Wiederentdeckungen - Neuauflagen

Es sind nicht immer die Neuausgaben, die gerade aktuell veröffentichten Bücher oder Bestseller, die wichtig sind und oft nach drei Monaten schon vergessen sind. Hier weisen wir auf Bücher hin, die vor einiger Zeit schon erschienen sind, aber dennoch wieder an Aktualität gewinnen oder an sich nochmals lesenswert sind. 

Verlierer - Sieger und der Frieden

Daniela Dahn ist eine bekannte deutsche Stimme aus der Friedensbewegung, studierte Journalistik arbeitete fürs Fernsehen und ist heute als freie Schriftstellerin und Publizistin bekannt.  In diesem Sammelband - schon 2022 erschienen - sind Essays zum Krieg in der Ukraine zusammengetragen, die neueren Datum sind, sich aber auch zurückblickend mit der Entstehungsgeschichte dieses Konflikts auseinandersetzen. Es geht dabei zum Beispiel um den Maidan, das Verhältnis zwischen den USA und Russland, die Rolle der NATO und der UNO, und über allem steht das zu kritisierende Kriegsgeschrei, das mit Friedenstönen übertönt werden müsse, denn Frieden sei bekanntlich mehr als Waffenstillstand und Krisenmanagement.


Es geht ihr dabei grundsätzlich darum, dass, wer Frieden schaffen will, auch eine Idee davon haben muss, wie wir eigentlich alle zusammenleben wollen. Ihre Themenpalette ist sehr breit angelegt, sie reicht von der unaufgearbeiteten Geschichte des Krieges auf dem Balkan, einer Würdigung des Friedenspolitikers Egon Bahr bis hin zum Beginn des deutschen Angriffskrieges gegen die Sowjetunion durch den Hitlerstaat und der Frage, was wir aus der Geschichte gelernt haben.
Kritik hagelt auch auf die Medien, die Nato-konform berichten würden.
Auch Grundsätzliches geht die Autorin an: Der Atomwaffen-Sperrvertrag wird interpretiert als Wille der Menschheit ohne Waffen zu leben.
Die Realität sieht aber eben komplett anders aus. Trotzdem geht es  in diesem Band eben auch um den Traum vom ewigen Frieden,  darum ob wir die USA als Partner noch brauchen? Diese Frage stellt sich aktueller denn je, aber es geht der Autorin auch um ganz grundsätzliche Fragen wie der Pressefreiheit als Möglichkeit der Menschen an der Politik Kritik zu üben.

 

Etwas seltsam aber, dass auch das Thema Pandemie als Krisenmodell in diesem Band versammelt ist.
Dieses Buch vereint also Essays über Krieg und Frieden zugleich. Die Autorin kritisiert auch das antirussische Vorgehen und die Sichtweise des Westens: Was immer ein Russe sage, könne sich nur als Propaganda am Ende herausstellen.


Sich auf Kant berufend, glaubt die Autorin, dass die Freiheit des Menschen gerade darin bestehe, das Vernünftige zu tun. Schön in Erinnerung gerufen, nur die Realität sieht eben gerade komplett anders aus. Kriegsgeschrei würde den Friedenswillen übertönen. Dennoch findet die Autorin optimistische Tonlagen zum Thema, wie der Frieden gewonnen werden kann.


Ein friedliches Leben ist dann unter Freien und Gleichen gegeben, wenn sich Menschen - durch eine blühende Kunst und Kultur befähigt, gepaart mit hohen moralischen Ansprüchen begegnen, Menschen, die großzügig, tolerant, gebildet, uneigennützig sind. Lauter Friedensdividenden im Theoretischen: „Man könnte sich ihn (den Frieden Anm. d. V.) leisten, wenn Waffen von allen Seiten nur noch in Museen das Gruseln lernen.“ 
Verlassen wir diese Art von der Traumdeutung und betreten wir die Realität: Die weltweiten Ausgaben für das Militär machen in diesem Jahr rund 2,4 Billionen US-Dollar aus. 2023 stiegen die internationalen Rüstungsausgaben, errechnet das Friedensforschungsinstitut SIPRI um fast sieben Prozent auf einen neuen Rekordwert. 


Es ist ein träumerisches Essay-Mosaik dieses Buch. Das Waffenmuseum müsste sehr, sehr groß sein. 

 

Daniela Dahn, geboren in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und war Fernsehjournalistin. 1981 kündigte sie und arbeitet seitdem als freie Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des «Demokratischen Aufbruchs» und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Sie ist Mitglied des PEN

 

Daniela Dahn Im Krieg verlieren auch die Sieger - Nur der Frieden kann gewonnen werden rororo

Bertolt Brecht - Die interviews bei Suhrkamp

„Großartig“, „macht Freude“, so loben Kritiker dieses umfangreiche Werk, das mit 752 Seiten alle Interviews des Dramatikers von 1926 bis 1956 versammelt. Darin zu blättern macht Lust und wirklich Laune, man muss als Leser ja nicht jedes einzelne Kapitel bis ins letzte Detail genießen, blättern tut es auch, wenn man die Wortgewalt des Autors, seine stilbildenden Sätze, seine Interview-Einfälle nachvollziehen will, wobei die meiste Teile gar keine genre-genauen Interviewformen darstellen, sondern eher selbst journalistische Stücke sind, wie der Autor schon in der Vorrede preisgibt, und TitTok war ja auch noch nicht erfunden. Präzise, drastisch, zugespitzt, auf den Punkt gebracht, provozierend, attackierend, das ist der Stil Bert Brechts, der dabei auch immer weiß, sich selbst als Person, als Autor, als Stückeschreiber zu inszenieren. Die Form des Interviews entwickelte sich gerade erst, und auch Brecht beschäftigte sich mit der Frage und richtete sich mit seiner Gesprächstechnik auch an ein imaginäres Publikum. In fast jeder Phase seines Wirkens, von den Anfängen abgesehen, gab Brecht Interviews, die er in der Regel in deutscher Sprache gab. 
Der Herausgeber beginnt die Kapitel mit kurzen einleitenden Texten zum folgenden Thema, zu dem Medium, zum Anlass des Gesprächs, ergänzt durch Fußnoten, Anspielungen auf Inszenierungen, Premieren, auf Veröffentlichungen und Lebensereignisse. Namen und Lebensdaten sind ins Personenregister gesperrt. Das erhöht die Lesefreundlichkeit. In einem ergänzenden Nachwort beschäftigt sich der Autor und Herausgeber mit Brechts allgemeiner Medienarbeit, die er ästhetisch und politisch in die Geschichte des Interviews einordnet. Ein nicht nur für Literaturwissenschaftler, nein auch für Journalisten und deren Ausbildungsstätten wichtiges und gewichtiges Werk

 

Bertolt Brecht 
„Unsere Hoffnung heute ist die Krise“ Interviews 1926-56 SUHRKAMP


Bertolt Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren und starb am 14. August 1956 in Berlin. Von 1917 bis 1918 studierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München Naturwissenschaften, Medizin und Literatur. Sein Studium musste er allerdings bereits im Jahr 1918 unterbrechen, da er in einem Augsburger Lazarett als Sanitätssoldat eingesetzt wurde. Bereits während seines Studiums begann Brecht Theaterstücke zu schreiben. Ab 1922 arbeitete er als Dramaturg an den Münchener Kammerspielen. Von 1924 bis 1926 war er Regisseur an Max Reinhardts Deutschem Theater in Berlin. 1933 verließ Brecht mit seiner Familie und Freunden Berlin und flüchtete über Prag, Wien und Zürich nach Dänemark, später nach Schweden, Finnland und in die USA. Neben Dramen schrieb Brecht auch Beiträge für mehrere Emigrantenzeitschriften in Prag, Paris und Amsterdam. 1948 kehrte er aus dem Exil nach Berlin zurück, wo er bis zu seinem Tod als Autor und Regisseur tätig war. (Suhrkamp)

 

Noah Willemsen hat Literatur und Philosophie in Pittsburgh und Berlin studiert. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen« und promoviert bei Joseph Vogl über die Geschichte des Interviews von Brecht bis Heiner Müller.

 

  Elias Canetti Prozesse - Über Franz Kafka

Kann man Kafka als Maßstab und Richtschnur seiner eigenen literarischen Arbeit annehmen? Elias Canetti tut dies in einer ständigen, manchmal in verschiedenen Epochen unterbrochenen Auseinandersetzung. Kafka, das literarische Symbol der klassischen Moderne. 


Vor lauter Beschäftigung mit dem Werk Kafkas entgeht Canetti das politische Umfeld aber nicht. Zum Beispiel der Prager Frühling oder die Unruhen an der Sorbonne: “1968: sein Kafka-Jahr. Es war das Jahr der Studenten in der Sorbonne, des Prager Frühlings und der August-Katastrophe. Ein wildes, demonstratives, tragisches Jahr. Ein Jahr der abgöttischen Liebe und Verehrung, für Kafka”. Canetti nennt seine Auseinandersetzung mit Kafka “ Prozesse”, er fühlt sich auf den Spuren der “unfassbaren Originalität Kafkas” und setzt sie immer wieder in Bezug zu seiner eigenen schriftstellerischen Arbeit. »Jede Zeile von Kafka ist mir lieber als mein ganzes Werk. Denn er, nur er, ist von Aufgeblasenheit frei geblieben. […] Wenn ich an Kafka denke, sind mir meine eigenen Reaktionen schal, wie die aller Tiere, die über der Erde leben. Man muss ein Wurm sein wie Kafka, um ein Mensch zu werden (…) Wie Kafka kann ich nicht sein, sein Reich war die Ohnmacht“, 
Proust, Joyce und Kafka, sind für ihn “die drei bedeutendsten und einflussreichsten Schriftsteller” des 20. Jahrhunderts.


Das Buch der Herausgeber Susanne Lüdemann und Kristian Wachinger, erschienen schon 2019 im Hanser Verlag, versammelt einzelne Tagebuchaufzeichnungen, verschiedene Notate, Texte und Reden zu Franz Kafka.

 

Solche Formulierungen Canettis faszinieren: “Wo immer er (Kafka) den Fuß aufsetzt, spürt er die Unsicherheit des Bodens.“
Es sind die literarischen Zeugnisse “Verwandlung” und “Hungerkünstler”, die Canetti sich beschafft und zuallererst studiert.“ Von der ‘Verwandlung’ war ich verzaubert (...) sie schien mir vollkommen.”
Dabei weiß Canetti gegen andere Zeitgenossen auch kräftig auszuteilen: “Shaw ist mir ein schaler Witz, Gide sagt mir nichts, Eliot ekelt und Mann langweilt mich.” 


Macht und Übermacht ist das Thema Kafkas und dem entsprechend Ohnmacht und natürlich auch das von Canetti, der mit seinem Werk „Masse und Macht“ ein Standardwerk darüberschrieb. 


„Man muss ein Wurm sein wie Kafka, um ein Mensch zu werden. Man darf nur kriechen können und alles muss einem missglücken. Man muss Pläne machen, aus denen nie etwas wird. Man muss zu früh und nicht einmal gern sterben.” Canetti nennt es eine “ Passion der Selbstverkleinerung”, die von Kafka ausgeht und auf den Leser übergeht. Canetti liest Publikationen, Briefe, Geschichten, setzt andere Schriftsteller und Kafka immer wieder in Bezug zur eigenen Person.

 

Woher komme ich, wo stehe ich, wohin führt mich meine Arbeit. 
An manchen Stellen schreibt Canetti über aktuelle Entwicklungen. Es sind so genaue Beschreibungen, dass man sich in dem Buch mehr solche Textpassagen gewünscht hätte. Hier ein Beispiel, die Sorbonne 1968. “An den Seiten des Hofs Verkaufsstände: auf einem das Bild Maos, darunter ausgebreitet die Literatur der Maoisten; schräg gegenüber Bilder von Trotzki und Guevara, auf die Literatur dieser Anhänger herabblickend. Die Fenster oben von jungen Menschen besetzt, ein rotes Halstuch um das steinerne Standbild Victor Hugos. Junge Anarchisten rufen ihre Zeitung aus. Atmosphäre von Freiheit, in der jeder zur Rede kommt, niemand mundtot gemacht, jeder angehört wird.” Zurück zu Kafka: “Ich möchte Kafka ganz in mich aufnehmen und behüten. Anmaßung? Nein. Er ist mein kostbarster Bundesgenosse gegen die Macht.”


Oder: “Eine einzige Eigenschaft habe ich mit Kafka gemein: Stolz.”
In einem Vortrag über “Proust – Kafka – Joyce” sagt Elias Canetti: “Der Prozess, durch den Kafka sich am stärksten von anderen unterscheidet, ist ein Prozess des Zweifelns.” Eine besonders intensive Auseinandersetzung betreibt Canetti mit den Briefen Kafkas an seine Verlobte: “Ich habe diese Briefe mit einer Ergriffenheit gelesen, wie ich sie seit Jahren bei keinem literarischen Werk erlebt habe.” 
Akribie, Detailtreue, genaue Beobachtung, präzise Beschreibung, das ist das Faszinierende an den Texten des Nobelpreisträgers Canetti. Zuweilen wiederholen sich Einschätzungen in den Notizen, aber es sind ja einzelne Beobachtungen, die da aneinandergereiht werden. Da darf ein Herausgeber in solchen Tagebuchaufzeichnungen ja nicht eingreifen. 
Ein Buch für Kafkafreunde und für Germanisten sowieso. Im KAFKA-Jahr lesenswert, auch wenn es schon 2019 erschienen ist.  

 

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk/Bulgarien geboren und wuchs in Manchester, Zürich, Frankfurt und Wien auf. 1929 promovierte er in Wien zum Dr. rer. nat. 1930/31 erfolgte die Niederschrift seines Romans Die Blendung, der 1935 erschien. 1938 emigrierte Canetti nach London, wo er anthropologische und sozialhistorische Studien zu Masse und Macht (1960) aufnahm. Ab den 1970er Jahren lebte er vorwiegend in der Schweiz und erlangte weiterreichende Berühmtheit mit seinen Theaterstücken, den Aufzeichnungen und den autobiographischen Büchern, darunter Die gerettete Zunge. 1981 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. 1994 starb er in Zürich.

 

Elias Canetti Prozesse - Über Franz Kafka
Herausgegeben von Susanne Lüdemann, Kristian Wachinger HANSER

 

Presse Rezensionen


"Im Zentrum von Canettis Arbeit an Kafka steht sein großer Essay ‚Der andere Prozess‘ ... Dieser funkelnde, rund hundertseitige Text bildet denn auch den Kern der verdienstvollen Edition ‚Prozesse‘." Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung

 

"Wie man sich unbescheiden unterwürfig zeigt: Elias Canettis lebenslanges Nachdenken über Franz Kafka … Selten ist ein Briefwechsel mit vergleichbarer Akribie, detektivischer Kombinatorik und kühner Anwendung auf das literarische Werk analysiert worden." Elmar Schenkel, Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

"In seiner Beobachtungsgabe und Detailversessenheit ist Canettis Kafka ein literarisches Juwel. Der charakterlichen Abgründe Canettis wird man auch hier gewahr. Der Band ‚Prozesse‘ aber führt eine Versessenheit vor, die an Originalität und Klarheit kaum zu überbieten ist." Harry Nutt, Frankfurter Rundschau