ und in seinem neuerlichen Versteck dann verraten und fast bis zum Eintreffen der Alliierten erneut eingesperrt. Ein Kommunist rettete ihm damals das Leben. Am Widerstand gegen Hitler hat er sich nicht beteiligt, aber immer mit Verachtung auf das Regime geblickt. Als tatsächlich „Unbelasteter“ vertrauten ihm die Alliierten und bald war er wieder Oberbürgermeister. Die englische Besatzungsmacht setzte ihn dann zum zweiten Mal ab. Seine Nähe zu französischen Besatzungsstellen war den Briten wohl nicht genehm. Adenauer hatte aber ohnehin einen weiteren Horizont im Blick als den vom Kölner Dom aus.

 

Er wurde schnell wichtiger Funktionsträger in der neugegründeten CDU, zunächst im Rheinland, dann in der britischen Zone und alles lief nach der Gründung der Bundesrepublik auf ihn zu, der dann auch ihr erster Bundeskanzler wurde. Auf dem Wege dahin musste Adenauer innerparteiliche Konkurrenten ausstechen, wie den Ministerpräsidenten von NRW Arnold, dem er vorwarf, ein zu „sozialistisches“ Programm zu vertreten. Im Ahlener Programm der CDU von 1947 standen noch entsprechende Passagen. Kurt Schumacher, der ebenso antikommunistische Rivale von der SPD, unterlag.

 

Dann erzählt Biermann die Geschichte der jungen Bundesrepublik am roten Faden der Biografie Adenauers. Am Anfang das Wirtschaftswunder, das mit dem Namen Ludwig Erhards verbunden wird, den der spätere Adenauer nicht als Nachfolger verhindern konnte („Die CDU ist doch keine Wirtschaftspartei“), die Westbindung, das Zurückstellen der Frage der Wiedervereinigung, die Wiederbewaffnung und die Dynamisierung der Altersrenten, der Kalte Krieg mit Adenauers unverwüstlichem Antikommunismus, die Wiedererlangung der Souveränität, die diversen Berlin-Krisen, die Spiegel-Affäre, Mauer - das sind nur einige der Stichworte, die in dieser Biografie plastisch zu Leben erweckt werden. Auch der „Muff“: kurz nach dem Krieg war sich Adenauer sicher, dass kein ehemaliges NSDAP-Mitglied wieder in den Staatsdienst aufgenommen werden dürfte.

 

Ein paar Jahre später ging es offenbar nicht ohne, nicht einmal mehr ohne ehemalige SS-Angehörige. Aber auch der Versuch, durch „Wiedergutmachung“ die Verantwortung für die Verbrechen am jüdischen Volk wenigstens auf diese zu übernehmen.

Die Aussöhnung mit Frankreich war eine Herzensangelegenheit und die wiederholten Begegnungen mit De Gaulle nehmen einen vornehmen Platz in der Darstellung ein. Die deutsch-französische Freundschaft ist eines der bleibenden Elemente von Adenauers Politik und scheint sogar als „nationalistische Achse“ zwischen Marine le Pen und Frauke Petry auf der antieuropäischen Ebene eine unbeabsichtigte Fortsetzung gefunden zu haben. De Gaulles und Adenauers Zweifel an der Zuverlässigkeit der USA und Großbritanniens erleben gerade eine Neuauflage. Als seriöser Biograf überlässt Biermann solche Gedanken aber dem auch nach über 600 Seiten „Adenauer“ keineswegs ermüdeten Leser.

Harald Loch

 

Werner Biermann:

Konrad Adenauer – Ein Jahrhundertleben

Rowohlt Berlin, 2017   656 Seiten  zahlr. Fotos  29,95 Euro

Fallada - was nun?

Zwischen allen Stühlen, zwischen Unterhaltung und Kunst, zwischen Vergessen und Neuentdeckung – Hans Fallada (1893 – 1947) ist die umfassende Biografie des Historikers und Journalisten André Uzulis gewidmet. Der Erfolgsautor des 1932 erschienenen Romans „Kleiner Mann – was nun?“ blieb auch mit seinen späteren Erfolgen „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ (1934) und „Wolf unter Wölfen“ (1937) auf der Überholspur in Zeiten, in denen andere Zeitgenossen das Land verlassen mussten.

 

Früher als andere hat er dann mit seinem erst vor wenigen Jahren in New York wieder aus der Vergessenheit gerissenen „Jeder stirbt für sich allein“ (1947) einen ersten antifaschistischen Roman in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geschrieben. Dazwischen gab es viel literarischen Leerlauf, Belangloses, Durchschnittliches. Das Leben dieses als Rudolf Ditzen in Greifswald geborenen Sohnes eines Reichsgerichtsrates verlief alles andere als geradlinig. Schon in seiner Jugend machte er mit einem inszenierten, halb gescheiterten, halb „erfolgreichen“ Doppelselbstmord eine traumatische Erfahrung. Sein „Nicht-zurechnungsfähig“ rette ihn vor dem Gefängnis und später auch vor dem Wehrdienst, bekam aber bald eine eigene Bedeutung: Alkohol und dann auch Morphium zerstörte ganze Lebensphasen des Rudolf Ditzen, der sich seit seinen ersten Veröffentlichungen Hans Fallada nannte.

 

Seine Familie hatte ihn beschworen, den Namen Ditzen nicht mit enthüllenden Geschichten zu beschädigen.

Die Biografie von Uzulis bildet das von Höhen und Abgründen gekennzeichnete Leben Falladas in einer gut recherchierten Offenheit ab. Sie ist weniger eine literaturgeschichtliche Werk- als eine leidensgeschichtliche Lebensbeschreibung des Autors, der seine besten Werke in rauschhafter Schreibekstase in kürzester Zeit niederschrieb und nach Fertigstellung eines Werks regelmäßig zusammenbrach. Er unterzog sich dann in Krankenhäusern und Sanatorien immer wieder Entzugsbehandlungen, die er unkritisch sich selbst gegenüber meist eigenverantwortlich abbrach. Oft war es Geldnot, die ihn wieder an den Schreibtisch zwang. Immer aber waren es die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen, aus denen er seine Sujets und die Einzelheiten seiner Erzählung gewann. Der „kleine Mann“ war sein typischer Protagonist und den hatte er immer wieder kennengelernt.

 

In seinen Werken entstand ein Realismus dieses Milieus, das seine Leser wiedererkannten. Sie fühlten sich verstanden von ihm. „Kleiner Mann – was nun?“ liest sich wie eine Quelle über die Befindlichkeit weiter Bevölkerungskreise in den letzten Jahren der Weimarer Republik und „Jeder stirbt für sich allein“ als einmaliges Dokument des Alltagslebens von einfachen Leuten, die Gegner der Nazis waren.

 

Uzulis verschweigt das Lavieren Falladas während der Nazizeit nicht. Er war ein unpolitischer Autor, kein Intellektueller sondern ein mit allen menschlichen Schwächen gezeichneter, halbangepasster Zeitgenosse, kein Sympathisant der Nazis aber auch keiner, „der ihnen die Stirn“ bot, ängstlich, innerlich zerrüttet und seinen Sternstunden in der Lage große Werke zu schaffen. Die private Seite seines Lebens, seine beiden Ehen, von „Seitensprüngen“ überschattet, das Verhältnis zu der Familie, der er entstammte wie zu der, die er gründete, seine Gefängnisaufenthalte wie seine Freundschaften zu Ernst Rowohlt oder zu Johannes R. Becher, sein im Mecklenburgischen Carwitz entwickelter Gefallen an der Bienenzucht und seine hilflose, ihn völlig überfordernde Rolle als von der Sowjetischen Militäradministration eingesetzter Bürgermeister – alles erzählt sein Biograf spannend und mit kritischer Empathie.

 

Harald Loch

 

André Uzulis: Fallada  -  Biografie

Steffen Verlag, Berlin 2017   437 Seiten   26,95 Euro