Bücher über Europa

Auch wenn bei vielen Europa als Krisenphänomen gesehen wird, ich bleibe dabei, ohne Europa haben wir keine Zukunft

Geschichtspanorama Europa

Wenn eine „Sternstunde der Historiographie“ (Literary Review) erst 15 Jahre nach dem englischen Original in einer - allerdings sehr guten – deutschen Übersetzung erscheint, dann fragt man nicht nach den Gründen für die Verspätung, sondern freut sich über die großartige Darstellung Tim Blannings. In „Glanz und Größe“ entwickelt der emeritierte Cambridge-Professor den „Aufbruch Europas“ in der Zeit zwischen 1648 und 1815. Die Eckdaten sind gut gewählt: am Anfang steht der „Westfälische Frieden“, der den Dreißigjährigen Krieg beendete und – eigentlich – eine europäische Friedensordnung einleiten sollte. Am Ende steht der „Wiener Kongress“, mit dem die Erdbeben der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege ihr Ende fanden und in die ruhigere und langweiligere Epoche der Restauration und der Reaktion überleiteten.

 

In dem von Blanning gewählten Ausschnitt der „Frühen Neuzeit“ veränderte sich das politische und gesellschaftliche, das kulturelle und das ökonomische Gesicht Europas grundlegend. In seiner Meistererzählung lässt der Autor keinen Dieser Aspekte aus. Geschichtsschreibung entwickelt sich vom Detail zum Überblick, von der treffenden Anekdote zum Großen und Ganzen, vom zeitgenössischen Zitat zum Aufrufen der eigenen Urteilskraft. Genau so geht Blanning vor. Seine Darstellung erweckt den Eindruck, dass er alles über die Epoche weiß und davon das Erforderliche ausgewählt hat, um es seinem Publikum in „Glanz und Größe“ darzubieten, um den Titel auf sein eigenes Werk zu verwenden. Dazu hat er das Buch in vier inhaltliche Teile gegliedert. In jedem einzelnen geht er im Wesentlichen chronologisch vor, so dass die Leserin, der Leser zuweilen an eine Stelle gelangt, die er schon aus einem anderen Blickwinkel kennt. Das ist nie redundant, sondern dient dem besseren Verständnis.


Den ersten Teil „Leben und Sterben“ untergliedert Blanning in vier Kapitel, von den eines dem sich rasant verändernden Verkehr und der Kommunikation gewidmet ist. Dann schreibt er über die Bevölkerungsentwicklung, Hungersnöte, Seuchen und Migrationen, vor allem vom Land in die sich entwickelnden Städte. Das Fortschreiten von Handel und Produktion beschreibt er und wendet sich vehement gegen den Begriff der „industriellen Revolution“ gegen Ende des Zeitraums. Er zeigt im Detail, wie sich, auf einzelnen Schritten aufbauend, so etwas wie Industrie allmählich entwickeln konnte und warum das in England zuerst geschah. Überhaupt: Die Länder Europas nimmt der Engländer Blanning je nach Bedeutung der Ereignisse in den Blick – gut gewichtet, neutral und fair. Wichtiger als Handel und Industrie war für den Menschen und auch in der Politik die Landwirtschaft. Selten behandelt das eine Geschichtsschreibung so detailliert wir hier. Z.B.: Warum und unter welchen Schwierigkeiten wurde die ertragsmindernde Dreifelderwirtschaft aufgegeben?


Der zweite Teil seiner Darstellung ist „Macht“ überschrieben und erzählt von Herrschern und Eliten, von Reform und Revolution. Hier sind besonders die Vergleiche zwischen England und Frankreich gelungen, aus denen sich ergibt, dass die frühe englische Verfassung eine kontinuierliche Entwicklung des Landes nach Cromwell förderte, das Fehlen einer solchen in Frankreich die Revolution dort zwangsläufig zur Revolution führen musste. Besonders interessant ist der dritte Teil des Buches, in dem es um Religion und Kultur geht. Wie sehr haben konfessionelle Gesichtspunkte politische Entscheidungen beeinflusst, wie sehr hat die Aufklärung schon früh Kritik an diesem „unvernünftigen“ Einfluss von Kirchen auf Höfe und Länder geübt! Blanning entwickelt in diesem Kapitel eine europäische Geistesgeschichte. Er vollzieht die Entwicklung der Künste nach und führt als markantes Beispiel für den Aufstieg des „Künstlers“ die Wiener Beerdigungen von Mozart (ohne Trauergäste) und 36 Jahre später die Beisetzungsfeierlichkeiten Beethovens vor in die Tausende zählendem Publikum an.


Der vierte Teil ist Krieg und Frieden gewidmet. Hier wird vieles dem älteren Publikum bekannt vorkommen, nahm man doch früher den Spanischen oder den Pfälzischen Erbfolgekrieg im Unterricht durch oder den Siebenjährigen Krieg, der Preußen endgültig in die Reihe der europäischen Großmächte hob. Man erinnert die jeweiligen Schlachten, deren man mit Straßennamen in den Städten der jeweiligen Sieger gedenkt. Die Friedensschlüsse hielten oft nicht lange. Der Wiener Kongress, auf dem das besiegte Frankreich gleichberechtigt am Verhandlungstisch platznahm ist der Schlusspunkt des großartigen Werkes, das einen nicht atemlos zurücklässt, sondern wunderbar bereichert und – wenn man das so sagen darf angesichts vieler schrecklicher Ereignisse – das einen auf höchstem Niveau gut unterhält.

 

Der Engländer Blanning beschließt die Einleitung und auch sein Buch mit Zitaten aus Goethes Faust und macht aus „Glanz und Größe“ eine glänzende und große europäische Erzählung. 


Harald Loch


Tim Blanning: „Glanz und Größe“ Der Aufbruch Europas   1648 – 1815
Aus dem Englischen von Richard Barth und Jörn Pinnow
DVA, München 2022   927 Seiten   zahlr. farb. Abb. und Karten    49 Euro

Jürgen Wertheimer: Europa                          Eine Geschichte seiner Kulturen


Wer es unternimmt, über Europa als „eine Geschichte seiner Kulturen“ zu schreiben, wird aus der immanenten Dialektik dieses Themas Erkenntnisse gewinnen und aus diesen Forderungen ableiten, die nicht jedem gefallen werden. Jürgen Wertheimer, emeritierter Professor für Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen, sieht in der Vielfalt, der Widersprüchlichkeit und der historischen wie geographischen Bedingtheit seiner Elemente das unverwechselbare Markenzeichen Europas. Er ist ein Europäer auf Europatour – entlang den Epochen, durch zahllose Länder, zu Hause in vielen Kulturen. Er ficht in seiner 2500 Jahre überspannenden Erzählung gegen eine zerstörende Vereinheitlichung und stattdessen für das Erlebnis des großen Unterschieds. Der sei ein Schatz, größer als der der Europäischen Zentralbank. Ganz subjektiv geht der Autor dabei vor. Eigene Vorlieben und Schwerpunkte, ein gewisser Mut zur Lücke und das Spiel zwischen dem Blick auf das große Ganze und dem gutgewählten anekdotischen Detail übertragen sich von diesem Reiseführer auf jeden, der mit ihm unterwegs ist. Er steuert nicht jeden Aussichtspunkt an, findet auch nicht jede Sackgasse, aber seine Etappen sind bekömmlich, überzeugend und fügen sich zu dem, was er als Apologet der Unterschiedlichkeit eigentlich leugnet: Zu einem Europa der Kulturen.


„Europa war seit seinen Anfängen etwas Pulsierendes, Lebendiges, Osmotisches, immer in Bewegung. Weit eher ein Geflecht mäandernder Flüsse als ein begradigter Kanal. Diesem migrativen, auf steten Aufbruch und Austausch angelegten dialektischen Grundcharakter gilt es auch heute gerecht zu werden. Denn europäische Werte waren nie statisch, sondern immer im besten Sinne des Wortes Verhandlungssache.“ Das zeigt Wertheimer in den sechs chronologisch aufeinander aufbauenden Teilen seines Werkes, zwischen die er kleinere Zwischenkapitel stellt, in denen er wort- und ideenreich Zusammenhänge andeutet. Der letzte (!) dieser Essays steht unter dem Titel „Das Europa der Frau“.  Insgesamt wechseln bei diesem tour d’horizon Licht und Schatten fast beängstigend ab. Es nutzt aber nichts: Auch das macht Europa aus. 


Wichtige, oft vernachlässigte Themen, spielen eine große Rolle: Byzanz und das „Oströmische Reich“ mit seiner jahrhundertealten Geschichte, das östliche Mittelmeer mit seinen auf drei Kontinenten liegenden Küstenländern, ganz aktuell das Dilemma auf dem Balkan oder auch die oft unsägliche Rolle religiöser Rivalität. Anderes bleibt unerwähnt: Namen wie Johann Sebastian Bach oder Dostojewskij, Länder wie Portugal oder Skandinavien. Habermas, der immerhin mit seinem letzten großen Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ eine ganze Disziplin mit ihrer europäischen Vernetzung und Bedeutung erfasst oder auch Historiker finden keinen Eingang in Wertheimers Buch wie auch die kulturellen Leistungen des römischen Rechts oder die Erfindung der doppelten Buchführung im Italien der frühen Neuzeit.

 

Das Wort „fairness“ fehlt, obwohl es eine – leider abnehmende – europäische Bedeutung hat. Institutionen wie Universitäten, Bibliotheken, Akademien, Museen oder Orchester und Film haben keinen Platz in dem überschaubar gebliebenen Werk. Wer das alles vermisst hat Recht und wird den Reichtum, den Wertheimers Werk bietet, selbst ergänzen. Das Ergebnis wird gleich bleiben und das Fazit des Autors nur noch unterstreichen: „Europa muss sein schmerzhaft erlerntes, profundes Wissen um die Gleichwertigkeit aller möglichen Lebensformen aktivieren und in Politik umsetzen. Man kann es Inklusion nennen oder auch Relativismus – wichtig ist es, diese Fähigkeit als Qualität, nicht als Defizit verstehen zu lernen.“


Wertheimers Buch liest sich wie im Rausch. Es ist nicht immer beglückend, oft auch erschreckend. Sehr gut passen die in drei Tafelteilen geordneten, meist ganzseitigen, farbigen Abbildungen - Reproduktionen hoher Qualität - auf die an den entsprechenden Textstellen verwiesen wird. Das Ganze ist das kühne Experiment, die Dialektik der Kulturen Europas für eine Zukunft fruchtbar aufzubereiten: „Es geht darum, das Herzstück der europäischen Identität, das in Jahrhunderten heraus modellierte Profil des Individuums und seiner Rechte offensiv gegen die Gefahr einer vereinnahmenden, irreversiblen Auslöschung aktiv zu verteidigen.“


Harald Loch


Jürgen Wertheimer: Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen
Penguin Verlag, München 2020   574 Seiten   67 Abb., Karten   26 Euro

 

 

"Über alte Wege" - Eine Reise durch die Geschichte Europas

Der niederländische Schriftsteller Mathijs Deen schärft unseren Blick für die großen Straßen Europas, spielen sie doch die heimliche Hauptrolle in der Geschichte unseres Kontinents. Denn von dem Augenblick an, als der erste Mensch europäischen Boden betrat, sind wir unterwegs. So nähert sich Mathijs Deen dem wahren Geist Europas, indem er den Lebenswegen von Vertriebenen, Wegelagerern, Pilgern, Glücksjägern und Rennfahrern folgt, die sie entlang der Küsten und über die Flüsse und Straßen Europas geführt haben – von Island nach Rom, von Boekelo nach Smolensk. Dabei spannt er den erzählerischen Bogen von der Altsteinzeit bis in die heutige Zeit, in der Europa erneut von Migration geprägt wird. Dem Leser begegnen antike Händler, isländische Eroberinnen und römische Ehefrauen, mittelalterliche Pilger, jüdische Flüchtlinge und napoleonische Soldaten. ›Über alte Wege‹ nimmt den Leser mit auf eine abenteuerliche Fahrt durch Europa und eine faszinierende Reise durch die Zeit. (DUMONT)

 

Wir gehen und fahren neuerdings etwas abstrakt auf unseren Straßen der Moderne, mittels Google Maps auf Navi-Straßenkarten, mittels Google Earth auf Abbildern von Straßen, die Realitäten kommen uns digital entgegen und haben uns etwas vom Alltag auf den Straßen entfernt.

 

Wir setzen Routenplaner und Navigatoren ein, Smartphone apps die uns gesund durchs Leben führen und dabei entfernen wir uns immer mehr von dem, was ist. MATHIJS DEEN ÜBER DIE ALTEN WEGE. EINE REISE DURCH DIE GESCHICHTE EUROPAS führt uns mit seinem Reise-Reportagebuch in diese geschichtliche Realitäten zurück, jedoch mit so viel Fabulierungstalent, dass er die historischen Personen und ihre Geschichte manchmal weit ausholend schildert und die Straßen und Wege dabei irgendwo in der Ferne verschwinden, man also gern mehr über die konkreten geographischen Zusammenhänge erfahren hätte. Die Personen und ihre Geschichte sind dennoch interessant.

 

Die E8, die von London nach Moskau führt, motivierte den niederländischen Schriftsteller und Radiojournalisten zu diesem Buch, weil es eine Straße ist von einem Ende der Welt zum anderen.

Der Autor lädt uns zu einem Besuch in die europäische Zentrale der Straßen- Verwaltung ein, der ECITO, die für die europäischen Straßen-Planungen zuständig ist. Diplomaten, Ingenieure und Regierungsbeamte definierten die Europastraßen zwischen London, Paris, Moskau, Rom, Sizilien, die Nervenbahnen und Fernstraßen Europas, auf denen die Eroberer, die Römer, Napoleon, Hitler und viele andere bewiesen, das überregionale Straßen „nur selten Gutes“ brachten. Und „Unter jedem Fußabdruck auf europäischem Boden liegt noch ein älterer“.

 

Der Autor führt uns zurück in die Jahre 800.000 vor Christus, als die Menschen - weit älter als die Neandertaler und der homo heidelbergensis (350 000 Jahre alt) -  in Europa unterwegs waren, weil die Nahrungssuche sie das Reisen lehrte und ihre Konkurrenten ausschalteten, indem sie ihren Artgenossen den Schädel einschlugen.

Sie ernährten sich von Knollen, Wurzeln, Seeigeln, Schalentieren, Meeressalat und warmblütigen Tieren.

 

Der Autor bewegt sich auf der Via Appia (Byzanz nach Rom) ist unterwegs mit Heimatlosen und Straßenräubern, begleitet Pilger, Schauspielerinnen und Eroberer, sogar Rennfahrer und Flüchtlinge werden zu seinem Thema.

 

Immer sind die Wege sein Ziel, denn wir wissen ja von Niederländern, dass sie auf der großen weiten Welt eben gerne unterwegs sind. Der Autor bringt uns aber die Personen näher als die konkreten Wege. Die sind nicht weniger interessant, so ist es eher eine Personen-Geschichte Europas.

 

Leseprobe

 

https://www.dumont-buchverlag.de/buch/deen-ueber-alte-wege-9783832183837/

 

Pressestimmen

 

„Das Buch ist eine Mischung aus Reportage und Poesie, ein Geschichts- und Geschichtenbuch, durchmischt mit viel Persönlichem. Deen schreibt bildreich und voller Einfühlungsvermögen. Auf den Reisen, die seine Figuren unternehmen, reist der Leser unwillkürlich mit. Und damit - ganz wie es der Titel verheißt - auch auf alten Routen durch die Geschichte des Kontinents.“ MDR Kultur

 

„Mathijs Deen will in seinem Buch ›Über alte Wege‹ nachspüren, was die Menschen früherer Zeiten im wahrsten Sinne des Wortes bewegt hat.“  Wolfgang Ritschl, Ö1

 

„In seinem Buch ›Über alte Wege‹ schärft der niederländische Autor Mathijs Deen unseren Blick für die alten Wege und großen transnationalen Straßen Europas. Er nähert sich dem Geist dieses Kontinents, indem er die Lebenswege von Glückssuchern, Pilgern, Soldaten, Emigranten und Vertriebenen verfolgt.“  Angela Gutzeit, DEUTSCHLANDFUNK

 

Der Autor Mathijs Deen ist ein erfolgreicher und preisgekrönter niederländischer Schriftsteller und Radiojournalist.

 

Mathijs Deen: "Über alte Wege" - Eine Reise durch die Geschichte Europas

Übersetzt von Andreas Ecke Dumont Buchverlag

 

Europa im 19. Jahrhundert

Neue Fischer Weltgeschichte Band 6

 

Willibald Steinmetz: Europa im 19. Jahrhundert

 

Raum und Zeit sinnvoll zu gliedern kann eine, die Vergangenheit nach Themen oder Topoi zu gliedern eine andere plausible Art sein, die Geschichte der Welt darzustellen. Die Neue Fischer Weltgeschichte, die sich bald der zwanzigbändigen Vollendung nähert, ist der ersten Variante gefolgt und legt jetzt als 6. Band die von dem Bielefelder Historiker Willibald Steinmetz verfasste Geschichte Europas im 19. Jahrhundert vor. Sie muss sich nicht mit dem großartigen Werk „Die Verwandlung der Welt“ von Jürgen Osterhammel messen lassen, weil dessen Blick weit über den Kontinent Europa auf die ganze Welt gerichtet ist und sich der anderen, themenbezogenen Art der Darstellung verpflichtet fühlt. Wie das ebenfalls hervorragende Werk von Steinmetz nachdrücklich belegt, haben beide Gliederungsprinzipien ihre Berechtigung und ergänzen sich vorzüglich.

 

Steinmetz unterteilt seine Jahrhundertübersicht wiederum in zwei große Zeitabschnitte, die erste und die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er flankiert diese großen Kapitel mit einer Eingangsübersicht von 1800 bis 1815, vielleicht als die Zeit Napoleons und des Aufstiegs Großbritanniens zu verstehen, sowie mit einer auch zurückblickenden Beschreibung der Zeit um 1900 mit einem Ausblick auf den Ersten Weltkrieg. In der Mitte platziert der Autor ein knapperes Kapitel über Revolutionen und Reaktion um 1848. Innerhalb dieser einzelnen Zeitabschnitte geht er – wo es sich anbietet – nach Ländern vor und behandelt gleichberechtigt Aspekte der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Kultur.

 

Aus allem entsteht ein überzeugendes Bild der Geschichte Europas im 19. Jahrhundert, eine der am besten erforschten und beschriebenen Epochen überhaupt. Wie selbstverständlich erstreckt sich die Darstellung auch auf die Ränder, berücksichtigt also auch die Entwicklungen in Russland und im Osmanischen Reich. Die Übersichtlichkeit leidet keineswegs durch die Vertiefungen der Darstellung an markanten Stellen. Der Leser wird z.B. auf wenigen Seiten verstehen, wie aus der Pariser Februarrevolution von 1848 über eine Arbeiterrevolte binnen weniger Jahre und unter demokratischer Beteiligung der – allerdings nur männlichen - Bevölkerung das Zweite Kaiserreich in Frankreich unter Napoleon III entstehen konnte. Oder man erfährt detailliert, wie sich die deutsch-dänischen Verhältnisse im Laufe des Jahrhunderts hochgeschaukelt haben und schließlich kriegerisch gelöst wurden.

 

Ein anderes Beispiel für ein paradigmatisches Detail ist die zusammengefasste Unternehmensgeschichte des Hauses Siemens zund dessen Entwicklung zu einem der ersten deutschen global player.

Als Ertrag seiner Forschungen findet Steinmetz zu einer wirklich neuen Beurteilung der Epoche, die aus allem Bekannten mit überzeugender Urteilskraft erstmalig formulierte Kernpunkte herausarbeitet: „Ein vollständiges, faires Bild des europäischen 19. Jahrhunderts ergibt sich erst, wenn man die Ambivalenzen ins Licht rückt, die mit den Lösungen für alte Streitfragen immer auch neue Schwierigkeiten hervorbrachten.“ Er benennt diese Ambivalenzen zwischen den Gleichheits- und Demokratieforderungen einerseits und dem partikularen Verlangen von Romantikern und Befreiungsbewegungen. Oder er erkennt die Widersprüche zwischen der Erlangung nationaler Selbstbestimmung und der Abschließung gegen innere und äußere Feinde. Das mühsam erkämpfte allgemeine Wahlrecht für Männer verschärfte natürlich die Ungleichheit der Geschlechter. Die zu verlängernde Liste solcher Ambivalenzen, „trug wesentlich dazu bei, dass das europäische 19. Jahrhundert als ein extrem dynamisches Jahrhundert erscheint.

 

Diese Dynamik wurde angetrieben durch zwei weitere, eng miteinander zusammenhängende Handlungsmodi: Vergleich und Wettbewerb“. Solche Aspekte herauszuarbeiten und zu formulieren, ist das herausragende Verdienst dieses Werks, das in seiner übersichtlichen Gesamtschau auch ein verdienstvolles Stück europäischer Historiographie darstellt. Der Kontinent war zwar zunehmend in Nationalstaaten gegliedert, von denen einige ihren Zerfall bereits ahnen ließen, aber er stellt sich als ein Kontinent dar, der im 19. Jahrhundert nicht nur vorgab, was in der Welt geschah, sondern sich auch als Schicksalsgemeinschaft – im Guten wie im Bösen – verstehen lässt.

 

Steinmetz schließt mit einem Hinweis auf die Hybris der Europäer: „Nur sich selbst erkannten sie eine Geschichte zu, während sie den anderen Völkern der Welt Stillstand oder völlige Geschichtslosigkeit attestierten. Die meisten Europäer begannen diesen Irrtum jedoch erst im Laufe de späten 20. Jahrhunderts zu begreifen, als ihre eigenen Freiheits- und Gleichheitsprinzipen vermehrt gegen sie ausgespielt wurden und sie in kompetitiven Vergleichen mit anderen Machtzentren in der Welt immer häufiger ihre Unterlegenheit erfuhren.“

 

Wie es zu dieser Selbstüberschätzung kam, liest sich als Fazit aus diesem durch Register, eine nützliche Zeittafel und eine kluge Auswahlbibliographie hervorragend erschlossenen neuen Standardwerk.

 

Harald Loch

 

Willibald Steinmetz: Europa im 19. Jahrhundert

Neue Fischer Weltgeschichte Band 6

S. Fischer

Der Geschmack Europas

Am 6. Mai 2021 startet 3sat mit der Ausstrahlung des 2020 zuletzt vom ORF gedrehten Geschmack Europas Serie seine auf 26 Teile angelegte Wiederholungsreihe, die über den Sommer bis in den September reicht.

 

 

https://www.srf.ch/programm/tv/sendung/772673602

 

 

3SAT DO 06.05.21 11:40:00 29:45 Der Geschmack Europas Die Ostschweiz


3SAT DO 20.05.21 11:45:00 30:47 Der Geschmack Europas Kamptal & Wagram


3SAT DO 27.05.21 11:50:00 29:31 Der Geschmack Europas Schlesien


3SAT DO 10.06.21 11:45:00 29:15 Der Geschmack Europas Siebenbürgen


3SAT DO 24.06.21 11:45:00 29:54 Der Geschmack Europas Mähren


3SAT DO 01.07.21 11:45:00 29:59 Der Geschmack Europas Der irische Westen


Titel Lojze Wieser u.a. Der Geschmack Europas. Die ersten Stationen. Lojze Wieser Text, Heribert Senegacnik, Florian Gebauer, Lojze Wieser Fotos Wieser Verlag Klagenfurt


Autor Lojze Wieser, 1954 geboren, lebt als Verleger in Klagenfurt/Celovec und legt den Schwerpunkt seines Programms auf südosteuropäische Literatur. Die Reihe Europa erlesen und die Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens erreichten Kultstatus. 


Heribert Senegacnik, 1955 geboren, lebt in Stein, Viktring/Vetrinj, Kameramann, alle Bereiche von Live-Übertragungen, Mehrkameraaufzeichnungen, Dokumentationen, Spieldokumentationen, Festivalbeiträge, Kino- und Fernsehwerbung u. v. m. Seine Kameraführung ist legendär. Zahlreiche heimische und internationale Auszeichnungen. Lehrauftrag an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt/Celovec. Produktionen für ORF, ARTE, ServusTV, 3sat, ZDF u. a.


Gestaltung sehr aufwändig gestalteter Foto- und Textband, mit Länder-Kapiteln, collagierten Bildern und Texten, in Farbe, mit ausgefallenen Rezepten und Bildern von Landschaften und Speisen, mehrsprachig mit Literaturzitaten. Die zehn Filmfolgen sind auch als CD erschienen, 
Cover Schinken und Käse-Impressionen


Zitat „…das ist ein Erbe, das einfach nicht verloren gehen darf“ (Martin Traxl, Kulturchef ORF) 


Meinung Die Wahlergebnisse in Europa, das Erstarken der Rechten, die Finanzkrise, das Herumeiern der Europäischen Union, die Schwäche der Parteien, die Rückgratlosigkeit  der Politik, die sozialen Scheren, die sich auseinanderentwickeln, die Wiedererweckung des Nationalismus, der Brexit, die Griechenland-Debatte und der Katalonien-Streit, nicht zuletzt die Flüchtlingskrise haben dem europäischen Gedanken und seinen Institutionen mehr als schwer geschadet.

 
Die Europäer sind in Teilen vom Glauben abgefallen, und dennoch gibt es Gruppen, die Europa mit Impulsen wieder Leben einhauchen wollen. Und es gibt Einzelpersonen, die Europa weiter lieben und lieben werden. Der österreichische Verleger Lojze Wieser gehört dazu. 


Eine Art „Wiederbelebungsversuch“, eine Reanimation des europäischen Gedankens versucht der Kärntner Autor und Verleger der Buchreihe “Europa erlesen“ nun mit einer Film- und Buchreihe „Der „Geschmack Europas“. Gemeinsam mit dem ORF hat der Verleger kulinarische Reisen ins Innere Europas unternommen: in den slowenischen Karst, den er in- und auswendig kennt, in die Innerschweiz, nach Siebenbürgen, die toskanische Maremma, in die Lausitz, nach Galicien und ins Gailtal. 
„Wir haben von Anfang an versucht, mit dieser Serie etwas Neues zu liefern, nicht einfach eine Abfolge von Filmen über Kochen und Essen, sondern eine Kulturreihe. Es ist de facto eine Reihe über die Kultur von Regionen, wobei wir diese Kultur über das Essen und über die Kochtöpfe erklären – ihre Geschichte, die Herkunft, die Durchmischungen, die geologischen, klimatischen, manchmal auch religiösen oder politischen Bedingungen, warum eine Region so schmeckt, wie sie schmeckt. Wir haben immer wieder versucht, keine allzu großen Regionen auszuwählen, sondern uns auf kleinere Regionen zu konzentrieren, weil die kulturelle und kulinarische Vielfalt in Europa ungeheuer groß ist“. Sagt der Kulturchef des ORF in einem Radiointerview


Im Vorwort schreibt Lojze Wieser: „Der Geschmack Europas: Europa erhören, Europa erschmecken, dem Echo folgen“. Wir haben alle unsere „…ganz persönliche Tafel im Kopf und eben auch auf der Zunge…Wir gingen mit der Zunge auf Reisen. Gefunden haben wir den Himmel im Mund und die Sehnsucht von Menschen. Lassen wir uns doch die Geschmäcker Europas auf der Zunge zergehen.“  


Und auf der Homepage des eigenen Verlages beschreibt Wieser seine Vorgehensweise: „Vom Karst und der Brda über die Innerschweiz nach Siebenbürgen und in die Maremma reisen, von der Lausitz nach Flandern und Istrien, von da ins Gailtal, danach dem Jakobsweg nach Galicien ausweichen – am Ende der westlichen Welt angekommen, auf die Fragen stoßen, wie sie sich zuhause denn stellen, in Epirus im Norden Griechenlands auf Tropfen der Tränen der Kriege und vergangener Vertreibungen und heutiger treffen, antiken Melodien erliegen. Europa finden, nicht suchen – wie in der Liebe. Literatur, Bücher und Menschen finden, lauschen und glauben, das Hoffen wagen. Wieder weiterziehen. Mit der Literatur als Kompass. Der Magnet ist die Seele. Denn: Jeder Mensch hat eine Seele und darin fliegt eine Schwalbe. Ihr Flügelschlag fächert das Echo der Geschichte herüber und lässt wehende Fahnen erschlaffen…“


Die Texte haben literarische Ambition, die Rezepte sind ausgefallen und kein Mainstream, kleine Tipps und Hervorhebungen im Text machen den Leser und die Leserin auf die Besonderheiten aufmerksam. So lernen wir wie nebenbei sprachliche und kulinarische Feinheiten der Regionen kennen, die sozusagen die Antithesen zur globalisierten Fastfood-Welt darstellen. 


Literaturempfehlungen und Verweise ins Internet sind teilweise auch in die Seiten eingearbeitet. Die Rezepte werden textlich kurz gehalten, für den Koch-Laien sind sie weniger geeignet, wer in der Küche aber gerne zaubert und experimentiert wird vielfach fündig. 


Wir schauen in Kochtöpfe und nehmen mit an Tafelrunden Platz, entdecken vergessene Landschaften wie Galicien und Rumänien, gehen auf Märkte, blicken in Fleisch- und Fischkasserolen, Seher-Reaktionen und andere Testimonials werden als Vignetten auf den Fotoseiten als Zitat mitveröffentlicht, also ein Feedback ist bereits integriert. 
Lojze Wieser ist es gelungen in dem Buch die europäische Speisekarte literarisch und kulinarisch durchzubuchstabieren, der Fotoband ist eine Art Grund-Alphabet der europäischen Küchen und zieht Grenzen, baut vielleicht sogar Mauern zum europäischen Fastfood, Pommes, Currywurst- und Burger-Pizza-Einheitsbrei Europas.

 

Leser alle Europäer, Nicht-Europäer und vor allem das kulinarische BREXIT-Land Großbritannien

 

Lojze Wieser
Der Geschmack Europas 2
Ein Journal mit Rezepten. Weitere Stationen
ca. 300 Seiten, gebunden, Lesebändchen

 

Links 

Richard J Evans: Das Europäische Jahrhundert

Ein Kontinent im Umbruch. 1815 – 1914

Europa aus seiner Geschichte zu verstehen

Der Versuch lohnt, Europa aus seiner Geschichte zu verstehen. Ob man aus ihr lernen kann oder gar sollte, ist eher eine Geschmackssache. Aber vielleicht bildet sich – entgegen aller gegenwärtigen Zweifel – aus dem Verständnis doch so etwas wie eine europäische Identität. Nach der Lektüre des monumentalen Werks „Das europäische Jahrhundert“ von Richard J Evans, das den „Kontinent im Umbruch“ zwischen 1815 und 1914 beschreibt, ist der Leser nicht nur viel schlauer, sondern hat in den meisten Fällen auch ein europäisches Bewusstsein gewonnen. Wie gelingt das dem 1947 geborenen, inzwischen emeritierten Professor für Neuere Geschichte an der Cambridge University? Schon seine dreibändige Geschichte des „Dritten Reiches“ und weitere bahnbrechende Publikationen zur deutschen Geschichte wiesen ihn als umfassend gebildeten Historiker aus, der nicht nur „alles weiß“, sondern es auch allen vermitteln kann.


Sein Buch ist „in acht Kapitel gegliedert, die wiederum in jeweils zehn Abschnitte unterteilt sind. Die Kapitel 1,3,7 und 8 beschäftigen sich in erster Linie mit Politikgeschichte, die Kapitel 2 und 4 mit Wirtschaftsgeschichte und die Kapitel 5 und 6 mit Themen, die im weitesten Sinne der Kulturgeschichte zuzurechnen sind“ – so strukturiert Evans in einem Vorwort sein Werk. Er erläutert sein Vorgehen weiter: „Um die menschliche Dimension dieser Geschichte zu unterstreichen, beginnt jedes Kapitel mit der Lebensgeschichte eines Menschen, dessen Überzeugungen und Erfahrungen viele Themen aufwirft, die im Folgenden abgehandelt werden. Jede dieser acht Personen kommt aus einem anderen Land, und es sind vier Männer und vier Frauen.“


Nach diesem Strukturschema entwickelt Evans die rasante Entwicklungsgeschichte Europas aus den Erfahrungen der Französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen über die Zeit der Restauration à la Metternich zu den zwar gescheiterten, aber nicht folgenlosen Revolutionen von 1830 und 1848 bis zu dem Höhepunkt des Imperialismus. In dieser Zeit konkurrierten liberale und republikanisch-demokratische Bewegungen in allen Ländern um die Speerspitze der Fortschrittlichkeit. In dieser Epoche setzte die Dampfmaschine eine erste industrielle Revolution in Gang, verknüpften Eisenbahnen Menschen und Märkte in Europa, beschleunigte die Entwicklung des Telegraphen eine mediale Öffentlichkeit, die sich mehr und mehr von Zensur und Unterdrückung befreien konnte.

 

Das alles geschah zwar nicht gleichzeitig in allen Ländern, aber doch je nach politischem, wirtschaftlichem und technischem Fortschritt letztlich überall in Europa. Evans besucht alle Länder von Portugal bis Finnland, beschreibt die Auswirkungen der verheerenden Kartoffelfäule in Irland wie die militärhistorisch nur als dilettantisch zu bezeichnenden Operationen der Parteien im Krimkrieg.


Sein Hauptaugenmerk liegt natürlich auf den großen Mitspielern im europäischen Konzert, auf England, Frankreich und Preußen/Deutschland sowie der in dieser Epoche entstehenden österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, auf Russland und dem Osmanischen Reich. Industrialisierung und Globalisierung, die Entstehung der imperialistischen Kolonialreiche, die allmähliche Abschaffung der Sklaverei – alles hatte europäische Dimensionen.

 

Er nimmt Untersuchungen über die soziologische Zusammensetzung von revolutionären Massen in seine Beschreibung auf, verfolgt die entstehende Gewerkschaftsbewegung und betrachtet auf dem linken Spektrum die Rivalität zwischen Marxisten und Anarchisten. Er merkt bedauernd an, dass der Kampf um die Gleichberechtigung der Frau erst in den Anfängen steckte. Frauen erhielten z.B. in Frankreich erst 1944 das Wahlrecht. 


Evans gestaltet sein Buch durch regionale oder nationale Einzelheiten für alle Europäer lebendig. Wenn er z.B. anmerkt: Der Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung Robert Blum wurde von ihr 1848 nach Wien entsandt, um die dortige Revolution zu unterstützen. „Er wurde wegen Hochverrats verhaftet und am 9. November hingerichtet (das erste, aber keineswegs letzte Mal, dass dieses Datum in der deutschen Geschichte einen Einschnitt markierte).“ Für deutsche Leser ist auch folgende Randnotiz aus dem deutsch-dänischen Krieg von 1864 interessant, dem ersten der sogenannten Einigungskriege, die Bismarck entfachte. Es ging um Schleswig-Holstein. Der damalige britische Premierminister Viscount Palmerston hatte hierzu gesagt: „Nur drei Menschen haben diese ganze Schleswig-Holstein-Frage je ganz verstanden: Der Prinzgemahl, und der ist tot; ein deutscher Professor, und der ist darüber verrückt geworden und ich, aber ich habe alles vergessen.“ Es gibt einen vierten, und das ist Richard J. Evans. Er hat keine Mühe, diese „berüchtigte“ Schleswig-Holstein-Frage in seinem großartigen Werk „Das europäische Jahrhundert“ seinem gespannt folgenden Publikum zu erklären.


Harald Loch


Richard J Evans: Das Europäische Jahrhundert
Ein Kontinent im Umbruch. 1815 - 1914
Aus dem Englischen von Richard Barth
DVA, München 2018   1033 Seiten 20 Karten 32 Abb. 48 Euro

 

Europa am Abgrund

Brendan Simms / Benjamin Zeeb: Europa am Abgrund

 

Die Spannung um ein Brexit steigt! Wenige Wochen vor der Volksabstimmung in Großbritannien über den Austritt aus der Europäischen Union wendet sich eine flammende Streitschrift für eine europäische Föderation aus England an das europamüde Publikum in Deutschland. Der 1967 geborene irische Historiker Brendan Simms, der übrigens genauso perfekt Deutsch spricht wie sein ebenfalls in Cambridge unterrichtender australischer Kollege Christopher Clark, hat zusammen mit Benjamin Zeeb ein apokalyptische Szenario für die EU entworfen und gleich eine realistische Vision zu ihrer Vermeidung dazu geliefert. Auf knappem Raum beschreiben die Autoren die gegenwärtige Krise. Sie führen sie in erster Linie darauf zurück, dass es keine europäische Föderation mit einer starken, am besten präsidialen, Regierungsexekutive gibt, die für Außenpolitik und Verteidigung zuständig ist und über eine europäische, demokratische Legitimation verfügt. Außerdem könne eine gemeinsame Währung nur mit einer gemeinsamen Fiskalpolitik funktionieren und müsste zu einer Transfergemeinschaft umgestaltet werden, in der nicht mehr nationale Schuldtitel von den jeweiligen nationalen Zentralbanken, sondern vom europäischen Parlament haushaltsrechtlich legitimierte Titel die föderative Verschuldung absichern würden.

 

Im Mittelpunkt des wichtigen historischen Abrisses stehen zwei föderale Erfolgsgeschichten: Großbritanniens hat sich vor über 300 Jahren aus der Rivalität zwischen England und Schottland als stabile Föderation entwickelt und die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich aus ganz unterschiedlichen einzelstaatlichen Interessen zu einer starken Föderation zusammengeschlossen haben. Ein grandioses Kapitel in dieser kleinen „Kampfschrift“ ist der „Deutschen Frage“ gewidmet. Der neutrale, wissenschaftlich grundierte Blick von außen auf dieses Problem wird anhand der beiden geflügelten Worte „Zu groß für Europa und zu klein für die Welt“ (Henry Kissinger) bzw. es bedürfte „keines deutschen Europas sondern eines europäischen Deutschlands“ (Thomas Mann) von vielen Klischees befreit und auf die heutige europäische Kernfrage gelenkt. Simms hat sich durch sein fulminantes Buch „Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas  1453 bis heute“ einen internationalen Ruf als Kenner der deutschen in der europäischen Geschichte erworben und wird diesem Ruf in dem der „Deutschen Frage“ gewidmeten kleinen Kapitel voll gerecht.

Die politische und wirtschaftliche Analyse ist schlüssig. Das bevölkerungsreiche Europa mit hoher wirtschaftlicher Kompetenz bleibt nach der in diesem kleinen Buch gut begründeten Auffassung weit unter seinen Möglichkeiten. Das vorgegebene Ziel ist sicher einem großen Teil des Publikums sympathisch: eine europäische Föderation. Einzelheiten sind zu verhandeln. Der Koautor und Münchener Historiker Bejamin Zeeb (Jahrgang 1983) leitet das europaweit tätige Thinktank „Project for Democratic Union“ und beschäftigt sich mehr mit der Umsetzung dieser Gedanken. Denn der Weg zu einer europäischen Föderation scheint das Problematische zu sein. Immerhin skizzieren die beiden jungen Europa-Fans einen schrittweisen Weg. Sie sagen auch voraus, dass Großbritannien diesen Weg nicht mitgehen werde. Aber das sei eher von Vorteil und zwischen der erstarkten europäischen Föderation ließe sich eine qualifizierte Partnerschaft mit Großbritannien besser außerhalb als innerhalb dieses starken Staates auf freundschaftlicher Augenhöhe aushandeln.

Ein interessanter Ansatz, der jedenfalls Appetit auf mehr, nicht auf weniger Europa macht.

 

Harald Loch

 

Brendan Simms / Benjamin Zeeb: Europa am Abgrund     Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa

Aus dem Englischen von Hans Freundl

C.H. Beck, München 2016   140 Seiten 12,95 Euro

Die Macht am Mittelmeer

Das Buch ist besser als die Idee, von der es handelt. Diese Idee, aus dem gemeinsamen blauen Himmel über dem ebenso blauen Mittelmeer, aus Sonne und Olivenhainen, aus charmant servierter mediterraner Kost sowie südlicher Muße statt nördlichem „negotium“ eine mediterrane Union zu schmieden, ist immer gescheitert.

 

Das Buch des international und vor allem in Frankreich hochgeschätzten Kultursoziologen Wolf Lepenies unter dem Titel „Die Macht am Mittelmeer“ geht den immer wiederholten französischen Träumen von einem südlichen Europa nach – natürlich mit Frankreich als Zentrum. Dieser wiederkehrende Traum, aus dem zuletzt Sarkozy unsanft von Angela Merkel gerissen wurde, beruht ja auf konkreten Tatsachen. Die sind einmal historisch, entsprangen in Griechenland (magna Graecia lag auf Sizilien). Der Traum wurde im Imperium Romanum strahlende Wirklichkeit. Später wurde das „mare nostrum“ ein arabischer Kultur- und Machtraum. Die katholische Kirche mit Rom als Mittelpunkt überzog die halbe Welt. Aus dem jüdischen Ursprungsland bereicherte die erste der monotheistischen Religionen mehr als die halbe Welt. Im Mittelpunkt aller dieser fortwirkenden historischen Wurzeln lag das Mittelmeer.

 

Im 19. Jahrhundert begannen mit der postnapoleonischen Ernüchterung die französischen Träume von einer Wiederbelebung dieser zentralen Rolle des Mittelmeeres. Ein um Frankreich gruppiertes „Système de la Méditerranée“ sollte im Süden das in Mitteleuropa geschwundene Gewicht des Landes gegen die Übermacht sowohl Deutschlands als auch der anglo-amerikanischen Welt wiederherstellen. Lepenies entfaltet sein Buch zu einer unterhaltsamen Traumdeutung. Über die Jahrzehnte nahmen diese Träume immer andere Inhalte und Namen an. Die „Latinität“ baute auf der lateinischen Wurzel vieler Sprachen der Mittelmeeranrainer auf und träumte sich bis nach Südamerika, nach Quebec und ging in der literarisch vielbeschworenen „Francophonie“ auf. Andere Träume setzten auf die römische Kirche als verbindendes Element. Albert Camus, in Algerien von französischen Eltern geboren, hing der Illusion von einer gleichberechtigten französisch-algerischen Bevölkerung an. Während der Vichy-Regierung hatten sich in den Mittelmeerländern Italien (Mussolini), Spanien (Franco) und auch im manchmal dazugerechneten Portugal (Salazar) mediterrane Varianten des Faschismus gebildet – keine Chance für eine politische Union. Immer wieder herrschten Militärdiktaturen in Ländern rund um das Mittelmeer: In Griechenland, in der Türkei, in Ägypten in Libyen. Sie waren  keine adäquaten Partner für das republikanische Frankreich. Alle Schlagworte und alle Ideologien nutzten sich vor ihrer Realisierung zur Unkenntlichkeit ab, alle Ideologien bestanden nicht vor der Realität der unterschiedlichen Interessen.

 

Lepenies zitiert genüsslich und mit mediterraner Heiterkeit aus den Traumerzählungen französischer Politiker und Publizisten. Meist stammten die Illusionen aus den Boudoirs der Rechten des Landes. Über manches wohlgesetzte Zitat kann der Leser nur schmunzeln. Er wird erkennen, dass Träume, ideologische Schlagworte und unhistorische Anleihen in der Geschichte keine Basis für Politik sind. Und er wird den ganzen Ernst der Mehrheit der französischen Politik schätzen lernen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht für das Mittelmeer sondern für Mitteleuropa entschieden und die Versöhnung mit Deutschland in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt hat.

Aber vielleicht wären doch konkrete Perspektiven auch für das Mittelmeer und sein Hinterland zu erörtern, von denen Lepenies nur die Landwirtschaft und die skandalöse Subventionspolitik der EU erwähnt, die vieles in Afrika zerstört hat. Sollte man nicht z.B., statt im wolkenreichen Sachsen-Anhalt Photovoltaikparks zu fördern auf den Gedanken kommen, die vielbeschworene mediterrane und submediterrane Sonne zur Ernte von Solarstrom zu nutzen? Das gäbe den Menschen auf Kreta, in Antalya, im Libanon und Kairo eine andere Lebensperspektive. Menschen in Tripolis, Tunis, von Algier bis Tamanrasset, in Marokko oder auch in Sevilla, Marseille oder Messina bekämen eine realistische Aussicht auf moderne Arbeitsplätze. Die meisten von ihnen würden bei solcher Perspektive in ihrer Heimat bleiben wollen. Diese Aussicht würde in einigen muslimischen Gesellschaften die Gedanken der Bewohner auf technisch-wissenschaftliche Errungenschaften richten und den Einfluss der Religion auf den spirituellen Bereich begrenzen helfen. Von den Auswirkungen auf die Klimaentwicklung der Erde ganz zu schweigen. Eine solche Perspektive für eine moderne „méditerranée“ könnte die ganze Europäische Union tragen und davon profitieren – traumhaft!

 

Harald Loch

 

Wolf Lepenies: Die Macht am Mittelmeer                   
Französische Träume von einem anderen Europa

Hanser, München 2016   349 Seiten   24,90 Euro

 

Europa ein verglühender Stern?

Titel Nicol Ljubic´/Tilman Spengler Europa Traum und Wirklichkeit. Dokumentation der europäischen Schriftstellerkonferenz 2014. Christoph Links Verlag
 
Inhalt 30 Autoren aus 24 Ländern trafen sich in Berlin zu diesem Kongress. Sie diskutierten einen Tag lang über europäische Grundsatzfragen.
Gestaltung Sachliches Taschenbuch-Format, 191 Seiten
 
Cover rot-weißer Einband, europäische Sterne, die Titelzeilen, die Namen der Beiträger in kleiner Schrift, kein Foto
 
Meinung: Als ich Anfang der 90er Jahre in Aachen als Mitgründungsmitglied von European journalists ev. einen europäischen Schriftsteller-Kongress (Horizont Europa – Verfassung, Kultur und europäische Identität) organisiert hatte, der an drei Tagen die europäischen Erweiterung der Union diskutierte, war ich überrascht wie wenig Schriftsteller, Intellektuelle, Journalisten an dem Thema interessiert waren. Zwar waren an den drei Tagen Autoren wie Josef Haslinger und Leoluca Orlando, István Oersi zum Beispiel zu Gast, die Diskussionspanels und Workshops waren ausgebucht, aber die Ausstrahlung in die allgemeine Öffentlichkeit blieb gering.  Europa nur ein Thema der Eliten und Minderheiten? Kurze Zeit später gab es eine Bürger-Abstimmung, ob in Aachen eine europäische Akademie gegründet werden sollte: die Mehrheit war dagegen. Geradezu ein Warnzeichen, wenn in der europäischsten Stadt aller Städte, in Aachen das Volk gegen eine solche Idee war, wie war es dann bestellt um die Idee der europäischen Einigung im Volk und in der Politik allgemein. War das der klägliche Rest: Brüssel betreibt Wirtschaftspolitik, Aachen verleiht den Karlspreis, der Rest war Schweigen.

 

Mehr als zehn Jahre dauerte es bis 2014 wieder ein Schriftstellerkongress stattfand. Allein diese Terminierung zeigt, dass der europäische Einigungsprozess ein wirtschaftlicher und kein politischer war und die kulturelle Dimension völlig vergessen wurde, weil sie den Nationalstaaten überlassen blieb. 

 

Aber zu dem Buch, dankenswerter Weise haben sich die beiden Autoren dazu aufgerafft, die europäische Tagung zu dokumentieren. Vorworte, Reden und Panel-Statements wurden gesammelt, dazu Europatexte, Lesestücke, ein Manifest, die Biografien, Dank, Quellennachweis und Partner sowie Förderer der Tagung. Frank Walter Steinmeier, damals Fraktionsvorsitzender, hielt als Mitinitiator die Eröffnungsrede, offenbar einer der wenigen literaturinteressierten Minister.

 

Starke Wortmeldungen und Zitate sind in der Dokumentation zu finden etwa von Oksana Sabuschko: „Wenn Menschen gequält, wenn sie mit verklebtem Mund ertränkt werden, dann haben wir das Ende aller Sprachen erreicht.“

 

Oder Goran Vojnovic´: “Wir sind alle Schriftsteller, das Wort Kommunikation ist uns nicht fremd.“

 

Michael Schickschkin „Ich wurde in einem Land der Sklaven von Sklaven als Sklave geboren.“ 

 

Richard Swartz: “Es reicht nicht gemeinsame Kriterien festzulegen, man muss nach diesen Kriterien auch leben.“ 

 

Tilman Spenger: „Der Gedanke an Europa wird das Böse nicht aus der Welt schaffen.“ 

 

György Dalos beschwört, dass der Nationalismus nichts anderes sei als die Rückkehr in die Unfreiheit. 

 

Und Peter Schneider stellt die Frage: “Sind die Europäer dabei, das Projekt Europa und die Hoffnungen, die es weckt aus Desinteresse, Egoismus und Weltvergessenheit zu verspielen?“ 
 
Andrej Nikolaidis zieht das Fazit: “Europa leuchtet noch immer...“, er verweist dabei weiter auf den Glauben an die Humanität, Strategien der Emanzipation, er denkt an seine Schriftsteller, Maler, Philosophen und Regisseure. “Da sei die gute Nachricht und die schlechte laute: “Das Licht eines sterbenden Sterns sieht man auch nach dessen Tod“. 
Aber ist es nicht auch so, dass mancher Urknall neue Sterne entstehen lässt, man möchte Europa einen neuen Urknall wünschen. Ein lesenswertes, zu diskutierendes und wichtiges Buch – erst recht in der Griechenland-Krise.

 

Leser Wir alle, die Griechen, die Engländer insbesondere und die gesamte Brüsseler Bürokratie

Greek-Exit      ??!?!?

Ulf-Dieter Klemm und Wolfgang Schultheiß (Hg.):                              
Die Krise in Griechenland  

         

Man wird nicht erwarten können, dass der neunmalkluge Stammtisch über 500 Seiten zur Krise in Griechenland liest. Für Politiker und alle, die ernsthaft mitreden wollen, ist das von Ulf-Dieter Klemm und Wolfgang Schultheiß herausgegebene Buch „Die Krise in Griechenland“ allerdings Pflichtlektüre. Die beiden Herausgeber waren zu unterschiedlichen Zeiten Botschafter der Bundesrepublik in Athen bzw. dort Kulturreferent. Sie haben hochkarätige, international ausgewiesene Autoren für die 28 Beiträge des Bandes gewonnen – überwiegend griechische Wissenschaftler. Sie repräsentieren die Fachrichtungen Geschichte, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, Journalismus und Diplomatie. Sie kennen Griechenlands Gegenwart und seine jüngere Geschichte und diskutieren die Gründe, Auswirkungen und Lösungsmöglichkeiten der Krise.

 

Der in Kiel promovierte Wirtschaftswissenschaftler Panos Kazakos zeichnet z.B. die griechische Politik der letzten fünf Jahre nach. Der emeritierte Professor für politische Ökonomie an der Universität Athen fügt seinem in deutscher Sprache verfassten skeptischen Beitrag Tabellen ausgewählter ökonomischer Daten an und hält die Frage, ob die Krise tatsächlich bewältigt werden kann für offen. Der in Zürich promovierte Soziologe und spätere Professor in Athen Alexandros-Andreas  Kyrtsis beschreibt in seinem ebenfalls auf Deutsch verfassten Beitrag die griechische Gesellschaft unter dem Druck der Krise. Er sieht nur eine europäische Lösung, um einen Erfolg der enormen sozialen Anstrengungen zu ermöglichen. Der Londoner Professor für Wirtschaftswissenschaften Manolis Galenianos untersucht die ökonomischen Ursachen der griechischen Wirtschaftskrise anhand umfangreichen Zahlenmaterials und stützt sich dazu auf die Quellen Eurostat, IWF und Weltbank.

 

Andere Beiträger befassen sich mit der griechischen Geschichte seit 1830 sowie mit den außenpolitischen Differenzen zwischen Griechenland und seinen Nachbarn Türkei bzw. Mazedonien. Ein ganzes Kapitel mit mehreren Artikeln ist der besonderen deutsch-griechischen Problematik gewidmet. Sie befassen sich mit der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg, den Verbrechen während dieser Zeit und den rechtlichen und moralischen Fragen von Reparationsforderungen in diesem Zusammenhang. Hier ist es insbesondere der Beitrag des Oxforder Historikers und Balkanspezialisten Richard Clogg, der dem deutschen Publikum ans Herz gelegt sei, bevor wieder vollmundige Kritik an den „griechischen Verhältnissen“ geübt wird. Das Buch diskutiert die Alternativen „Grexit“ bzw. Staatsbankrott im Euroraum und schließt mit praktischen Ansätzen für eine Überwindung der Krise, die sie als Chance sehen.

 

Da das Buch vor den jüngsten Wahlen abgeschlossen wurde, konnte die von „Sypiza“ ausgehende Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen Griechenland und der „Troika“ noch nicht als neue Realität erörtert werden. Die Basisdaten der Krise, die Qualität der Missverständnisse insbesondere zwischen Griechenland und Deutschland und die notwenigen Schritte für einen Ausweg sind aber durch diese Wahlen nicht verändert worden. Die einzelnen Beiträge wenden sich an ein zwar politisch interessiertes, nicht aber an wissenschaftlicher Terminologie interessiertes Publikum. Man kann diesem „Volltreffer“ in die politische Tagesdiskussion nur eine möglichst große Verbreitung wünschen.

 

Harald Loch

 

Ulf-Dieter Klemm und Wolfgang Schultheiß (Hg.):                               Die Krise in Griechenland   -   Ursprünge, Verlauf, Folgen

Campus, Frankfurt am Main 2015   546 Seiten   29,90 Euro

 

Liberté, égalité, fraternité

Johannes Willms: Tugend und Terror – Geschichte der Französischen Revolution

 

Seine Exzellenz, der Botschafter der République Française hatte Johannes Willms gerade zu dessen Buchvorstellung begrüßt und dann seine Ambassade am Pariser Platz unweit des Brandenburger Tores zu einem anderen Termin verlassen, da hängte sich der Autor schon gewaltig aus dem Fenster: Die französische Geschichtsschreibung hätte den Aspekt „Terror“ der Französischen Revolution stets gegenüber der menschheitsbeglückenden Trias „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in den Hintergrund gestellt. Das habe er mit seiner Darstellung der die Welt verändernden Revolution richtigstellen gewollt und deshalb den Titel „Tugend und Terror“ gewählt. Dieses Wortpaar aus der Verteidigungsrede des Robespierre gebe die Ambivalenz der historischen Bewertung der Jahre nach 1789 richtig und schlagkräftig wieder. Das Buch selbst enthält dann gar nichts von dem missionarischen Eifer, den sein Autor – mutig, auf dem exterritorialen Gelände der Botschaft – im Gespräch mit der temperamentvollen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy zur besten Unterhaltung des Publikums an den Tag legte. Das Werk erzählt von den Ereignissen der Revolution und von den Hauptakteuren, die er im Anhang unter „Dramatis personae“ zur besseren Übersicht noch einmal kurz porträtiert. Willms schreibt immer ein wenig skeptisch von den Errungenschaften und – eher angewidert – von dem „terreur“, in den die Tugendhaftigkeit später umschlug.

 

Die Einzelheiten des Vierteljahrhunderts zwischen dem Sturm auf die Bastille und dem Wiener Kongress lesen sich, von dem Frankreichkenner und -freund Willms in großem historiographischem Bogen glänzend dargestellt, wie ein sich ständig selbst beschleunigendes, dann wieder stockendes Drama. Wie in jeder Spannungsliteratur kommt selbst in diesem ernst zu nehmenden Sachbuch die Unterhaltung nicht zu kurz. Selten kann man eine Abfolge von Sternstunden und schwarzen Momenten der Geschichte so komprimiert Revue passieren lassen, wie in dieser, nicht aus französischer Befangenheit geschriebenen, Geschichte der Französischen Revolution.

 

Die vorzügliche Lesbarkeit dieses Buches wird durch die umfangreiche Verwendung von zeitgenössischen Originalzitaten um den Genuss der Authentizität ergänzt. Sitzungsprotokolle, Mitschriften, Zeitungsartikel aus der damals besonders temperamentvoll in das Geschehen eingreifenden Presse, Auszüge aus diplomatischen Akten – das sind die Quellen, aus denen sich das lebendige Panorama zusammensetzt. Der Leser fühlt sich  wie ein unmittelbar Beteiligter an der in den Details wie im großen Zusammenhang so interessanten Epoche. Die Französische Revolution gehört natürlich in den Geschichtsunterricht, ist aber  – jedenfalls in der Darstellung von Johannes Willms – so in der Gegenwart und in der Welt präsent wie der Gesang der Freiheit.

Der Historiker wird eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Zeit vermissen. Woher kamen eigentlich die Mittel, die hin und wieder verteilt wurden, mit denen die Revolutionsheere finanziert wurden? Wie verteilten sich Wohlstand und Armut zwischen dem schon nach der ersten Etappe der Revolution saturierten Bürgertum und den – wie Willms scheibt – „unterbürgerlichen“ Schichten, den Sansculotten? Wie funktionierte die Verwaltung im revolutionären Paris und in der Provinz? Der an politischer Philosophie Interessierte fragt nach der Dialektik zwischen staatsbürgerlicher, am Gemeinwohl orientierter „Tugend“ und dem daraus – notweniger Weise? – entspringenden Terror. Ist es die politische Moral selbst oder die sich aus ihr entwickelnde Selbstgerechtigkeit, die in Gewalt gegen den auch am eigenen Wohlergehen interessierten Anderen umschlägt? Alles, was in dem Buch von Willms fehlt, lädt zu vertiefenden Forschungen und zu weiterem Nachdenken ein. Wer so etwas mit einem Buch auslöst, der liefert eine nachträgliche Rechtfertigung für den Ritterschlag zum „chevalier des arts et des lettres“, den er aus dem Mutterland der Revolution erhalten hat.

 

Harald Loch

 

 

Johannes Willms:                                                                             Tugend und Terror – Geschichte der Französischen Revolution

C.H.Beck, München 2014  831 Seiten mit 50 Abb.  Leinen  29,95 Euro

Das Europa von gestern

1815 war ein Schicksalsjahr für Europa. Napoleons Armeen waren geschlagen, ein ganzer Kontinent musste neu geordnet werden. Thierry Lentz wirft in „1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas“ einen einzigartigen Blick auf jenes Schlüsselereignis, das eine epochale Wende einläutete: Der Wiener Kongress war nicht nur ein schillerndes Tanzvergnügen – er war die Geburtsstunde des modernen Europa. Seine Protagonisten hatten sich Herausforderungen zu stellen, die auch in der heutigen EU wieder hoch aktuell sind: Wer und was gehört dazu? Wie soll die Rolle der Türkei aussehen? Und wie garantieren wir ein Gleichgewicht der Kräfte?

 

Thierry Lentz, einer der führenden französischen Historiker und ein profunder Kenner der Zeit, schaut hinter die Kulissen der offiziellen Diplomatie, dorthin, wo die wichtigsten Entscheidungen von Metternich, Hardenberg und Talleyrand ihren Ausgang nahmen. Scheinbar mühelos wechselt er dabei die Perspektiven und beleuchtet mit großer Eleganz und Finesse die verschiedenen Interessen der Mächte, dieses diplomatische Ringen, bei dem nichts weniger auf dem Spiel stand als die Zukunft Europas.

Lentz erzählt die Geschichte des Wiener Kongresses vollkommen neu und lässt wie nebenbei das große Panorama einer bewegten Epoche entstehen, die weitaus dynamischer und innovativer war, als wir bisher dachten.

 

Thierry Lentz gelingt es, Talleyrand, Hardenberg und Metternich zu neuem Leben zu erwecken.

 

Thierry Lentz, geboren 1959, ist ein französischer Historiker mit Schwerpunkt auf der Geschichte des 19. Jahrhunderts und Napoleon Bonaparte. Er ist Direktor der Fondation Napoléon in Paris und Autor zahlreicher historischer Essays und Bücher. Aus dem lothringischen Metz stammend interessiert er sich seit jeher für europäische Fragestellungen.

 

Europa - gestern - heute - morgen

Die Zukunft der EU und der gegenwärtige Zustand Europas beherrschen die politischen Diskussionen unserer Tage. Michael Gehler liefert einen umfassenden Überblick über die lange Geschichte Europas – von den Anfängen bis zur Gegenwart der Europäischen Union in stürmischen Krisenzeiten. Entstehung, Aufbau und Funktionen der Institutionen sowie die Entwicklung von der Montanunion bis zur EU werden allgemein verständlich dargestellt. Chronologie, Glossar, Literatur sowie zahlreiche Bilder und Karten veranschaulichen die Entwicklung der europäischen Integration.

 

Michael Gehler, geboren 1962. Seit 2006 Professor und Leiter des Instituts für Geschichte und Jean Monnet Chair für Vergleichende Europäische Zeitgeschichte an der Stiftung Universität Hildesheim. Seit 2013 Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.

 

Michael Gehler: Europa.

Von der Utopie zur Realität

ISBN 978-3-85218-938-3

424 Seiten, Paperback,

Haymon Verlag 2014

 

 

Die geistesgeschichtlichen Grundlagen Europas

 

Peter Marshall: Die Reformation in Europa

 

Drei Ereignisse markieren den  Übergang vom europäischen Mittelalter zur Neuzeit: Die Entdeckung der Neuen Welt, die Erfindung des Buchdrucks und die Reformation. Jedes für sich hätte schon eine Zeitenwende einleiten können, alle drei zusammen machen die Jahrzehnte um 1500 wirklich zu einer Zäsur, die bis in die Gegenwart wirkt.

Der schottische Historiker Peter Marshall beschreibt in seinem jetzt von Ulrich Bossier ins Deutsche übersetzten Buch „Die Reformation in Europa“ ein ganzes Bündel von dramatischen und teilweise blutigen Ereignissen: Die Reformationen, die von Luther, Zwingli und Calvin ausgingen und die zu christlichen Abspaltungen von der das Abendland bislang allein seligmachenden katholischen Kirche führten und die Reaktion dieser auf Rom und den Papst fixierten Glaubensgemeinschaft, bislang üblicherweise als „Gegenreformation“ bezeichnet. In diesem Geist wurden Kriege geführt, Minderheiten ausgerottet oder vertrieben, einzelne Widersacher umgebracht. Der Untertitel des englischen Originals benennt genau, um was für eine Art Buch es sich handelt: „A very short introduction“.

 

Diese „sehr kurze Einführung“ enthält alles, was zum Verständnis der Vorgänge und ihrer Wirkungen notwendig ist. Marshall geht in seiner Darstellung ein paar Schritte vor den hierzulande als Beginn der Reformation „gefeierten“ Thesenanschlag Luthers an der Wittenberger Schlosskirche zurück. Er verweist auf  den englischen Frühreformator John Wyclif und den böhmischen Kirchenmodernisierer Hus, der im Jahre 1415 während des Konstanzer Konzils verbrannt wurde. Er betrachtet die Reformationen gegen und innerhalb der katholischen Kirche bis etwa zum Jahre 1700, wirft aber auch einen wertenden Blick auf ihre Auswirkungen bis in die heutige Zeit. Er setzt dabei nicht nur den Schwerpunkt auf die Ereignisse in Mitteleuropa sondern auch auf das äußerst wechselvolle Reformationsgeschehen auf den britischen Inseln und in anderen Erdteilen.

 

In der historischen Bewertung der Vorgänge verwendet er seine nicht zurückhaltende Urteilskraft weniger für die Bestätigung oder Widerlegung von bislang angesammelten Thesen, die positive und negative Aspekte der jeweiligen Reformation aufstellen, sondern auf eine differenzierte Betrachtung. Marshall setzt sich zwar überzeugend mit der These Max Webers auseinander, die „protestantische Ethik“ habe den „Geist des Kapitalismus“ gefördert.

 

Seine differenzierte Behandlung historischer Zusammenhänge gelangt aber auf den verschiedensten Teilbereichen wie der Bildung von Staat und Gesellschaft, der Entwicklung des  religiösen Lebens wie der Künste oder der Haltung zur Sexualität zu Ergebnissen, die in allen Reformationen, der lutherischen oder calvinistischen wie auch der katholischen Gegenbewegung sowohl zukunftsweisende als auch retardierende Elemente ausmacht. Das liest sich manchmal so, als könnte sich der Autor nicht zwischen protestantisch oder katholisch entscheiden - darauf käme es ja auch gar nicht an.

 

Seine interessant zu lesende Darstellung entspricht  eher einer Bewertung von Zusammenhängen, die dem Wirkungsmechanismus der vielfältigen Faktoren auf den Lauf der Geschichte Rechnung trägt. Sein Fazit: „Die Reformation hat die Spaltung gebracht – und dann die Strategien, mit dieser umzugehen. Darin liegt ihr eigentliches Erbe.“ Das heißt: Er sieht in ihr die Geburt von Toleranz und Differenzierung aus dem Geist einer sich abgrenzenden Rechtgläubigkeit.

 

Harald Loch

 

Peter Marshall: Die Reformation in Europa

Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Bossier

Reclam, Stuttgart 2014   209 Seiten  19 Abb.  19,95 Euro

 

Wilfried Loth: Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte       

 

Eine unvollendete Geschichte vollendet erzählen – dafür gibt es in der Historiographie nicht allzu viele Beispiele. Wilfried Loth, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, ist mit seinem Werk „Europas Einigung“ dieses Kunststück gelungen.

 

Das außerordentlich faktenreiche, hochkomprimierte Buch liest sich leicht und gewinnbringend. Seine  Darstellung strahlt eine positive Grundstimmung aus und bildet die Bewegung, die wie Ebbe und Flut an Europas Ufern der Hoffnung schlägt, Fortschritt und Krisen ab. Der Autor geht dabei unterschiedlich vor: In der ersten Phase der Einigung Europas, die gleich nach dem Zweiten Weltkrieg begann, kann er sich auf inzwischen zahlreiche quellengestützte Einzeluntersuchungen berufen und auf der Basis eines gesicherten historischen Wissensstandes erzählen, wie sich Europa aus den Aschen des Weltkrieges gebildet hat. In der zweiten Phase, die der Autor selbst miterlebt hat, schreibt er Zeitgeschichte mit allen aus dieser Nahaufnahme entstehenden Risiken aber auch mit dem Reiz der eigenen Zeugenschaft, die bis in dieGegenwart reicht.

 

Er bewährt sich sowohl als Historiker wie als ein der Zeitgeschichte verpflichteter Wissenschaftler. Er sieht es selbst auch so und schreibt am Schluss seines Buches: „ Ob das fertige Produkt seinerseits Einfluss auf den weiteren Gang der Geschichte nehmen kann, ist natürlich höchst ungewiss und vermutlich eher unwahrscheinlich. Die Leser mögen es mir aber bitte nachsehen, wenn ich einen solchen Fortgang als eine besonders reizvolle Perspektive betrachte.“

 

Loths Buch wird sicher „Einfluss auf den Gang der Geschichte nehmen“; denn seine „unvollendete Geschichte“ der Einigung Europas stellt diese letzten Endes als unumkehrbar und auch als zukunftsträchtig dar. Wer sich durch die vielen Krisen, Eitelkeiten von Politikern, nationalen Sonderinteressen und Vorbehalten hindurch gelesen hat, wird den Eindruck nicht los, dass es zu jedem Zeitpunkt der letzten 65 Jahre genügend verantwortungsvolle Männer und inzwischen auch Frauen gegeben hat, die das ganze Projekt Europa nicht scheitern lassen wollen. Wer weiß heute eigentlich noch, dass die ersten und wichtigsten Impulse für die Einigung Europas im Jahre 1948 von Winston Churchill ausgegangen sind? Damals war nicht nur Friedenssehnsucht das treibende Argument. Genauso wichtig erschien die wirtschaftliche Zusammenarbeit, um das zerstörte Europa wieder aufzubauen. Sicher ging Churchill auch von der britischen Lieblingsidee aus, ein gewisses Gleichgewicht in Europa herzustellen. Und der beginnende Kalte Krieg ließ eine gemeinsame Haltung gegenüber der Sowjetunion wünschenswert erscheinen.

 

Später kam vor allem der französische Wunsch hinzu, eine von den Vereinigten Staaten unabhängigere Außen- und Verteidigungspolitik betreiben zu können.

Bald entwickelten sich verschiedenen Projekte in unterschiedlichem Tempo: Die wirtschaftliche Verflechtung Europas wurde die eigentliche Erfolgsgeschichte. Die politische Einigung wurde immer von dem Widerspruch zwischen supranationalen Visionen und nationalstaatlicher Souveränität behindert. Eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik wurde durch die unterschiedlichen nationalen Außeninteressen erschwert. Immer spielten die Souveränitätsfragen eine entscheidende Rolle. So konnte es in wichtigen Ländern zu der gemeinsamen Währung EURO kommen, ohne die Haushalts-und Finanzpolitik zu harmonisieren – eine Fehlleistung mit höchst aktuellen Auswirkungen.

 

Eine Leidensgeschichte ist die des Europaparlaments. Jahrzehnte lang wurden die Abgeordneten nicht direkt gewählt und ebenso lange blieben seine Entscheidungsbefugnisse beschränkt. Jede Erweiterung der Gemeinschaft war eine Zerreißprobe zwischen den einzelnen Ländern, die schon dazu gehörten und denen, die neu aufgenommen werden sollten. Eine eigene Geschichte sind die verschiedenen Anläufe eines Beitritts Großbritanniens und ebenso die polnische Weigerung, die „doppelte Mehrheit“ im Abstimmungsverfahren anzuerkennen. Die Ablehnung des Verfassungsentwurfs in den Referenden von Frankreich und den Niederlanden war der Erfolg von Populisten und ist dann elegant und etwas weniger spektakulär überwunden worden.

 

Loth streicht das Verdienst einzelner Persönlichkeiten auch aus der „zweiten Reihe“ der Beteiligten heraus. Er legt den Finger auf politische Fehleinschätzungen, kritisiert manches Junktim, das mit der Lösung von gar nicht zusammenhängenden Fragen gebildet wurde. Die Fehlentwicklung der teuren Förderung der Landwirtschaft oder auch das Schicksal der europäischen Kohlesubventionierung, das Scheitern einer europäischen Atomindustrie und auch die unterschiedlichen Vorstellungen über Nachhaltigkeit – alles wird historisch bzw. zeitgeschichtlich nachgezeichnet. Für jeden, der diese Zeit miterlebt hat, ist das Buch so etwas wie ein lebensbegleitendes Panorama, für jeden, der erst durch Geburt, Beitritt seines Landes oder Einwanderung später hinzugekommen ist, wird dieses Buch ein unentbehrlicher Schlüssel zum Verständnis sein. Es macht in seinem Realismus Hoffnung, es ist ein „europäisches“ Buch, weil es zwar von einem Deutschen geschrieben wurde, der aber als Mitglied der „Verbindungsgruppe der Historiker bei der EU-Kommission“ einen supranationalen Blick hat. Eine „europäische Öffentlichkeit“, deren Fehlen oft beklagt wird, besteht nämlich doch. Sie ist mit Begriffen wie „Erasmus“, „Arte“ oder auch, etwas weiter gefasst, „Champions League“ verbunden.

 

Harald Loch

 

Wilfried Loth: Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte

Campus, Frankfurt/New York 2014   512 Seiten   39,90 Euro