Wiederentdeckungen - Neuauflagen

Es sind nicht immer die Neuausgaben, die gerade aktuell veröffentichten Bücher oder Bestseller, die wichtig sind und oft nach drei Monaten schon vergessen sind. Hier weisen wir auf Bücher hin, die vor einiger Zeit schon erschienen sind, aber dennoch wieder an Aktualität gewinnen oder an sich nochmals lesenswert sind. 

  Elias Canetti Prozesse - Über Franz Kafka

Kann man Kafka als Maßstab und Richtschnur seiner eigenen literarischen Arbeit annehmen? Elias Canetti tut dies in einer ständigen, manchmal in verschiedenen Epochen unterbrochenen Auseinandersetzung. Kafka, das literarische Symbol der klassischen Moderne. 


Vor lauter Beschäftigung mit dem Werk Kafkas entgeht Canetti das politische Umfeld aber nicht. Zum Beispiel der Prager Frühling oder die Unruhen an der Sorbonne: “1968: sein Kafka-Jahr. Es war das Jahr der Studenten in der Sorbonne, des Prager Frühlings und der August-Katastrophe. Ein wildes, demonstratives, tragisches Jahr. Ein Jahr der abgöttischen Liebe und Verehrung, für Kafka”. Canetti nennt seine Auseinandersetzung mit Kafka “ Prozesse”, er fühlt sich auf den Spuren der “unfassbaren Originalität Kafkas” und setzt sie immer wieder in Bezug zu seiner eigenen schriftstellerischen Arbeit. »Jede Zeile von Kafka ist mir lieber als mein ganzes Werk. Denn er, nur er, ist von Aufgeblasenheit frei geblieben. […] Wenn ich an Kafka denke, sind mir meine eigenen Reaktionen schal, wie die aller Tiere, die über der Erde leben. Man muss ein Wurm sein wie Kafka, um ein Mensch zu werden (…) Wie Kafka kann ich nicht sein, sein Reich war die Ohnmacht“, 
Proust, Joyce und Kafka, sind für ihn “die drei bedeutendsten und einflussreichsten Schriftsteller” des 20. Jahrhunderts.


Das Buch der Herausgeber Susanne Lüdemann und Kristian Wachinger, erschienen schon 2019 im Hanser Verlag, versammelt einzelne Tagebuchaufzeichnungen, verschiedene Notate, Texte und Reden zu Franz Kafka.

 

Solche Formulierungen Canettis faszinieren: “Wo immer er (Kafka) den Fuß aufsetzt, spürt er die Unsicherheit des Bodens.“
Es sind die literarischen Zeugnisse “Verwandlung” und “Hungerkünstler”, die Canetti sich beschafft und zuallererst studiert.“ Von der ‘Verwandlung’ war ich verzaubert (...) sie schien mir vollkommen.”
Dabei weiß Canetti gegen andere Zeitgenossen auch kräftig auszuteilen: “Shaw ist mir ein schaler Witz, Gide sagt mir nichts, Eliot ekelt und Mann langweilt mich.” 


Macht und Übermacht ist das Thema Kafkas und dem entsprechend Ohnmacht und natürlich auch das von Canetti, der mit seinem Werk „Masse und Macht“ ein Standardwerk darüberschrieb. 


„Man muss ein Wurm sein wie Kafka, um ein Mensch zu werden. Man darf nur kriechen können und alles muss einem missglücken. Man muss Pläne machen, aus denen nie etwas wird. Man muss zu früh und nicht einmal gern sterben.” Canetti nennt es eine “ Passion der Selbstverkleinerung”, die von Kafka ausgeht und auf den Leser übergeht. Canetti liest Publikationen, Briefe, Geschichten, setzt andere Schriftsteller und Kafka immer wieder in Bezug zur eigenen Person.

 

Woher komme ich, wo stehe ich, wohin führt mich meine Arbeit. 
An manchen Stellen schreibt Canetti über aktuelle Entwicklungen. Es sind so genaue Beschreibungen, dass man sich in dem Buch mehr solche Textpassagen gewünscht hätte. Hier ein Beispiel, die Sorbonne 1968. “An den Seiten des Hofs Verkaufsstände: auf einem das Bild Maos, darunter ausgebreitet die Literatur der Maoisten; schräg gegenüber Bilder von Trotzki und Guevara, auf die Literatur dieser Anhänger herabblickend. Die Fenster oben von jungen Menschen besetzt, ein rotes Halstuch um das steinerne Standbild Victor Hugos. Junge Anarchisten rufen ihre Zeitung aus. Atmosphäre von Freiheit, in der jeder zur Rede kommt, niemand mundtot gemacht, jeder angehört wird.” Zurück zu Kafka: “Ich möchte Kafka ganz in mich aufnehmen und behüten. Anmaßung? Nein. Er ist mein kostbarster Bundesgenosse gegen die Macht.”


Oder: “Eine einzige Eigenschaft habe ich mit Kafka gemein: Stolz.”
In einem Vortrag über “Proust – Kafka – Joyce” sagt Elias Canetti: “Der Prozess, durch den Kafka sich am stärksten von anderen unterscheidet, ist ein Prozess des Zweifelns.” Eine besonders intensive Auseinandersetzung betreibt Canetti mit den Briefen Kafkas an seine Verlobte: “Ich habe diese Briefe mit einer Ergriffenheit gelesen, wie ich sie seit Jahren bei keinem literarischen Werk erlebt habe.” 
Akribie, Detailtreue, genaue Beobachtung, präzise Beschreibung, das ist das Faszinierende an den Texten des Nobelpreisträgers Canetti. Zuweilen wiederholen sich Einschätzungen in den Notizen, aber es sind ja einzelne Beobachtungen, die da aneinandergereiht werden. Da darf ein Herausgeber in solchen Tagebuchaufzeichnungen ja nicht eingreifen. 
Ein Buch für Kafkafreunde und für Germanisten sowieso. Im KAFKA-Jahr lesenswert, auch wenn es schon 2019 erschienen ist.  

 

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk/Bulgarien geboren und wuchs in Manchester, Zürich, Frankfurt und Wien auf. 1929 promovierte er in Wien zum Dr. rer. nat. 1930/31 erfolgte die Niederschrift seines Romans Die Blendung, der 1935 erschien. 1938 emigrierte Canetti nach London, wo er anthropologische und sozialhistorische Studien zu Masse und Macht (1960) aufnahm. Ab den 1970er Jahren lebte er vorwiegend in der Schweiz und erlangte weiterreichende Berühmtheit mit seinen Theaterstücken, den Aufzeichnungen und den autobiographischen Büchern, darunter Die gerettete Zunge. 1981 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. 1994 starb er in Zürich.

 

Elias Canetti Prozesse - Über Franz Kafka
Herausgegeben von Susanne Lüdemann, Kristian Wachinger HANSER

 

Presse Rezensionen


"Im Zentrum von Canettis Arbeit an Kafka steht sein großer Essay ‚Der andere Prozess‘ ... Dieser funkelnde, rund hundertseitige Text bildet denn auch den Kern der verdienstvollen Edition ‚Prozesse‘." Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung

 

"Wie man sich unbescheiden unterwürfig zeigt: Elias Canettis lebenslanges Nachdenken über Franz Kafka … Selten ist ein Briefwechsel mit vergleichbarer Akribie, detektivischer Kombinatorik und kühner Anwendung auf das literarische Werk analysiert worden." Elmar Schenkel, Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

"In seiner Beobachtungsgabe und Detailversessenheit ist Canettis Kafka ein literarisches Juwel. Der charakterlichen Abgründe Canettis wird man auch hier gewahr. Der Band ‚Prozesse‘ aber führt eine Versessenheit vor, die an Originalität und Klarheit kaum zu überbieten ist." Harry Nutt, Frankfurter Rundschau