Bücher, die Sie lesen sollten

Sind nur Neuerscheinungen interessant? Nein! Viele Bücher geraten zu schnell in Vergessenheit oder erreichen keine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Bücher, die einem wieder in die Hände fallen. Bücher, die man endlich zu Ende gelesen hat. Bücher, die wichtig sind und es verdienen gelesen zu werden...

Peter Weiss - der heimatlose Weltbürger

Peter Weiss ist der „Nirgendwo-Zu-Hause-Autor“ und der „Ich verzweifele an mir selbst-Mensch“. Der Autor wurde am 8. November 1916 in Berlin geboren. 1935 flüchtet seine Familie vor den Nazis nach England, sie zieht 1938 weiter nach Schweden. Weiss versucht sich zunächst als Maler. Er verliert seine Schwester bei einem Unfall, seine Mutter zerstört seine Bilder. Traumatische Erlebnisse. 


Erst Unseld entdeckt ihn als Autor für den Suhrkamp Verlag. Weltweite Anerkennung bekam der von Selbstzweifeln zerrissene Autor erst für seine Theaterstücke "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats", „Die Ermittlung“ und „Viet Nam Diskurs“, die ab 1965 die europäischen Bühnen mit Publikumserfolgen eroberten. 1982 kurz vor seinem Tod bekommt er den renommierten Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Seine "Ästhetik des Widerstands" gilt als Höhepunkt deutscher Prosa nach 1945. (Helmut Böttiger). Als bildender Künstler und experimentierender Filmemacher blieb ihm aber der breite Erfolg versagt. 


Er wurde mit seinen Theaterstücken jedoch für ihre aufklärerische Wucht gefeiert, seine marxistische Parteilichkeit ließ ihn jedoch bald aus der Zeit fallen und in Vergessenheit geraten. 
Mit ihrer zum 100ten Todestag erschienen Biografie holt die ehemalige STERN- Journalistin Birgit Lahann Peter Weiss in die Gegenwart zurück. Es ist eine einfühlsame, von journalistischen Methoden und Zugängen und illustrierter Magazin-Sprache geprägte Biographie, die viel auf persönlicher Ebene abhandelt und sich süffig liest. 
Wir erfahren von den Träumen und Traumata von Peter Weiss, wir blättern zwischen Kinderfotos und Familienporträts hin und her, Weiss besucht Hermann Hesse, und hält diesen Kontakt als „Seelen-Labsal“ aufrecht.


Lahann zeigt die Bilder von Peter Weiss, lotet Psychoanalytisches aus, bringt uns den Inhalt seiner Theaterstücke nahe. Und wir begleiten auch die Zeitgenossen. Walter Jens fasst in der Rede zur Verleihung des Büchnerpreises das Urteil über Weiss zusammen: "Geliebt haben ihn wenige, gefürchtet manche, respektiert alle". Zuwenig Zuneigung für einen großen Autor. Birgit Lahann hilft uns dabei, eine anders geartete Haltung zu Peter Weiss zu bekommen.

 

In Memoriam: Michael Ballhaus

Titel Michael Ballhaus (mit Claudius Seidl) Bilder im Kopf Die Geschichte meines Lebens DVA


Autor Michael Ballhaus, geboren 1935, ist einer der berühmtesten Vertreter seines Fachs. In Deutschland werden Künstler wie er immer noch leicht despektierlich »Kameramänner« genannt, obwohl sie eigentlich »Bildregisseure« heißen müssten. Ballhaus stand vierzig Jahre hinter der Kamera und hat achtzig Kinofilme gedreht, davon allein fünfzehn mit Rainer Werner Fassbinder. 


Claudius Seidl wurde 1959 in Würzburg geboren. Seit 1983 verfasste er Filmkritiken, erst für die „Süddeutsche Zeitung“, dann auch für „Die Zeit“ und „Tempo“. Von 1990 bis 1996 war Claudius Seidl Kulturredakteur und Ressortchef beim SPIEGEL. Von 1996 bis 2001 war er stellvertretender Feuilletonchef der „Süddeutschen Zeitung“. Seit 2001 ist Seidl Feuilletonchef der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.


Gestaltung 320 Seiten, also klassisches Biographien-Format, von der Buchlänge her, Hardcover, 20 Kapitel, Prolog, Epilog, Personen- und Bildregister, Fotos im Text integriert, schwarz-weiß


Cover farbiges Halbporträt, Ballhaus trägt farbige Hosenträger


Zitat „Man erinnert sich anders, wenn man, was geschehen ist, vor allem mit den Augen erfahren hat.“ 


Meinung Also, ich erinnere mich augenblicklich: Das vorstehende Zitat kann ich bestätigen, denn ich habe den Meister der Kamera, den „van Gogh“ hinter der Linse, bei der Arbeit beobachten können. Mit Fassbinder hat er 15 Filme gedreht, bei den Dreharbeiten durfte ich als junger Reporter des Bayerischen Rundfunks in den Studios der BAVARIA in München bei Dreharbeiten dabei sein. Schon damals faszinierte mich die unendliche „Beweglichkeit“ des Kameramanns, der in der Szene selbst das Entstehen des Films mit-ge-lebt hat. Ballhaus, der im April 2017 verstorben ist, galt als einfühlsamer, effizienter, mitdenkender Kameramann, der immer eine Einstellung zur Einstellung hatte. 
Als ich Fassbinder das Mikrofon vor den mürrischen Mund halte und nach dem gerade entstehenden Film „Ehe der Maria Braun“ frage, bellt der eigenwillige Regisseur grundlos los wie ein Terrier, spuckt die Worte geradezu aus, mies gelaunt, bebt irgendwie, warum eigentlich, und ist genau der Mensch, wie ihn Ballhaus als Chefkameramann von Fassbinder im Buch eindringlich beschreibt. 


Ballhaus hat auch eine eigene Filmsprache der Kamera entwickelt, gemeinsam mit den großen Regisseuren, mit denen er neben Fassbinder gefilmt hat. Mit Scorsese, Schlöndorff, Coppola, Wolfgang Petersen, Lilienthal und Geißendörfer. Er hatte Robert Redford vor der Kamera, Michelle Pfeiffer und Dustin Hoffmann.

 
Unnachahmlich sein „Ballhaus-Kreisel“: Die Kamera in einer Rundfahrt um 360 Grad um den Schauspieler herumzudrehen, dabei entsteht ein Bilderstrudel. 


Ballhaus entwickelt immer für den Film eine eigene typische Handschrift, er sammelt die Bilder im Kopf, möchte Bildausschnitte, Kamerafahrten, Positionen der Kamera intuitiv entstehen lassen. Er unterwirft sich dem Skandalregisseur Fassbinder und seinen Filmbedingungen, und doch beharrt er auch auf Eigenständigkeit, Mitglied der Fassbinder „ergebenen“ Schauspielertruppe wird Ballhaus nicht. Fassbinder demonstriert Macht, übt sie bedenkenlos aus, schikaniert, enerviert. 
Die Filmbudgets sind damals knapp, und Ballhaus gilt als effizienter Regisseur, der schnell arbeitet und die Drehpläne einhält. Ballhaus über Fassbinder: „So war er, ein großer eifersüchtiger Liebender“. 
Ballhaus ist im Buch, mit der Hilfe von Claudius Seidl, immer nah dran an den Personen, eben nicht nur als Kameramann, sondern auch als Buchautor. 


Wir lernen seine Filmpartner und ihn selbst kennen, die Eigenheiten der Stars, ihre Normalitäten, ihre Absonderlichkeiten. Ballhaus nimmt uns mit zum Set, wir erfahren auch Privates, über die Stars (Coppola kocht gute Pasta) über seinen Sohn, der ihm assistiert, über seine Frau, die auch Schauspielerin ist, aber ihm zugunsten auf die große eigene Karriere verzichtet hat. 


Ballhaus hat Filmgeschichte geschrieben: Unvergessen unter anderen der Mafia-Film „Goodfellas“ von Scorsese und „Gangs of New York“. 
Schade, dass das Filmregister unter dem Personenregister alphabetisch verschwindet, in einem Extrakapitel wäre ein Werkverzeichnis übersichtlicher gewesen. 


Wer sich für Filmsprache interessiert und das flimmernde Medium, für Regisseure und Stars, für Filmgeschichte, der muss dieses Buch nochmals in die Hand nehmen, auch wenn es schon vor drei Jahren erschienen ist. Der Tod des Meisterkameramanns lässt Erinnerungen wieder wach werden. Deutsche und europäische Filmpreise hat er genug eingeheimst, den Oscar bekam er nie. Akademien können sich halt auch irren.

 

Presse   »Literatur vermag [vieles], was das Kino nicht kann. Nicht einmal dann, wenn ein Meister wie Michael Ballhaus die Kamera führt.« Bild.de, 08.03.2014
 

Comeback für Krimis "noir"

 

Eberhard Nembach Gipsy Blues polar Verlag

 

 

Ich habe als Journalist auch fast alle Länder bereist, die in diesem „Krimi noir“ vorkommen und finde das Landestypische, die politischen, die sozialen Gegebenheiten in diesem spannungsgeladenen Krimi gut beschrieben. Das schafft Leseridentifikation.

Die Sprache packt, sie ist konkret, sie beschreibt, sie stellt uns Figuren, Landschaften, Ländertypisches in einem Osteuropa-Szenario vor, das in der europamüden Gegenwart wieder interessierte Leser finden sollte.

 

Ich habe diese Krimireihe zugegeben verspätet entdeckt, finde aber die Wiederbelebungsversuche des Schwarzen in der Literatur sehr lobens- und unterstützenswert.

 

In den 60er Jahren haben wie jeden Schuss von Jean Gabin im Schwarzweißkino verfolgt, Simenon entdeckt, Woollrich, Chandler, Hammett verschlungen, die neuen Franzosen des noir-Krimis gelesen, die Schweden-vertreter Sjöwall-Walöö, später Mankell und andere. Und warum haben wir diese Krimis geliebt: weil sie gegen den Strom schwimmen, nicht mit ihm, wenngleich mancher Autor selbst zum mainstream geworden ist. Inzwischen!

 

Aber nun zum Buch: Nembach gelingt ein spannender Plot: Zoran Đinđić, der serbische Ministerpräsident ist ermordet worden. Ein Tageszeitungsjournalist will die Hintergründe recherchieren, gerät jedoch an die Organmafia, die Kinder als Organlieferanten missbraucht. Der Autor führt uns in seinem schwarzen „Roadmovie“ nach Rumänien, Moldawien, Kroatien, Bosnien, Albanien, Montenegro und Kosovo.

 

Das Organ wird zur Ware, die Kinder zu Schlachtvieh, die Handelnden arbeiten des Geldes wegen ohne Skrupel am sogenannten medizinischen Fortschritt. Ist es legitim Organe zu handeln, zu transplantieren, um in der medizinische-technischen Welt auch Organe zukünftig zu züchten, herstellen zu können. Wo ist da die Grenze zwischen Gut und Böse. Nembach wirft aber moralische Fragen auf, ohne selbst moralisierend zu wirken.

 

Nembach treibt mit seiner klaren Journalistensprache Handlung und Dialoge schnell voran, etwas verwirrend, dass die Kapiteleinteilung beim Kapitelwechsel zuweilen Handlung und Dialoge weiterlaufen lässt, die Kapitelüberschrift also momentan ein Bruch im Text darstellt und mitten im nachfolgenden absatzweise jedoch wieder schnelle Schauplatz-  und Themenwechsel erfolgen. Das gibt eine eigenartige Break-Dynamik.

 

Die psychologischen Dimensionen seiner Figuren sind in diesem schwarz-weiß-Schema etwas unterbelichtet. Etwas mehr Charakteristik in diesem Erstlingskrimi hätten wir gerne gelesen und hoffen darauf im zweiten Buch. Gipsy Blues hat Sprach-Melodie, stakkatohaften Rhythmus, ein rasantes Tempo und einen wirklich schwarzen Grundton. 

 

 

PRESSESTIMMEN

Die Verlagsphilosophie (Leipziger Volkszeitung)

 

Der Name sei Programm, erklärte Wolfgang Franßen, als er am Rande der Leipziger Buchmesse seinen neu gegründeten polar-Verlag vorstellte. Wer jetzt an Eisbären, Schlittenhunde, Gletscher und Iglus denkt, ist auf der falschen Fährte. “Polar” kommt aus dem französischen und steht dort für besondere Krimis: brutal, sozialkritisch, mit Außenseitern in den Rollen von Gut und Böse.

 

Dieses Genre, das seine Hochzeit in den 50er und 60er Jahren in Frankreich hatte, will Franßen, einst Theaterregisseur und bei “krimi-couch.de” und “belletristik-couch.de” im Internet aktiv, neu beleben.

 

 

Ein rasant geschriebener Kriminalroman, mit viel Spannung und einer brutal realistischen Sprache. Die Handlungsübergänge sind schnell. Die Protagonisten wirken sehr authentisch, Geld ist der einzige Wert-Maßstab, der einzelne Mensch zählt nicht viel!

Bedauerlicherweise haben sich die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in diesem Teil Europas nur unwesentlich geändert, ähnlich wie wir es gerade jetzt auch wieder in der Ukraine sehen können.

Jörg Völker (Krimi-Kiosk)

 

 

Politisch und soziologisch anspruchsvoller Krimi, der Konsequenzen aus dem Jugoslawienkrieg deutlich macht. (X-Zine)

Manche Bücher altern nicht

Christian Graf von Krockow: Winston Churchill

 

Manche Bücher altern nicht. Was zeichnet sie aus? Nehmen wir die Neuauflage der Churchill-Biographie von Christian Graf von Krockow. Sie ist vor 15 Jahren geschrieben worden, ihr Autor ist im Jahre 2002 gestorben. Die Elemente seines Werterhalts sind vielfältig. Zunächst einmal ihr „Gegenstand“, das Leben des Ausnahmepolitikers Churchill. Sein Geburtstag jährt sich am 30. November zum 140. Mal, er starb am 24. Januar vor 50 Jahren. Er hat nicht nur die britische Politik des 20. Jahrhunderts geprägt sondern in zwei Weltkriegen an entscheidender Stelle Verantwortung getragen. Zu dieser von der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung hinreichend gewürdigten Bedeutung tritt eine farbige Persönlichkeit, deren Individualität, Skurrilität und Willensstärke dem Biographen eine ideale Vorlage für eine farbige Lebenserzählung bietet.

 

Krockow ist – das macht die Zeitlosigkeit seines Buches aus – ein guter Erzähler, der sich zwar auf Quellen und wissenschaftliche Vorarbeiten stützt, sich aber nie in professoraler Gelehrsamkeit verliert. Er bedient sich bei seiner Darstellung der Kunst des Literaturnobelpreisträgers von 1953, nämlich der von Winston Churchill selbst. Der war selbst ein begnadeter Stilist, hat viel über sich  und sein Leben geschrieben und verleiht mit seiner eigenen Stimme der Biographie Krockows, der ihn häufig zitiert, eine authentische Lebendigkeit. Der lässt Churchill, der zwischen den Kriegen von einer konservativen Studentenvereinigung in Oxford zu einem Vortrag eingeladen war, wie folgt zu Worte kommen: „Eine der Fragen hieß: ‘Glauben Sie, dass Deutschland die Schuld am letzten Krieg trägt?‘ Ich antwortete: ‚Ja, natürlich.‘ Daraufhin erhob sich ein junger deutscher Rhodes-Stipendiat und erklärte: ‚Nach dieser Beleidigung meines Landes kann ich hier nicht länger bleiben.‘ Er verließ den Raum – vom donnernden Beifall begleitet. Ich selbst dachte, dass das ein prächtiger junger Mann sei. Zwei Jahre später fand man heraus, dass er jüdische Vorfahren hatte. Das beendete seine Laufbahn in Deutschland.“

In Cambridge bei Christopher Clark würde die Antwort auf die Schuldfrage am Ersten Weltkrieg anders ausfallen.

 

Die Geschichtsschreibung ist nicht nur über Churchill sondern auch über die Urteilskraft seines Biographen hinweggegangen. Beide vereint eine konservative Grundhaltung. Die von Churchill war temperamentvoller, rebellischer als die Krockows, der der bizarren Individualität des Staatsmannes zuweilen ein bisschen leidenschaftslos begegnet. Zum Ausgleich zitiert er Churchill ausgiebig – mit großem Gewinn für die Biographie, die insofern auch ein Selbstporträt des Porträtierten ist. Trotz dieser Einschränkungen gelingt Krockow etwas, was den vom wissenschaftlichen historischen Sachbuch vielleicht ermatteten Leser erfreut: Der Untertitel des Buches „eine Biographie des 20. Jahrhunderts“ trifft zu. Entlang des Lebenslaufs einer der großen Gestalten dieses Jahrhunderts liest sich dessen Geschichte leichter, auf eine nicht unsympathische Weise unterhaltsamer.

 

Harald Loch

 

Christian Graf von Krockow: Winston Churchill

Eine Biographie des 20. Jahrhunderts

Hoffmann und Campe, Hamburg 2014   384 Seiten   25 Euro

 

Russland - die lupenreine Demokratie

Aus dem Vorwort - erschienen 2008!

 

Norbert Schreiber Russland

Der kaukasische Teufelskreis oder die lupenreine Demokratie

 

 Putin: „Ja, natürlich bin ich ein echter Demokrat.“

 

 


 

 

Auf dem Titelbild des amerikanischen Nachrichtenmagazins TIME glänzt Wladimir Wladimirowitsch Putin als „Mann des Jahres 2007“- pr-prächtig und global gekürt. Aber was wird aus dem Hoffnungsträger des Westens 2008? Wird es ihm gelingen, in seiner neu einzunehmenden Rolle noch einmal auf das Titelbild der politischen Magazine zu kommen? Nun ist die altbekannte Kreml-Astrologie wieder gefragt, die jene Frage hin- und herwälzt, wie sie einst der Philosoph Karl Jaspers für Deutschland formuliert hat und die in unserem Fall lautet: Wohin treibt Russland? Eine russische Redewendung behauptet: „Die Vergangenheit ist nicht vorherzusagen!“ Die Ideologen an der Macht bestimmten jeweils die Interpretationsmuster dafür. Doch wie steht es um die Vorhersage der Zukunft Russlands? Entwickelt sich die liberale Marktwirtschaft mit pluralistischen Elementen zu einer wirklichen und damit nicht gelenkten Demokratie? Oder wächst vielmehr die vertikale starke Staatskomponente krakenhaft in einem auch weiterhin autokratischen, autoritären, ja vielleicht sogar wieder diktatorischen politischen System - erneut gefangen in den alten Denkmustern früherer Regime?

 

Mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Disziplinierung der regionalen Politikinstanzen und der Rekrutierung von Karriere-Beamten aus Militär und Geheimdiensten wurden von Putin die Weichen in Richtung Zentralisierung und Militarisierung des Systems bereits gestellt (Margareta Mommsen). Die Frage aber bleibt: Wer wird Russland bei einem Erstarken des neuen Patriotismus und Nationalismus in eine demokratische Zukunft führen?

 

Putin tarnt sich noch in der Puppe - in welcher politischen Rolle wird er aus ihr heraussteigen? Der Journalist Witali Tretjakow hat die „Matrjoschka“-Figur[1] bereits in Händen, als er weitsichtig formulierte: „Schaut man auf ihn von einer Seite her, so ist er ein Konservativer, schaut man auf ihn von der anderen Seite her, so ist er ein Liberaler, dreht man ihn, ist er ein Bolschewik, und dreht man ihn erneut, ist er ein Anti-Kommunist.“ (Margareta Mommsen/Angelika Nußberger „Das System Putin“)

 

Der Historiker Afanasjew weist zudem darauf hin, dass in Russland „mehrere Wirklichkeiten“ existieren, und der Schriftsteller Danil Granin nennt sein Russland das „Land der permanenten Lüge.“

 

Ein solcher Verwandlungskünstler als Politiker ist also eine vielseitig verwendbare Allzweckwaffe - auch auf internationalem Parkett...

 

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Die Reporterlegende über Berlin

Berliner Reportagen aus dem Café Größenwahn

 

Der »Rasende Reporter« war zwischen den Sommern 1913 und 1914 Stammgast Im Café Größenwahn am Kurfürstendamm. Dort schrieb er  24 Reportagen und andere Texte, die der Verlag Wagenbach in diesem Buch versammelt hat. Die Themen sind bunt: »Wie ich eine Frau suchte«, »Rache der Bohème«, »Haus zu den veränderten Nasen«, »Professor Einstein stellt die Vorlesung ein«, schon die Titel verraten farbige Porträts aus dem Alltag in Berlin. Verleger Wagenbach hat Kisch in der rotgebundenen SALTO-Reihe ein Buchdenkmal gesetzt mit Fotos und Zeichnungen aus dem Berlin jener Jahre. Für alle Leser, die sich für Kisch, packende Reportagen oder aber das Berlin der Weimarer Republik interessieren .

 

Egon Erwin Kisch: Aus dem Café Größenwahn. Berliner Reportagen. Verlag Klaus Wagenbach Berlin. 140 S. Leinen, 15,90 €. 2013 Band 195 der SALTO-Reihe.