Belletristik

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Der deutsche Weg zur Atombombe

Warum habe ich zu dem Buch ATOM von Steffen Kopetzki, erschienen im Rowohlt Verlag Berlin, gegriffen, um es zu rezensieren. In jungen Jahren hat mein Vater, der für den Hitler- Nazistaat in Flugzeugen als Bordfunker fungierte, mir von der ENIGMA erzählt, einer Dechiffriermaschine, die in den Kriegsszenarien des II. Weltkrieges geheime Informationen transportierte, ohne dass sie zunächst vom Gegner entschlüsselt werden konnten. Später jedoch von den Engländern schon.

 

In jungen Jahren interessierte ich mich auch für die Entwicklungsgeschichte der Atombombe, die neben dem Manhattan Projekt in den USA auch in Peenemünde eine deutsche weniger bekannte Seite hatte. Diese nun hat der Autor in seinem Buch zu einer fiktionalen Geschichte zusammengetragen. Es werden hier also historische Fakten mit einer Thriller-Story vermischt. Das könnte ein durchaus spannungsvoller Roman werden, und in der Tat ist dieses Buch auch wirklich interessant zu lesen, doch eher wegen der historischen Fakten, weniger wegen der Spionagestory und Liebesgeschichte, die in diesem Buch auch eine Rolle spielt. Die vielen echten Personen: Nazigrößen wie Kammler, der KZ-Architekt, Goebbels, Himmler, Hitler, Wissenschaftsgrößen wie Einstein, Heisenberg, Oppenheimer, Spione wie Philby, und Raketenforscher wie Wernher von Braun und dazu die gut recherchierten historischen Details erdrücken etwas den Spannungsbogen.
Dennoch lohnt es sich, dieses Buch in die Hand zu nehmen. Zusätzlich war ich motiviert durch einen früheren Besuch bei Carl Friedrich von Weizsäcker zuhause am Starnberger See, der bei Werner Heisenberg auch forschte, wie man eine Atombombe basteln kann. In meinem Radiointerview war er davon sehr überzeugt, dass ein Atomkrieg kommen würde, und baute sich deshalb in seinem Garten einen atomsicheren Bunker, den er mir stolz zeigte. Angesichts heutiger Kriegs-Szenarien denkt man wieder an solche Geschichten: an Otto Hahn, dem es gelang das Uran zu spalten und jene unfassbare Energie damit freisetzte, die mit dem Spaltungsprozess verbunden ist. Der Atombombenabwurf in Hiroshima und Nagasaki bewies, welch schreckliche Folgen der Einsatz von Atomwaffen haben kann. In Peenemünde besuchte ich das Areal, wo die deutsche Luftwaffe ihre Raketenforschung antrieb, übrigens auch vorwärts getrieben von einem gewissen Wernher von Braun, der in den Vereinigten Staaten nach NAZI-Karriere NASA Karriere bei den amerikanischen Raketenprogrammen machte. Die gewaltigen Eruptionen, die bei einem Prozess der Kettenreaktion entstehen, werden verursacht durch ein freifliegendes thermisches Neutron, das diese Reaktion auslöst. In Ost und West wurde daraufhin der Raketenantrieb erforscht, um neue Waffen zu entwickeln. In Rumänien steht übrigens auch ein Raketen-Denkmal für einen gewissen Hermann Oberth. Der Mathematiker und Physiker, aus Siebenbürgen gebürtig, wurde durch seine grundlegenden Forschungen zur Raketentechnik zu einem der wichtigen Förderer der modernen Raumfahrt.

 

Es sind die vielen Fakten, die Steffen Kopetzki zusammenträgt, die jedoch in ihrer Ausführlichkeit zuweilen den Spannungsfortschritt der Story etwas aufhalten. Aufgestoßen ist mir an einer gewissen Stelle auf Seite 244 auch der Begriff „Schmutzeleien“, der nicht in die Kriegszeit, sondern eher ins politische Bayern heutiger Tage passt. War es bewusste Autorenironie, die hier die Feder führte, ich meine, das hätte der Lektor streichen sollen. Die atmosphärischen Beschreibungen klingen manchmal auch etwas sachlich nackt: „Die Luft war frisch, salzig und ganz und gar südlich.“


Mathematik, Physik, Geheimdienstoperationen, MI6- Figuren, ein Liebesverhältnis zwischen Kapitalismus und Kommunismus, das alles wird in den Plot gepackt, aus niederbayerischer Perspektive beobachtet, sogar der Schnaps „Blutwurz“, der auch verheerende atomare Kater-Wirkungen im Hirn haben kann. 
Geht die Liebesgeschichte zwischen dem Geheimagenten und der deutschen Atomwissenschaftlerin gut aus, kommen sie am Ende zusammen? Das wollen wir hier nicht verraten. Interessant auch die Entwicklungen, die im ehemals böhmischen Teil der heutigen Tschechoslowakei und in Prag spielen. 


Das Hauptanliegen des Buches ist jedoch, das Schicksal des Nazi-Architekten Hans Kammler zu beschreiben.  Hans Kammler hat die Vergasungsstätte in Auschwitz konstruiert und zeichnete verantwortlich für die Unter-Tage-Produktionsstätten für „Vergeltungswaffen“ wie zum Beispiel die V2. Kammlers Figur bleibt etwa zu blass. 


Im Nachwort beschreibt der Autor, dass es viele der im Roman auftauchenden Figuren wirklich gegeben hat und welche Personen er zusätzlich frei erfunden hat. Etwas mehr Fiction und etwas weniger Faction hätten dem Roman gut getan, dennoch habe ich es nicht bereut, zu diesem Buch gegriffen zu haben.


Steffen Kopetzky: "Atom", Roman, Rowohlt Berlin

 

Steffen Kopetzky, geboren 1971, ist Autor von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken. 

Was ich von ihr weiß

Endlich ein großer, ein großartiger Roman! Jean-Baptiste Andrea, 1971 geboren, hat ihn unter dem Titel „Was ich von ihr weiß“ geschrieben. Im französischen Original, für das der Autor vor zwei Jahren mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, heißt er „veiller sur elle“, also „auf sie aufpassen“. Sie, das ist Viola, Tochter aus altem italienischem Adel, eine Orsini. Er, der was von ihr weiß, ist Mimo, genialer Bildhauer aus armen Verhältnissen, nur 1,40 m groß, geboren als Michelangelo Vitaliani in Savoyen. Ursprünglich italienisch gehört die Provinz seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu Frankreich. Dieser lateinisch-katholischen Landschaft ist auch der in Cannes geborene französische Autor mit dem italienischen Namen verbunden.


Zwischen der mit einem erstaunlichen Gedächtnis ausgestatteten Viola und dem angehenden Bildhauer entwickelt sich, als beide 13 Jahre alt sind, eine den ganzen Roman beherrschende Freundschaft. Sie beginnt auf dem Friedhof des ligurischen Dorfes Pietra d’Alba. Viola legt sich dort auf Grabplatten, bald folgt ihr Mimo darin. Sie hängt ihren Gedanken, Mimo eher seinen Träumen. Mitten im Ersten Weltkrieg wechselt Italien an die Seite Frankreichs. Der Autor entwirft hinter der sich entwickelnden Freundschaft ein Panorama der Kriegsfolgen, und des Aufstiegs des Faschismus.


Mimo hat es als Lehrling in dieses Dorf zu seinem Onkel verschlagen, der dort eine Bildhauerwerkstatt betreibt. Als er zu einem Geburtstag von Viola ihr die Skulptur einer Bärin schenkt, des Wappentiers der Orsinis, beginnt seine Karriere. Er wird von Persönlichkeiten entdeckt, die sein weiteres Fortkommen fördern – nicht ohne seinen steigenden Ruhm auch auf die Familie Orsini zu lenken. Die Stationen seines Aufstiegs sind Florenz, wo er wegen seiner Kleinheit gehänselt und gemobbt wird und vorübergehend in einem Zirkus unterkommt, nach Rom, wo er, inzwischen berühmt, für Kardinäle, auch für Pacelli, den späteren Papst Pius XII. arbeitet. Zu astronomisch steigenden Honoraren. Die Freundschaft zu Viola stockt während seiner Abwesenheit, erlischt aber nie.
Sie steht in dem Roman für einen feministischen Aufbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit katholischer Frauen in den vielfarbig abgebildeten Milieus des Romans. Mimo steht für Genie und Kunst, abseits von jeder Politik auch in Zeiten Mussolinis – bis Viola ihm den Kopf wäscht. Als er in die Academia aufgenommen wird, hält er eine provozierende Rede gegen die Beteiligung Italiens an der Judenverfolgung. Er wird natürlich eingesperrt, überlebt die Haft und wird nach der Befreiung zum gefeierten antifaschistischen Helden. Viola will zur Verfassunggebenden Versammlung nach Kriegsende kandidieren. Jetzt schlägt das Schicksal in Gestalt eines verheerenden Erdbebens zu und zerstört das ganze Dorf mit ihren Bewohnern. Mimo fertigt noch eine letzte Pietà, geläutert, wie er durch Viola ist, mit einem feministischen Grundton in ihrem Gedenken. Die skandalöse Skulptur wird vom Vatikan unter Verschluss genommen und Mimo verbringt die nächsten Jahrzehnte in einem Kloster – nicht frömmer, als er zeitlebens war, aber vor der Welt geschützt, der er viel gegeben und von der er viel genommen hat.


Der Autor ist ein genialer Erzähler, einer der die ernst zu nehmenden Haupt- und die hübschen Nebenwege seines Romans mit Literatur pflastert, die Thomas Brovot hervorragend übersetzt hat. Das französisch-italienische Ambiente und der Esprit des Textes lassen Gedanken der Aufklärung ebenso zu wie die ungestüme Ausgelassenheit in Mimos Säufergelagen. Unter der zuweilen auch zu fantasievollen Führung Violas entwickelt er sich zu einem reifen Künstler mit kompromisslos werdenden Gewissen. Den Marmor aus Carrara gestaltet der auf den Vornamen Michelangelo getaufte Mimo, zu überwältigen Kunstwerken, deren Klassizität er seine Seele hinzufügt. Die gehört eigentlich nicht dem Stein, sondern Viola, einer selbstbewussten Frau, unbeugsam ihrem Gewissen folgend, schön und in ewiger Freundschaft treu.


Harald Loch


Jean-Baptiste Andrea: „Was ich von ihr weiß“   Roman
Aus dem Französischen von Thomas Brovot
Luchterhand, München 2025   508 Seiten   24 Euro

Deja vu


Show-down Bruno vs. Vézère! Seit Tagen hat es im Périgord und im Massif Central geregnet. Die 1000 Höhenmeter oberhalb von Saint-Denis entspringende Vézère, ein Nebenfluss der Dordogne, tritt über die Ufer. Etliche Talsperren, die der Stromgewinnung dienen, sind vollgelaufen und müssen Wasser ablassen, das sich mit hoher Geschwindigkeit der kleinen Stadt nähert, in der Bruno Chef de Police ist. Der Pegel und die Spannung steigen. Der schottische Autor Martin Walker, Liebhaber und Bewohner des Périgord, hat den siebzehnten Fall seines hierzulande bestens bekannten und mit seinem Publikum vernetzten Protagonisten in die Organisation der Hochwasser-Bewältigung an prominenter Stelle eingebunden. Auch diese Herausforderung wird er, zwar gesundheitlich angeschlagen, bewährt meistern. Allerdings hat er wichtigere Polizeiaufgaben zu erfüllen.

 

Der Autor, der früher aus Washington für den britischen Guardian berichtete, führt seine Leserinnen zurück in das Jahr 1944. In einem versteckten Grab entdecken Bruno und eine kleine Equipe drei Leichen – einen italienischen Marineoffizier in Resten seiner Uniform und zwei nackte junge Frauen. Die hatten ausweislich ihrer beigefügten Soldbücher in der deutschen Luftwaffe gedient. Wahrscheinlich sind sie als Feinde von der Résistance vergewaltigt und ermordet worden. Walker inszeniert um diese Vergangenheit eine eindrucksvolle Gegenwart von weiblicher Solidarität. Binnen weniger Tage trugen die Frauen von Saint-Denis ein überwältigendes Blumenmeer an dem Denkmal zusammen, das für die Résistance errichtet und in ein Mahnmal gegen jede Form von Gewalt gegen Frauen umgewidmet worden ist. Eine Geste nicht nur für die geschändeten Frauen, sondern auch für dieses Europa, in dem Menschen fähig sind, den ehemaligen Gegnern die letzte Ehre zu erweisen. Eine Messe für die drei Toten rundet diesen Akt später Versöhnung in Anwesenheit diplomatischer Vertreter der beteiligten Länder ab.


Bruno hat sich aber noch anderen Herausforderungen zu stellen: Seine gesicherten Telefone sind Angriffen von Hackern ausgesetzt. Mit vereinten Kräften selbst aus Paris gelingt es, den Cyber-Überfall nicht nur abzuwehren, sondern auch den Urheber zu entlarven. Es ist der geschiedene Ehemann einer Amerikanerin, die nach ihrer Scheidung zu Kollegen der Archäologie nach Saint-Denis geflohen ist und der ihr Ex-Mann nachstellt. Dazu versucht er in die Polizeinetze der Stadt und des ganzen Landes einzudringen. Mit Krypto-Spekulationen hatte er zunächst viel gewonnen und dann alles wieder verloren. Die neue Assistentin im Rathaus der Stadt überfällt er sogar, um deren Handy zu erobern. Durch Zufall kann Bruno einschreiten bevor der Ex-Mann und sein Helfer auf einem Motorrad fliehen. Außer dem Hochwasser also viel Action und natürlich wie gewohnt, wunderbare Dîners, angeblich leicht nachzukochende Rezepte, Ausritte auf Hector, Schmeicheleien um Balzac, den Basset Brunos und die aus vielen Krimis um Bruno bekannten und sympathischen Figuren. Sie gehören einfach in das Paradies von Saint-Denis.

 

Gegen die gelegentliche Störungen setzt ein sympathischer Chef de Police seine nahezu unerschöpflichen Fähigkeiten und sein Herz ein. Auch hier gewinnt er wieder und Martin Walker festigt die Treue seines deutschen Publikums mit „Déjà-vu“ in der hervorragenden Übersetzung von Michael Windgassen und schafft sich neue Fans, die das Positive, das Kulinarische, die friedliche und uneigennützige Verpflichtung auf das örtliche Gemeinwohl schätzen. Das tut gut in diesen Zeiten!


Harald Loch


Martin Walker: Déjà-vu   Der siebzehnte Fall für Bruno, Chef de Police
Aus dem Englischen von Michael Windgassen
Diogenes, Zürich 2025   352 Seiten   26 Euro

 

Ein Held und ein Verbrecher

Ein Held und ein Verbrecher kämpfen mit ungleichen Waffen gegeneinander. Beide sind Kommunisten in der Sowjetunion. Der kleine Roman „Zwei Staatsanwälte“ von Georgi Demidow spielt im Jahr 1937. In die ruhmreiche Geschichte der Sowjetunion ist die Zeit als die des Großen Terrors eingegangen. Im selben Jahr hatte ihr Stalin eine neue Verfassung verordnet, die, nahm man sie wörtlich, ein Gesetz mit Todesfolge sein konnte. Der Held ist ein blutjunger Staatsanwalt namens Kornew. Die juristische Ausbildung hat er gerade mit Auszeichnung absolviert. Er ist begeistertes Mitglied der KPdSU, der gelegentlich stolz sein Parteibuch wie ein passe partout vorzeigt. Als sich die letzte Tür hinter ihm schloss, hat es ihm nichts genutzt. Er ist überzeugt von den Gerechtigkeitsversprechen des Sozialismus in Gestalt der neuen Verfassung und glaubt an die Unfehlbarkeit Stalins.

 

Die kommunistische Berufslenkung verschreibt ihm eine Funktion in der Gefängnisaufsicht. Mit Eifer macht er sich daran, seinen Berufspflichten nachzukommen. Er nimmt einen Beschwerdebrief zum Anlass zu einer Visitation in dem betreffenden Gefängnis und stößt dort auf den Widerstand von Bürokraten, die sich der ungewohnten Kontrolle zu entziehen suchen. Beflügelt von seinem bolschewistischen Gewissen erstreitet er mühsam Zugang zu dem sich beschwerenden Häftling und trifft einen totkranken, zusammengeprügelten ehemals verantwortlichen Kommunisten in Einzelhaft, der seine Eingabe mit seinem Blut geschrieben hatte, weil man ihm Schreibzeug gesetzwidrig verweigert hatte. Überzeugt, dass die höchsten Stellen keine Ahnung von diesen Zuständen haben, wendet sich Kornew an den Generalstaatsanwalt der Sowjetunion, den historisch realen Wyschinski, älteren Leserinnen und Lesern noch als ehemaligen sowjetischen Außenminister und als Botschafter seines Landes bei den Vereinten Nationen bekannt. Dort trägt der gewissenhafte junge Staatsanwalt seine Beschwerden über die Zustände vor. Auf seiner Rückfahrt wird er von zwei KGB-Agenten getäuscht und entführt, inhaftiert und zu einer langen Arbeitslagerstrafe verurteilt, deren Ende er nicht mehr erlebt.


Besagtem Wyschinski, dem zweiten Staatsanwalt des Romans, widmet der Autor ebenfalls kritische Lebensausschnitte. Er entstammte einer polnisch-katholischen Familie und war schon kurz nach 1900 den sozialdemokratischen Menschewiki beigetreten, hatte sich aber durch allerlei Wendungen den erfolgreich den Bolschewiki unter Lenin und Stalin angedient und dort Karriere gemacht. Für seine Arbeit Die Theorie der Beweisführung beim Gericht nach sowjetischem Recht wurde ihm der Stalin-Preis Erster Klasse zugesprochen. Als Beweis galten ihm ausschließlich Geständnisse. Wie sie zustande kamen, beschreibt der Autor mit seinen sehr eindrucksvollen literarischen Mitteln. Georgi Demidow (1908 – 1987) war im Gebiet der heutigen Ukraine aufgewachsen, war ein sowjetischer Elitephysiker, wurde 1938 verhaftet, ein halbes Jahr lang vom KGB verhört und überlebte 14 Jahre Gulag. Alles, was er danach schrieb, wurde 1980 beschlagnahmt und gelangte durch Zufall erst nach der Perestroika an die Öffentlichkeit. Jetzt liegen die ersten deutschen Übersetzungen vor – Zeugnisse nicht nur für die Zeit des Großen Terrors des Jahres 1937 sondern auch einer außergewöhnlichen literarischen Begabung des Physikers Demidow. Er gewinnt den angeprangerten Zuständen in den sowjetischen Gefängnissen auch urkomische Seiten ab. Ein Kabinettstück ist seine literarische Bewältigung des Brennstoffmangels in der Haftanstalt, indem er nie weitergeleitete Beschwerdebriefe von Gefangenen als Brennmaterial für die Eisenöfen verwenden lässt. Einem der mit dem Heizen beauftragten Gefangenen fällt die mit Blut geschriebene Beschwerde auf, die er irgendwie auf den Weg bringt und die Kornew veranlasst, sich darum zu kümmern. Grauenvoll ist das alles, aber Demidow macht daraus Literatur. Er ermöglicht dadurch erst die Lesbarkeit seiner Verteidigung Kornews wie der Anklage gegen Wyschinski. Ein glückliches Wunder, dass die „Zwei Staatsanwälte“ erhalten sind und jetzt von Thomas Martin und Irina Rastorgueva herausgegeben, kommentiert und übersetzt worden sind.


Harald Loch


Georgi Demidow: „Zwei Staatsanwälte“   Eine Geschichte aus dem Großen Terror   Roman
Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Thomas Martin und Irina Rastorgueva
Galiani Berlin, 2025   232 Seiten   22 Euro

 

Fitzgerald: Der große Gatsby - neu!

Immer noch und immer wieder: Der große Gatsby von F. Scott Fitzgerald feiert hundert Jahre nach seiner Erstveröffentlichung einen neuen Auftritt in der Weltliteratur. Bei Manesse erscheint der Roman in neuer (der wievielten?) Übersetzung von Reinhard Robben. Für alle, die den Gatsby schon längst im Bücherschrank haben, bietet dieser gewohnt kostbar hergestellte Band dennoch einen schönen Mehrwert: Korrespondenzen aus der Entstehungszeit mit dem Verleger, mit Schriftsteller-Kollegen wie Hemingway oder mit Gertrude Stein, zeitgenössische Rezensionen unterschiedlicher Qualität und ein sehr lesenswertes Nachwort von Claudius Seidel bereichern den schönen alten Text.

 

Seidel ruft die bisherigen Verfilmungen des Gatsby mit prominenten Darstellern in Erinnerung. Ein ausführlicher Textkommentar des Herausgebers Horst Lauinger trägt zum besseren Verständnis mancher dem damaligen amerikanischen Publikum selbstverständlicher Stellen bei.


Was macht die dauerhafte Faszination des Romans aus, die sich auch in dieser guten neuen Übersetzung einstellt? Zunächst einmal die interessante Erzählperspektive. Fitzgerald lässt mit Nick Carraway als teilnehmenden Beobachter und Narrator eine moralische Instanz die Welt des ungeheuren Reichtums, die Welt des in Strömen fließenden Champagners mitten in der Prohibitionszeit erleben. Claudius Seidel diskutiert in seinem Nachwort die Frage, ob nicht dieser Nick Carraway der eigentliche Protagonist dieses Romans ist, der das Ich des Autors vertritt. Oder geht es doch eher um Gatsby, dessen bescheidene Herkunft sich auf unaufgeklärte Weise in unvorstellbaren Reichtum verwandelt hat?

 

Er hat auf einer Halbinsel in Long Island nahe der City von New York einen Palast an der Küste errichtet, in dem er an Wochenenden rauschende für Hunderte geladene und ungeladene Gäste Partys feiert. Sein mit allen Zeichen neuen Reichtums gezeichnetes Schloss liegt gegenüber einem Anwesen, in dem seine heimliche Sehnsucht Daisy mit ihrem Ehemann Tom Buchanan lebt, Angehörige der Geldaristokratie alten Vermögens. Luxus herrscht beiderseits der Meeresbucht. Daisy ist eine entfernte Cousine des erzählenden Beobachters, der wiederum zufällig der Nachbar von Gatsby geworden ist. Nick bringt Daisy und Gatsby, die sich vor Jahren schon einmal nähergekommen waren, wieder zusammen. Die alte Liebe ist zwar nicht gerostet, aber die bequeme Erotik des vielen und sicheren Geldes des Tom Buchanan zieht stärker als die Erotik eines Neureichen mit zweifelhafter Herkunft. Ein Showdown zwischen Gatsby und Tom in einer für einen Nachmittag gemieteten sündhaft teuren Suite im New Yorker Plaza Hotel führt zu einem Abbruch auf Veranlassung von Daisy. Auf der Rückfahrt mit Gatsbys Wagen verursachte sie einen Unfall, dem ausgerechnet die heimliche Geliebte ihres Mannes Tom zum Opfer fällt, der in einem anderen Wagen aus New York zurückkehrt. Diese Verstrickung erinnert an das Schicksalhafte griechischer Tragödien, das bis zum Ende des Romans schrecklich weiterwirkt.


Das alles erzählt Nick Carraway in betörend schönen Sätzen, in denen er seine nüchterne Unkorrumpiertheit auf bescheidene Weise, doch ein wenig selbstverliebt zur Schau stellt. Fitzgerald hat diesen Roman in Saint-Raphaël an der französischen Riviera geschrieben. In seiner Korrespondenz mit dem Verleger kommt er immer wieder auf die zu erwartenden Verkäufe des noch nicht erschienenen Buches zu sprechen, auf das er schon großzügige Vorschüsse erhalten und weitgehend in eigenem Luxus verprasst hat. Die Auflagen reichen knapp, diese Vorschüsse zu tilgen und der im Roman so großzügig geflossene Champagner wird auch Fitzgerald zum Verhängnis. Wie gut, dass er für den Roman vom großen Gatsby einen so begnadeten, unschuldigen Erzähler erfunden hat!


Harald Loch


F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby
Kommentierte Jubiläumsausgabe mit Korrespondenzen, Rezensionen und einer 100-Jahre-Gatsby-Zeittafel
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Bernhard Robben, herausgegeben und kommentiert von Horst Lauinger
Mit einem Nachwort von Claudius Seidel
Manesse, München 2025   352 S.   30 Euro

 

Die Allee - Leben in der DDR

Das alles hat es gegeben. So, oder wenigstens so ähnlich wie Florentine Anders die Geschichte ihrer Großeltern, einen interessanten Ausschnitt der Geschichte der DDR oder die der „Allee“ erzählt. Der Reihe nach: die Großeltern sind Irene, im Roman Isi, und Hermann Henselmann mit 8 Kindern. Darunter ist Isa, das enfant terrible, die zweite starke Frau des Romans und Mutter der Autorin. Der Ausschnitt aus der Geschichte der DDR beginnt schon vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem ersten Baukunstwerk Henselmanns bei Montreux in der Schweiz und endet nach dem Aufgehen der DDR in der sie vereinnahmenden Bundesrepublik. Hier sind es zwei Aspekte, die den thematischen Kern des Romans bilden: Die Geschichte und das Wohnen in der Stalinallee, die bald Karl-Marx-Allee heißen würde und das Leben einer privilegierten Boheme-Schicht mit bemerkenswerten Persönlichkeiten direkt unterhalb der politischen Macht.


Die Autorin bündelt das Wesentliche mit Erfundenem oder Nachgestelltem zu einer gut erzählten Romanstory, in der nicht nur die historischen Widersprüche der real existierenden DDR, nicht nur die ewigen Fragestellungen in einer Ehe und in der Kindererziehung, sondern auch der Kalte Krieg eine Rolle spielt. Der Bruder von ISI lebt schon lange vor dem Mauerbau in Bonn, ist Diplomat und scheut als Beamter jeden Ostkontakt, also auch den zur Familie. Der Bruder von Hermann lebt als Händler in Hamburg. Beide werden irgendwann vom Bundesnachrichtendienst wegen Spionageverdachts verhaftet, der sich als unbegründet herausstellt. Ein Bundeswehr-Überläufer wird unter Mithilfe der Stasi mit Isa verlobt, aber bald als Doppelagent in der DDR eingesperrt.


Die Prominenz der DDR gibt sich die Ehre bei den Henselmanns, wo auch immer sie wohnen, in Niederschönhausen oder in einer Siebenzimmerwohnung in der „Allee“. Der algerische Psychologiestudent Assim verliebt sich in Isa und sie sich in ihn. Beide planen die Übersiedlung in das gerade unabhängig gewordene Algerien. Voraussetzung ist, dass Isa von ihm schwanger wird. Sonst würde das dem Ansehen seines Vaters schaden. Die Zeugung eines Kindes gelingt nicht und der Algerientraum platzt. Später erfährt Isa dass der Vater von Assim sich inzwischen zum Präsidenten geputscht hat, es handelt sich um Boumedienne, den Nachfolger Ben Bellas. Unter solchen Spitzen geht es offenbar nicht in der Familie Henselmann. Karin, die Schwester von Isi war inzwischen mit dem Chemie-Professor und Dissidenten Robert Havemann verheiratet. Isis selbständiger werdende, vom Vater Hermann immer wieder gemaßregelte und auch geschlagene Tochter Isa lebt in einer Art Kommune mit Jazzmusikern zusammen und bekommt ihrerseits fünf Kinder von verschiedenen Männern, darunter die Autorin. Mutter Isi Henselmann wurde noch von den Nazis für ihren vielen Kinder mit dem Mutterkreuz ausgezeichnet, ihre Tochter Isa zu ihrem fünften Kind in der DDR mit einigen Privilegien geehrt.


Viele Einzelheiten gehören der Familie – am Ende versammelt die Großmutter ISI 24 Enkelkinder in ihrer wieder bezogenen, jetzt kleineren Wohnung in der „Allee“. Ein zweiter Erzählstrang ist weniger biografisch: Er erzählt Architekturgeschichte. Henselmann war kein Schüler, aber ein Bewunderer des Bauhauses und von Le Corbusier. Er hatte auch für den Neuaufbau der sehr zerstörten Wohnsubstanz in der DDR moderne Ideen. Er wollte, dass an die Bewohner der von ihm entworfenen Bauten gedacht würde. Seine Pläne, auch für die „Allee“ wurden zunächst in Moskau und dann auch von den Mächtigen der DDR immer wieder ideologisch gestutzt. Henselmann gibt meist nach, macht aber immer weiter. Die Ergebnisse sind ansehnlich, aber er macht sich Feinde unter Kollegen und auch die ökonomische Enge ist ein Feind für seine Pläne. Dennoch entstehen nach den ersten Bauabschnitten der „Allee“ noch das bemerkenswerte „Haus des Lehrers“ am Alexanderplatz oder das markante Hauptgebäude der Universität in Leipzig nach seinen Entwürfen. Für den Fernsehturm am Alex steuert er die bestechende Idee einer Restaurantkugel in der Höhe bei.

 

Das ist alles von architektonischer Qualität. Das sind keine Ingenieurbauten ohne ästhetische Prägnanz und ohne Pfiff, der so oft in der DDR fehlte oder fehlen musste. Das Buch ruft das alles ins Gedächtnis und verwebt es mit der eindrucksvollen Frauen- und Familiengeschichte der Henselmanns zu einem von der Enkelin Isis und Hermanns auch literarisch anspruchsvoll geschriebenen Roman.


Harald Loch
 
Florentine Anders: „Die Allee“   Roman
Galiani Berlin, 2025   354 S.   24 Euro

 

Florentine Anders, geboren 1968 in Berlin, ist Enkelin der Henselmanns. Sie studierte an der Universität Leipzig und der Université Assas in Paris. Danach absolvierte sie die Journalistenschule Centre de Formation des Journalistes (CFJ) in Paris und arbeitete als freie Journalistin in Frankreich und Deutschland

Die Wahrheit flüstern

Die Crescent Bay liegt auf Tasmanien, dieser ehemaligen Sträflingsinsel südlich von Australien, dessen kleinster Bundesstaat sie heute ist. Die Bucht, von der sich Katherine Mansfield (1888 bis 1923) zu einer ihrer modernsten Erzählungen inspirieren ließ, war schon das, was man eine Sommerfrische nennen könnte, als die jung verstorbene Autorin vor mehr als hundert Jahren den Mikrokosmos während der Ferien mir den Augen einer wachen Frau wahrnahm. Im Mittelpunkt steht das Ferienhaus der Familie Burnell. Die besteht aus Stanley, einem Möchtegern-Liebhaber seiner Ehefrau Linda, mit der er drei Kinder hat. Dazu gehören noch deren Großmutter und Lindas Schwester Beryl. Nach und nach werden Nachbarn in die zwölf Szenen der Erzählung eingeführt. Die Landschaft, das Wetter und das Meer bilden die poetische Naturkulisse, vor der die von Nicole Seifert sehr schön übersetzte Prosa der in Neuseeland geborenen Autorin ihre vor hundert Jahren noch unerhörten Gedanken andeutet. Die vielleicht doch trügerische Ruhe in der Bucht, die dem geschäftigen Stanley so etwas wie abendliche Familienidylle beschert, bedeckt eigentlich nur die Langeweile dort, die nicht auf die Erzählung abfärbt. Die Kunst der Mansfield besteht darin, diese – man könnte sagen „strukturelle“ – Langeweile spannend und tiefgründig als Teil unserer Lebensbedingungen darzustellen. Linda liebt ihre drei Kinder nicht und stellt sich die Frage, ob das Mutterdasein das hinzunehmende Schicksal der Frauen sei. Ihr Mann und der Onkel ihrer Kinder stellen sich die Frage, ob das Eingesperrt-Sein in den Beruf und die unerfüllt bleibenden Karrierewünsche das Dasein ausmachen. Die Autorin begnügt sich mit getupften Andeutungen dieser Themen und macht sie mir dieser scheinbaren Leichtigkeit, dieser vorgeblichen Unwichtigkeit zum Kern ihrer Erzählung. Man muss ihn entdecken. Er ist nicht versteckt, sondern literarisch verdeutlicht.


Dabei hilft das sehr kluge essayistische Nachwort der Übersetzerin: „Immer wieder gibt es in Mansfields Story den einen Moment des Erkennens, des Erschreckens, den einen Satz oder die eine Beobachtung, die Erwartungen und Wünsche zerbrechen lässt und alles verändert – oft, ohne dass äußerlich etwas zu merken gewesen wäre. Die Gestaltung solcher Kippmomente beherrscht Mansfield meisterhaft. Ihr großes Gespür, die von den Figuren erlebten Widersprüche metaphorisch einzufangen, vorher genug preiszugeben, um alles einordnen zu können, aber nie zu viel, so dass immer etwas offenbleibt, das sucht in dieser Perfektion in der Weltliteratur seinesgleichen.“  Das Offenbleiben von gesellschaftlich bedingten Widersprüchen und die Ambivalenz der Charaktere betonen gerade die Dringlichkeit ihrer Benennung. Die leichte Feder der Autorin setzt dazu einen literarisch gemeinten und erfolgreichen Kontrapunkt: Sie flüstert ihre Wahrheit und beglaubigt sie mit diesem Ton.


Harald Loch

 

 

Katherine Mansfield In der Bucht MARE

 

 

Katherine Mansfield (1888– 1923) wurde in Neuseeland als Kathleen Mansfield Beauchamp geboren, ging in England zur Schule und freundete sich dort später mit Virginia Woolf und D. H. Lawrence an. Sie starb mit nur 34 Jahren in Frankreich an Tuberkulose. Mansfield hinterließ Notizen, zahlreiche Briefe und 73 Erzählungen, die zu den besten ihrer Gattung gezählt werden.

 

Anne Enright: „Vogelkind“  - ein Roman

So kann man es auch sagen, wie Carmel, als sie eine fundamentale Wahrheit über sich selbst erkannte: „Sie mochte Männer – man hätte sogar sagen können, dass sie Männer bevorzugte, auch wenn sie anscheinende Probleme hatte, mit ihnen zu schlafen -, aber ihr Gefühlsleben kreiste um Frauen, mit denen sie sich nicht verstand.“

 

Carmel war die jüngere Tochter des verstorbenen, real existierenden berühmten irischen Dichters Phil McDaragh. Der kommt als Phil auch postum zu Wort in dem sehr irischen Roman „Vogelkind“ der 1962 in Dublin geborenen Anne Enright, der Im englischen Original The Wren (dt: Der Zaunkönig) heißt. Ganz so problematisch war es für Carmel aber offenbar nicht, mit einem Mann zu schlafen, denn sie wurde eines mehr oder weniger überraschenden Tages von ihrer Tochter Nell entbunden, der zweiten Hauptperson in diesem über drei Generationen handelnden Familienroman.

 

Die arbeitet für eine Influence-Agentur mit ausgedachten Texten über Destinationen, die sie nie gesehen hatte. Die natürlichen Vorgänge beschreibt die Autorin mit einem gern auch ironischen Anflug von anthropologischer Lebensweisheit, wenn sie z.B. verlauten lässt, dass sich Liebe und Sex nicht gut vertragen, dass Frauen unzuverlässig seien, anders als Männer, die aber manchmal auch brutal sein können. Sex nimmt einen bemerkenswerten Anteil an diesem Roman in Anspruch, nie vulgär, selten erfüllend, aber für Nell nicht unwichtig mit irgendwie zweifelhaftem Wiederholungsdrang.


Zwischen Mutter Carmel und der damals noch jugendlichen Tochter Nell ist es aus nichtigem Anlass zu einem Handgemenge gekommen, das längere Schatten wirft, die aber nach Jahren in einem irischen Vorgarten mit Blickkontakt Nelles zu einem Gimpel durch die Frühlingssonne im Hellen verwischt werden. Irische Folklore, wie eine traditionelle und männlich-brutale Jagd auf einen Dachs – einem vielleicht fiktiven Gedicht von Nells Großvater folgend – oder eine Trauerfeier für diesen in den USA verstorbenen und in die Heimat überführten Phil machen aus dem Buch nicht etwa einen Heimatroman, sondern bilden die von Wind, Wetter und Traditionen gegerbte Haut des Luxuskörper dieses hinreißend geschriebenen Romans. Zu der Trauerfeier war auch die in Amerika in zweiter Ehe geheiratete Witwe nach Irland gekommen, von der noch kindlichen Nell als „Oma“ tituliert, sie war ja eine der beiden Frauen ihres Großvaters.


Der Roman besticht weniger mit seiner aus wechselnden Perspektiven der Frauen oder auch von Phil geschriebenen Inhalten als mit der plaudernden Erzählkunst, über die Enright gebietet. Manchmal driftet sie vom Hundertsten ins Tausendste. Immer stellt sie aber wieder einen Zusammenhang her und versprüht Witz, oft auch selbst-zweifelnde Sinnlichkeit und Weisheit. Eva Bonné hat das in ihrer treffenden Übersetzung prima hinbekommen. Trotz des vielen Regens fühlt sich die Leserschaft wohl in diesem Irland, in dem das Absonderlich-Sein fast zum guten Ton gehört, in dem Der Zaunkönig zwitschert und den das Vogelkind Nell bei vielen Arten heraushört.

 

Harald Loch

 

Anne Enright, 1962 in Dublin geboren, zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde 2015 zur ersten Laureate for Irish Fiction ernannt. »Das Familientreffen« (2007) wurde unter anderem mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet, ist in gut dreißig Sprachen übersetzt...


Anne Enright: “Vogelkind”   Roman
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin Random House, München 2025   302 Seiten   24 Euro

 

RILKE - Dichter der Angst - eine Biographie

Robert Musil brachte es auf den Punkt. Auf einer Gedenkveranstaltung für den am 29. Dezember 1926 verstorbenen Dichter sagte er im Berliner Renaissancetheater: „Rainer Maria Rilke war schlecht für diese Zeit geeignet. Dieser große Lyriker hat nichts getan, als dass er das deutsche Gedicht zum ersten Mal vollkommen gemacht hat.“ Das war, wie sein Biograph Manfred Koch vermerkt, als Widerspruch gegen die Rilke-Verächter unter den Gebildeten Deutschlands formuliert worden, zu denen vor allem Brecht gehörte. Der 1955 in Stuttgart geborene Rilke-Biograph legt seinerseits ein Werk vor, mit dem er die Kunst der Dichter-Biographie „vollkommen“ macht: Hinreißend formuliert kommt er dem komplizierten Wesen und dem Werk Rilkes in einer Weise nahe, die Maßstäbe nicht nur für die Auseinandersetzung mit dem „größten deutschen Lyriker seit dem Mittelalter“ (Musil) setzt. Der literaturwissenschaftliche Tiefgang z.B. in dem großartigen Kapitel über Rilkes Tagebuch-Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge oder in der Behandlung der Duineser Elegien fasziniert und ersetzt ein Jahrhundert germanistischer Annäherungsversuche an diese Werke. Koch ordnet sie in die komplizierten psychologischen Situationen während Rilkes bewegten Lebens ein, das von einem mit Noblesse ertragenen Künstler Prekariat gekennzeichnet war und von großzügigen Mäzenen äußerlich in Gang gehalten wurde.
An den wichtigsten Lebensstationen macht auch die Biographie Halt: Die Kindheit in Prag mit der zu Mütterlichkeit nicht befähigten Mutter, die Zeit in k-u-k Militär-Schulen, erste Schreibversuche, deren literarische Bedeutungslosigkeit Koch ohne Häme benennt. Der Beginn seiner Beziehung zu Lou Andreas-Salomé, die beiden wichtigen Russlandreisen mit ihr um die Jahrhundertwende, sein anschließender Aufenthalt in Worpswede, wo er seine Frau kennenlernte, die Bildhauerin Clara Westhoff und auch Paula Becker, die später Modersohn-Becker wurde, schließlich seine Übersiedlung nach Paris zu Auguste Rodin – alles behandelt Koch mit einem empathischen Blick auf die Bedeutung, die diese Stationen für das Leben und das Werk Rilkes hatten. Vor allem die lange Zeit in der Großwerkstatt von Auguste Rodin lehrte Rilke den Wert der Genauigkeit bei der Betrachtung der DINGE, die er später im Rahmen der Erfahrung der Malerei Cézannes noch differenzierte. Wie sehr die Paris-Erfahrungen in den Malte einflossen, wie genial er seinen Ekel literarisch verarbeitete, wie sehr ihn die Großstadt belastete, so dass er nach Italien floh, wo er auf Capri das Requiem für eine Freundin zum Tode von Paula Modersohn-Becker schrieb. Vorher noch sein Schweden-Aufenthalt mit tieferem Einblick in das nordeuropäische Adelsleben, den er im Malte zu Literatur werden ließ. Immer war er auf Reisen, fast immer finanziert von Gönnern, zuletzt von der Fürstin Marie von Thurn und Taxis, die ihm schließlich ihr Schloss in Duino an der Adria-Küste zur Verfügung stellte, wo die Elegien, das lyrische Hauptwerk Rilkes entstehen konnten. Den Weltkrieg musste Rilke nicht als Soldat, sondern im Wiener Kriegsarchiv verbringen. Danach sympathisierte er locker mit den Protagonisten der Münchner Räterepublik Kurt Eisner und Ernst Toller und übersiedelte anschließend in die Schweiz, wo er dank neuerlicher Mäzene das Chateau Muzot bei Sierre bezog. Dort schrieb er noch die 55 Sonette an Orpheus und arbeitete bis zu seinem Tode im Wesentlichen als Übersetzer Paul Valéries, der ihn, als Rilke schon an Leukämie erkrankt war, in Muzot besuchte. Der späte Briefwechsel mit Martina Zwetajewa und Boris Pasternak blieb eine schon vom Ende gezeichnete Alterskorrespondenz.
Manfred Koch ist in seiner Biographie ein Lebensporträt Rilkes gelungen, dessen literaturgeschichtlicher Gehalt überwältigend ist. Mit großem Gewinn können seine Leserinnen und Leser auch die kleineren Ausflüge des Biographen an die zeitgenossenschaftlichen Ränder am Leben Rilkes lesen, die genussvollen Zitate markanter Stellen anderer Autoren verfolgen und sich zur vielleicht wiederholten Lektüre der Aufzeichnungen des Malte, der Duineser Elegien oder der Sonette an Orpheus eingeladen fühlen. International gelten sie als herausragende Beispiele deutscher Dichtkunst.


Harald Loch


Manfred Koch: Rilke   Dichter der Angst   Eine Biographie
C.H.Beck, München 2025   560 Seiten   30 Abb.   34 Euro

 

Reale Geistergeschichte

Dieser Stammbaum ist nicht für einen Ariernachweis gedacht. Er steht auf dem Vor- und dem Nachsatz des gebundenen Romans von Rabea Edel „Portrait meiner Mutter mit Geistern“ und nur über ihn gelangt man zu dem Schlüsselsatz des Romans. Bei der Lektüre sind diese Stammtafeln willkommen. Sie enthalten in gerader Abstammungslinie die Urgroßmutter Dina, deren Tochter Selma, wiederum deren Tochter Martha und schließlich Raisa und – namenlos – deren Kind. Alle Frauen sind mit ihren Lebensdaten versehen, einige mit ihren ehelichen, unehelichen Männern, von sich einige haben scheiden lassen. Der Stammbaum benennt auch die Geschwister sowie die bei der Geburt gestorbenen Kinder. Alle stammen aus oder lebten in Bremerhaven, auch der Geburtsstadt der Autorin, deren Geburtsjahr 1982 mit dem von Raisa übereinstimmt. In einer Nebenlinie irritiert, dass Meta von 1898 nur bis 1943 gelebt hat. Von ihr ist ein Brief aus einem Lager in Minsk an ihren Sohn Jakob erhalten. Der und sein Freund Oskar waren Jugendfreunde von Selma. Verwirrend? In 15 Kapiteln erzählt die Autorin auf wechselnden Zeitebenen in Vor- und Rückblicken von den Frauen und ihrem nie leichten Leben, ihren tragischen Fehlgeburten, aber auch ihren Glücksmomenten. Besonders die Kindheit von Selma und ihren Freunden Oskar und Jakob bezaubern mit der Poesie einer jungen Verliebtheit, mit bestechenden Dialogen zwischen den unschuldigen Kindern, die auf den Wiesen im Hinterland der Nordsee ihre erste und vielleicht einzige Freiheit lebten.
Die Geliebte von Jakobs Vater hatte eine geheime Unterkunft für den jüdischen Jugendlichen erkundet und ihn in eine katholische kirchliche Einrichtung im Rheinland geschickt. Dort wird er ohne sein Zutun getauft. Als die Kirche ausgebombt wird, macht er sich unerkannt zu Fuß auf den Weg nach Bremerhaven, will dort seine Kindheitsliebe Selma wiederfinden. Das geschieht auf der vertrauten Wiese in dramatischer Weise in den letzten Kriegswochen. Selma wird von deutschen Soldaten vom Rad gezogen und – die Autorin beschreibt nur, dass ein einsetzendes Gewitter die Männer vertreibt. „Einer schnürte im Laufen die Hose zusammen, fluchte“. Jakob hatte sich versteckt und ging, als die Männer weg waren, zu Selma, die ihn kaum erkannte. Sie zerrte Jakobs Hose hinunter „Du musst. Jetzt sofort“ und „niemand darf das hier erfahren“ und schließlich sagt sie den ungeheuren Schlüsselsatz dieses Romans: „wenn jetzt irgendetwas passiert, dann ist es von dir. Damit kann ich leben.“ Kurz darauf begegnet Selma einem Mann, Heinrich, den sie blitzgescheit heiratet und der das, „was irgendwie passierte“, nämlich die unverdächtig bald geborene Tochter Martha, als sein eigenes Kind ansah. Martha konnte, sie musste damit leben. Allen späteren Fragen Marthas nach ihrem Vater oder Raisas nach ihrem Großvater wichen die Mütter aus – „niemand darf das hier erfahren“.
Jakob wandert gleich nach Kriegsende in die USA aus und zieht zu William, einem Bruder von Dinas Ehemann. Er wohnt notdürftig im Laden und hilft in „William’s Deli“ aus. Er fängt an, sich zu erinnern, immer verschwommen, mit Fantasien und Träumen garniert. In Bremerhaven schweigen sich alle, auch vor sich selber, über alles aus, fantasieren sich in nichtwirkliche Welten, verzweifeln, werden absonderlich, erleben Geister. Jakob ist inzwischen schon über 90 Jahre alt, kein Katholik mehr. Er erzählt das alles wenige Tage vor Jom Kippur, dem Versöhnungsfest, Olivia, einem Mädchen aus der Nachbarschaft – zum ersten und zum einzigen Mal. Nur so, dass die Autorin es in ihrem großen Roman verwenden kann. Sie schreibt diese über hundert Jahre laufende Familiengeschichte überzeugend, hält die komplizierte Konstruktion des Buches bewundernswert zusammen, bindet die verschiedenen Erzählstränge zu einer Romanhandlung, die auf wahren Begebenheiten basiert. In der diskreten Sprache der Autorin verlieren die Ungeheuerlichkeiten der Handlung das Stigma des Unwahrscheinlichen. Die Geister, die sie beschwört, dienen der Erfahrung der emotionalen Tiefe in den Empfindungen der Frauen und auch Jakobs. Diese Geister sind real, aber sie laufen der Autorin nicht davon. Es bleiben die Bilder deutscher Vor- und Nachkriegsgeschichte, der Verfolgung. Es bleiben die Bilder der Wiesen bei Bremerhaven und es bleiben die Persönlichkeiten dieser außergewöhnlichen Frauen. Sehr beeindruckend!


Harald Loch


Rabea Edel: Portrait meiner Mutter mit Geistern   Roman
C.H.Beck, München 2025   396 Seiten   26 Euro
 

 

Demut zwischen allen Fronten

„Ich bin selbst schuld …, dass ich diese geistige Unbeugsamkeit, diese innere Würde nicht besaß, um Verantwortung für mich selbst zu übernehmen, selbst zu entscheiden, Subjekt, nicht Objekt …“ Wer kennt solche Selbstzweifel nicht?


Zu dieser bitteren Selbsterkenntnis kommt der Ich-Erzähler Alois Pokora erst auf Seite 456 (von insgesamt 463 Seiten) dieses fesselnden Romans, nachdem ihm zuletzt alle Felle davon geschwommen sind (mehr sei hier nicht verraten!).


Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch schildert Aufstieg und Fall des oberschlesischen Bergmannssohns, der Anfang des 20. Jahrhunderts mehr will als das ihm vorgegebene Schicksal in den Gruben. Durch Unterstützung eines Pfarrers kann er als einziger seiner Familie das Gymnasium besuchen und studieren, zieht freiwillig in den Krieg, wird gar Offizier.


In den Wirren nach Kriegsende gerät der Verwundete in Berlin 1918 in die Revolution, wird Spartakist, kommt durch viele Zufälle am Ende wieder in die Heimat und versucht dort, ein „normales Leben“ zu führen mit zivilem Job, Frau und Kind.


In Wirklichkeit trifft er jedoch seine Entscheidungen nicht freiwillig, sondern er bleibt Objekt Dritter. Und seine militärische und revolutionäre Vergangenheit holt ihn ein, er gerät in Oberschlesien zwischen alle Fronten, denn dort geht der Krieg weiter zwischen Deutschen und Polen, selbst nach der Volksabstimmung 1921, durch die das Land, schon immer zweisprachig, aufgeteilt wird.


In diesem Buch lernt man viel über die Befindlichkeiten der Menschen in der umkämpften Region und die historischen Ereignisse (ich musste etliches online nachlesen!). Man lernt die oft überheblichen Deutschen und die oft unterwürfigen Polen kennen, die schon mal die Sprache wechseln und die Herkunft leugnen, um weiterzukommen. Es gibt aber auf keiner Seite ein klares Gut und Böse, die Figuren sind vielschichtig. Twardoch hat das alles gut recherchiert, es ist ja auch seine eigene Heimat.


Und das Buch ist spannend geschrieben und gut übersetzt, so dass man es nicht aus der Hand legen möchte, denn es kommen immer neue Überraschungen. Die Beschreibungen der Orte, der Menschen und ihrer Gefühle sind plastisch. Man sieht richtig den Film dazu ablaufen!
Spannend auch die ungewöhnliche Form: Der Autor wendet sich immer wieder in Briefform an die Frau, die er einst begehrte, die ihn abwies, der er aber hörig ist. Diese nicht abgeschickten Briefe besiegeln dann auch sein Schicksal.


Darüber hinaus geht es in dem Roman auch Unmöglichkeit der Gewalt bei der Lösung von Konflikten, gerade zwischen zwei Völkern in einer Grenzregion, ein Thema, das in diesen Wochen wieder hochaktuell ist.

 

Hans-Erwin Riemann

 


Szczepan Twardoch: Demut
464 Seiten, Rowohlt Berlin Verlag 2022, 25 Euro.

 

 

Unter der Wasseroberfläche - ein Roman

Immer noch Seefahrerromane? Nach Homer, nach Kolumbus oder Cook, oder auch nach Graf Luckner? Inzwischen sind nicht mehr allein die Oberflächen der Ozeane die Träger von Botschaften und Gütern, sondern auch der Meeresgrund wird wichtig. Auf ihm liegen Pipelines, Stromkabel und vor allem Glasfaserleitungen zur Datenübermittlung. Der irische Autor Colum McCann schreibt den angesichts der Kabelpiraterie in der Ostsee aktuellen Roman dazu: „Twist“. In seinem Roman steckt allerdings nicht böse Absicht im Kalten Unterseekrieg, sondern ein verheerendes Dauerunwetter im Kongobecken hinter einem Kabelbruch im Atlantik vor der Mündung des Kongos. Der Autor lässt einen aus Dublin stammenden Journalisten auf einem Reparaturschiff für derartige Havarien als Gast anheuern, auf der Georges Lecointe, benannt nach einem belgischen Antarktisforscher. Das Schiff liegt in Kapstadt auf der Lauer nach solchen Schäden. Die müssen dann ganz schnell behoben werden, denn nichts geht mehr an der ganzen Westküste Afrikas, kein Internet, kein Mobiltelefon, kein Fernsehen.

 

McCann hat aber andere Absichten: Er skizziert aus diesem Anlass das rätselhafte Leben des Obmanns für die fällige Reparatur, Conway. Der ist ein aus Nordirland stammender, frei tauchender genialer Ingenieur, dem schon viele Frauenherzen zugeflogen sind. Ihn und die beiden Mannschaften des Kabellegers – eine nautische und eine kabeltechnische - begleitet der Journalist bis vor die Kongomündung. Inzwischen treffen Schadensmeldungen von zwei neuen Kabelbrüchen auf der Georges Lecointe ein, die die Expedition bis nach Accra an der Küste von Ghana ausdehnen. Natürlich ist die Landratte, der Journalist an Bord, gelegentlich seekrank. Aber er erlebt auch überwältigende Naturschönheiten unter dem auf der Südhalbkugel ganz neuen Firmament.

 

Der Autor schreibt davon, lässt den Ich-Erzähler und auch Conway über Sinn und Unsinn der unterseeischen Datenflut nachdenken, lässt das Thema Ozeanverschmutzung durch unsere Zivilisationsabfälle nicht etwa links liegen, widmet sich aber immer wieder mit Conway dem eigentlichen Zweck des Reparatureinsatzes. Hier beschreibt er interessant die technischen Details derartiger Reparaturen und die seemännische Raffinesse beim Auffinden der beiden Kabelenden.
In Accra dreht Conway durch. Er verlässt das Schiff, taucht in Ghana unter und bleibt verschwunden. Der Journalist informiert Conways letzte Geliebte Zanele in London. Die stammt aus einer Township in Südafrika, spielt in England mit einer Schauspieltruppe „Warten auf Godot“ entgegen der Weisung Becketts, der keine Frau in der Besetzung zulassen wollte. Auch Zanele weiß nichts über Conways Verbleib. Nur McCann macht ihn wieder ausfindig, wie er vor Alexandria mit Thermit einen zentralen Unterwasserknoten von Datenkabeln sprengt. Hier baut er unerhörte Spannung auf, ob die minutiösen Vorbereitungen Conways ausreichen und ob sein waghalsiges Tauchmanöver ohne Sauerstoffflasche gelingt. Alles in naher Anwesenheit der ägyptischen Küstenwache.

 

Mit der Becktt’schen Absurdität des zerstörenden Reparateurs lässt der Autor seine Leserinnen und Leser allein zurück – so gekonnt, wie der ganze Roman, der nichts von Seefahrer-Romantik aber ganz viel von den Rätseln menschlicher Existenz und der Rätselhaftigkeit menschlichen Verhaltens offenbart. In einem Epilog rundet McCann diesen tollen Roman ab: Der Journalist besucht zwei Jahre später Zanele in London und beide kommen übereinstimmend ins Reine mit dem, was der Autor zuvor erfunden hat – große Literatur aus Irland!


Harald Loch


Colum McCann: Twist   Roman
Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
Rowohlt, Hamburg 2025   423 S.   28 EUR

 

Slowenische Bibliothek: Ivan Cankar

In dem Band „Eine einzige Nacht“ der Slowenischen Bibliothek, die im Wieser Verlag herausgegeben wird, finden wir Kurzprosa, Skizzen und Erzählungen, man könnte auch kurze Novellen dazu sagen.
Wer war dieser Ivan Cancer?  Peter Scherber schreibt im Nachwort, es handele sich bei ihm um den „wohl bedeutendsten Prosaschriftsteller der Slowenen des 20. Jahrhunderts, der zwischen 1876 und 1918, also schon mit nur 43 Lebensjahren verstarb. Er begann beim Schreiben mit Poesie, wendete sich jedoch bald der Prosa zu, wie wir dem Nachwort entnehmen. 


Cankar wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Initiator und Mentor der slowenischen Literatur Lojze Wieser traf auf den Literaten, als er wieder einmal in einem Antiquariat nach Fundsachen stöberte und 
600 Exemplare von Ivan Cankars Buch “Der Knecht Jernej” kaufte. Innerhalb weniger Wochen hatten neugierige Leser die Auflage aufgekauft. 


Was für eine Wortgewalt, wenn in dem Text „Vom Menschen, der die Überzeugung verlor“ aus dem Jahr 1899 folgendes zu lesen ist: „Er hatte die Gewohnheit, nach seiner Überzeugung zu sehen, bevor er sich das letzte Mal im Bett umdrehte. Bis nun lag sie immer jungfräulich und unberührt auf dem Tisch und Job drückte die Augen zu und fühlte im Halbschlaf zufrieden seinen Bauch. Heute war die Überzeugung nirgends 
zu erblicken.“ 


In der Erzählung „Schnee“ werden wir in eine ruhende Landschaft versetzt, es ist also mal wieder Winter und es schneit kräftig, so wortgewaltig beschrieben, als hätte gottselig Adalbert Stifter aus dem Bayerischen Wald die Feder geführt. 
„Schnee … nichts als Schnee. Nirgends ein grünes Blatt, nirgends eine Blume. Alles farblos, duftlos, lautlos. – Auch die Sonne hielt sich verborgen, als fürchte sie, es könnten selbst ihre Strahlen in dieser eisigen Öde erstarren.“ 


Man liest sich förmlich fest an den Texten, bleibt kleben an Formulierungen, an Wortwahl, an dialogischem Einfallsreichtum. 
Die Protagonisten, meist ländliche Herkunft. Immer wieder sind es die starken Vater- und Mutterfiguren, die in den Texten eine Hauptrolle spielen. Keine Helden, eher kleine Leute, Kinder, Menschen mit 
Handicaps, Sonderlinge und Randexistenzen der bürgerlichen und bäuerlichen Welt, ja sogar Tiere, heißt es im Nachwort. 


Wir lesen auch Politsatire, ja sogar schon damals wird ein Phänomen beschrieben, das wir auch heute beklagen, die zersplitterte, die geteilte, die sich feindlich gegenüberstehende polarisierte, gespaltene Gesellschaft, als wäre es ein Stück von heute: „Ach, mein Gott! – Wo sind jene Zeiten, jene herrlichen, primitiven 
Zeiten, als die Anschauungen und Gefühle wie aus einem Stück geschnitten waren, nicht zusammengesetzt aus verschiedenen schimmernden, buntfarbigen, mikroskopisch kleinen Teilchen!“
Im Text „Literarisch Gebildete“ nimmt er die allzu Ambitionierten aufs Korn: „Was sind das, unsere neuen für Literaten? Schimpferei, nur Schimpferei und Abschreiberei aus fremden Literaturen.“


Oh, das sitzt! Er beschreibt auch alltägliche Morgen- und Frühstücksszenen, und dann folgt Klartext: „Der Alltag mit seinen schreienden, erlogenen Farben duldet keine Nuancen und tötet die Kunst. Der Mensch unterwirft sich seiner Tyrannei und opfert ihm die Mehrzahl seiner Tage. Die Zeit, die ihm zugemessen ist, vertrödelt er in Äußerlichkeiten und Lügen.“


Es sind wirkungsstarke Dialoge, feinste kompetente und nahe Beschreibungen, Gefühlswallungen, Einsichten, Ansichten, Ironie, Religiöses, Glaubensfragen, Sprachliches und Literarisches, gefasst unter fast banalen Überschriften aus dem Alltagsleben wie „Eine Tasse Kaffee“ „Die heilige Kommunion“ oder „Onkel Simon“. Eine lohnenswerte Lektüre. 


Ivan Cankar EINE EINZIGE NACHT Slowenische Bibliothek Mit einem Nachwort des slawischen Literaturwissenschaftlers Peter Scherber (Göttingen und Wien) 
WIESER/DRAVA 


Ivan Cankar war Lyriker, Dramatiker und vor allem Prosaschriftsteller. slowenischen Heimat veröffentlichte. 

Zora del Buono: Seinetwegen

Wer die Scheu vor diesem Roman überwindet, wird reich belohnt. Wer will schon eine Recherche lesen, in der eine Tochter nach 60 Jahren nach demjenigen sucht, der ihren Vater durch unachtsames Fahren mit einem unsicheren Fahrzeug in einen Frontalzusammenstoß verwickelt und dadurch getötet hat? Die Tochter war zur Zeit des Unfalls acht Monate alt und wuchs als Halbwaise bei ihrer Mutter auf. Längst ist sie erwachsen, ihre Mutter ist dement, sie selbst ist allein geblieben. Jetzt überkommt sie der Wunsch zu erfahren, wie derjenige damit lebt, dass er ihren Vater auf dem Gewissen hat.

 

Warum jetzt erst? Vielleicht, weil sie vorher damit nicht anfangen wollte, um ihre Mutter zu schonen. Vielleicht, weil ihre eigene Einsamkeit nach der Demenzerkrankung ihrer Mutter die Leerstelle des Vaters bloßgelegt hat, die es irgendwie zu füllen galt. Diesen Roman „Seinetwegen“ hat die Tochter geschrieben: Zora del Buono, längst eine anerkannte Schweizer Schriftstellerin, Architektin, Mitgründerin und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare.


Am Ende dieser Recherche weiß die Tochter mehr über den Mann, der ihren Vater durch den von ihm verschuldeten Unfall getötet hat, als über diesen. Während der Suche nach E.T., hinter dem sich Ernst Traxler verbirgt, entfaltet Zora del Buono eine abwechslungsreiche Folge aus Gesprächen und inneren Monologen, klugen Gedankensplittern und Anekdoten über Zufälle und Konsequenzen der condition humaine. Natürlich schreibt sie über prominente Opfer anderer Autounfälle, über Autos überhaupt. Sie schreibt über Männer – sie verursachen die meisten Unfälle – und über Frauen, von denen sie in ihrer Befreiungsstadt Berlin kurz vor und nach dem Fall der Mauer einige geliebt hat.

 

Sie schreibt über soziale Ungerechtigkeit, über die Banalität der höheren Angestellten in Zürich, über die italienische Hafenstadt Bari, in der ihre Großeltern lebten. Sie erzählt von ihrer Familie und erfährt auch etwas über die Familie ihres toten Vaters, der aus Sizilien stammte, von dessen sichtbar gewesenen normannischen Wurzeln. Manchmal verfällt sie ins Schwyzerdütsch, das sie, wenn es zu fremd klingt, ins Hochdeutsche überträgt, seltener sind ihre italienischen Ausrufe. Als politische Frau vergisst sie nicht die 12. Isonzoschlacht im Ersten Weltkrieg, in der die deutschen und österreich-ungarischen Truppen Giftgas gegen die Italiener einsetzten und Zehntausende daran dem Erstickungstod auslieferten. Die Großmutter der Autorin war Slowenin, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch einen kleinen Grenzverkehr ins kommunistische Jugoslawien mit dortigen Verwandten aufrechterhielt.


Beim Lesen dieses sehr humanen Buches verstärkt sich der Eindruck, dass die Recherche der Tochter gutgetan hat. Ihr nachvollziehbarer Hass gegen den erst noch zu findenden Töter weicht mit genauerer Kenntnis von dessen Leben – sie hat ihn nicht mehr zu Lebzeiten kennengelernt – einer grundmenschlichen Empathie. Das ist vielleicht der einzigmögliche Trost über dieses Unglück. „Seinetwegen“ wurde letzten Endes das Leben der Tochter und ihrer Mutter so nachhaltig geprägt. Was sie recherchiert hat, macht aber aus dem Töter einen Menschen, der es auch nicht leicht hatte mit seiner Schuld. Bewundernswert ist der feine Ton, in dem die Autorin den Hauptstrang und auch die Nebenwege des kleinen Romans erzählt. Das Recherchieren, die dabei geführten Gespräche, die dabei entwickelten Gedanken haben die Autorin befreit, die Lektüre wird der Leserin jede anfängliche Beklommenheit nehmen. Irgendwie ist das auch beglückend bei diesem Thema!


Harald Loch  


Zora del Buono: Seinetwegen
C.H.Beck, München 2024   204 Seiten   23 Euro

Kafka als Textverarbeitungssystem

Mit einer literaturwissenschaftlich orientierten Ausbildung liest sich dieses hochinteressante Buch von Andreas Kircher leichter, die nicht immer so einfach zu verstehende Sprache verdeckt mit ihrer Wortwahl manchmal den direkten Zugang zu Erkenntnissen, die dieses Buch vermitteln will.


Pilcher stellt im Vorwort Fragen und Hypothesen auf und versucht nach wissenschaftlicher Art und Weise das Leben, das Lesen und Schreiben von Kafka zu analysieren. Anhand eines konkreten Textes von Kafka, der kurzen Geschichte ODRADEK erläutert er seine Überlegungen. In den weiteren Kapiteln stellt er einen Zusammenhang her von Kafkas Literatur zu dem Unbewussten, also zur Psychoanalyse, zum Marxismus, zum Zionismus und schließlich auch zu Spiritistischem, also zum damals grassierenden Okkultismus. 


Am Ende benennt Pilcher die Axiome seiner Analyse über das Lesen und Schreiben von Kafka. Dabei ist dem Autor klar, dass sich in Kafkas Texten die Mehrdeutigkeiten, das Rätselhafte und auch die Absurditäten mischen: Wie also kann man Kafkas Texte lesen? 


In seinem Buch versucht er, einen neuen Ansatz zu verfolgen. Ausgangspunkt ist die konkrete materielle und praktische Seite von Kafka schriftstellerischer Arbeit, und genau darin liegt bereits der Reiz des Buches. Er will keine weitere Biographie des Schriftstellers vorlegen, sondern er sieht Kafka förmlich als einen Textarbeiter, er sieht den Analyseprozess als Folge von Lesen und Schreiben und Schreiben und Lesen, denn Kafka war ein höchst aufmerksamer und geradezu gieriger Leser.


«Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.» Franz Kafka

 

Kafka steht vor den Schaufenstern von Buchhandlungen und betrachtet die Auslagen, auf seinem Schreibtisch stapeln sich Bücher und Zeitschriften, er besucht Lesehallen, sitzt in Cafés, Zeitschriften wurden auch gegenseitig vorgelesen besonders gerne von Kafka selbst. Er bestellt sich bei Verlagen Bücher.


«Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses.» Franz Kafka

 

Geradezu klassisch geworden ist das berühmte Zitat über Bücher, die Axt und das gefrorene Meer in uns, das hier einmal ausführlich zitiert werden soll.

 

“Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? (...) wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, dass uns sehr schmerzt (...) ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.”


Die düsteren Schwarz-Weiß-Zeichnungen unterstreichen die Interpretationen des Literaturwissenschaftlers, der Kafkas Lesen und Schreiben als ein Textverarbeitungsverfahren interpretiert in einem durchaus modernen Sinne. In Kafkas Werkstatt wird an und mit Sprache gearbeitet und an und mit Texten, es ist Schreibarbeit! Interessant, dass Kafka auch Veranstaltungen besuchte, in denen es um Grammatik, Syntax, Rhetorik und Stilistik ging. Kafka übt sich in höheren Sprachfertigkeiten der Philologie und so entdeckt Kilchers Studie das vielgestaltige Unheimliche in Kafkas Moderne.

 

«Alles, was nicht Literatur ist, langweilt mich.» Franz Kafka

 

 

Andreas Kilcher Kafkas Werkstatt Der Schriftsteller bei der Arbeit CH Beck


Andreas Kilcher ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich. Er hatte Gastprofessuren an der Hebrew University in Jerusalem, der Tel Aviv University, der Princeton und der Stan

Ein Requiem für zwei Richter gegen die Mafia

Als ich das Museum der Geschichte der Mafia in Corleone aufgesucht habe, um nach den Akten von Falcone und Borselino zu suchen, hatte ich mir vorher meterweise LEITZ-Ordner vorgestellt. Nein, so modern waren die Ermittlungsbehörden damals noch nicht, die Justizpapiere steckten in sepiafarbenen Kartons, bündelweise verschnürt. Und haufenweise gestapelt. Esaus wie ein papiernes Durcheinander. Aber den Richtern im großen Mafiaprozess war von vorneherein klar, im Verfahren geht es um die  „formale  Korrektheit der Anklagen und die Sammlung des belastenden Beweismaterials“, denn beides ist entscheidend. Wobei die Arbeitsteilung klar ist: „Die Mafia tötet keine Richter. Die Richter machen ihre Arbeit, und die Mafiosi die ihre. So war es schon immer.“


Doch bald kam es anders. Saviano fächert detailgenau die Sachverhalte der beiden Attentate und Justizmorde auf, wenngleich seine literarische Ader zuweilen etwas lyrisch pointiert zuspitzt. Zum Beispiel so: „Der Tod, dumm und pedantisch, winkt ihm zum Abschied hinter dem Autofenster, um den letzten Schuss auf ihn abzufeuern, während die Sonne ein für alle Mal hinter den Wolken verschwindet. Das genügt, damit der Regen anfängt zu prasseln.“


Sie heißen Gambino, Di Maggio, Inzerillo, Bontate, Mangano, haben italoamerikanische Namen wie John Egitto, Gerald Castaldo, Richard Cefalù und Spitznamen wie Franky Boy. Spatola ist zweifach mit dem eines Bankiers verbunden. Michele Sindona… Familie Santa Maria di Gesù, Wenn man hier in Palermo etwas finden will, das funktioniert, muss man in eine Bank gehen, schreibt der Mafiaexeget Saviano und zeigt auf, dass der Fluss und die Farbe des Geldes das Auffinden der Mafiaspuren erleichtert: „Nur das Geld bewegt sich. Und anscheinend bewegt es sich sehr gut...follow the money…, wenn es darum geht, Verbrecher zu erwischen.“


Bei der Mafia geht das so: „… alle bewaffnet und alle bereit, eine Münze zu werfen, um auszulosen, wer schießen, abstechen oder erwürgen muss.“


Die Hinweise kommen öfter: „Sagt Giuliano, dass er bald sterben wird.“  Falcone und Borsellino ermitteln in „diesem Gewimmel aus Schecks, 
Girokonten, Scheinfirmen, öffentlichen Aufträgen und Heroinhandel, wissend, dass die Angst eine alte Freundin ist. 


Und die Waffen in diesem Krieg sind moderner geworden, „Schluss mit der abgesägten Schrotflinte der Bauern, her mit der Kalaschnikow.“
Und: „Die vier größten Bauunternehmen aus Catania arbeiten heute mit Zustimmung der palermitanischen Mafia in Palermo.“


In Palermo stehen die Raffinerien für den Heroinhandel, aber es geht längst nicht mehr nur darum: „Die Mafia sitzt mittlerweile in den größten Städten Italiens, wo sie umfangreiche Investitionen im Baugewerbe, im Handel oder vielleicht in der Industrie getätigt hat.“ 


Mafia modern! Savianos furioses sachkundiges Werk mit literarischer Ambition zeigt minutiös, wer alles im Kampf gegen die Mafiabosse in den vergangenen Jahrzehnten verloren hat. 

 

Als ich im Mafiamuseum auf die Reihen von Aktenbergen schaue, kenne ich den Savianosatz darüber noch nicht, und der lautet: „Die Papiere sehen aus wie ein wüstes Durcheinander, doch in Wirklichkeit gibt es eine präzise Ordnung. Für sich genommen, sagen diese Aktenbündel recht wenig. Nichts, was über seinen Inhalt hinausweisen würde. Sie sind die Steinchen eines Puzzles… „Beiden Ermittlern ist durchaus ständig bewusst: „Wer von ihnen wird zuerst sterben. Wie. In welcher Position. Mit welchem Gesichtsausdruck. Im Auto oder auf dem Asphalt.“ Saviano macht auch einen historischen Streifzug durch die Schlafmohn-Geschichte. 


Als das Aspirin entwickelte wurde, entstand beim selben Verfahren mit Morphin das Heroin. Entwickelt von BAYER.

 
„Schlafmohn wird zu Opium, das Opium wird zu einer Paste, diese Paste kommt in den Raffinerien an, wird zu Heroin verarbeitet und steigt damit expotentiell im Wert. Alles klar? Es war ein Markt, der auf einer ständig wachsenden Nachfrage beruhte. Je größer das Angebot wurde, desto größer wurde die Nachfrage.“

 

Saviano schildert auch sehr nah das verkorkste Alltagsleben eines Mafiaermittlers, ständig auf der Hut niedergemäht zu werden. Falcone geht gerne ins Kino: „Immer wenn er ankam, musste die Eskorte vier Reihen freimachen, um eine Sicherheitsschranke um ihn herum aufzubauen. Im Restaurant ist es nicht besser. Wenn Giovanni mit seinem Begleitschutz ankommt, ist es mittlerweile üblich, dass die Leute aufstehen und woanders essen gehen, zur großen Freude der Restaurantbesitzer, die sich dank des lästigen Richters um üppige Einkünfte betrogen sehen.“ 

 

Nach und nach entfaltet Saviano das Innenleben der Mafiafamilien um die Corleonesi, die Palermitaner, den Aufstieg von Riina, Provenzano, die Rolle von Liggio, die von Michele Greco, dem „PAPST“.

 
Als es dann zum großen Mafia-Prozess kommt, gibt es 475 Angeklagte – die Anklagen reichen von Mord über Drogenhandel und Schutzgelderpressung bis zur Bildung einer mafiaartigen, kriminellen Vereinigung. 


Saviano schont auch sein Heimatland nicht: „Italien ist voll krankhafter Lügner.“

 
Als hätte Saviano die Ermittlerlupe von Sir Conan Doyle und seinem Kommissar Sherlock Holmes dabei beschreibt Saviano die Festnahme des Mafiapapstes CRECO: „Die mit alten Holzmöbeln ausgestattete Küche liegt gleich hinter dem Eingang. An den Knäufen der Hängeschränke baumeln Würste und ein Zopf feuerroter Peperoncini. Auf einem Schneidbrett mitten auf dem Tisch liegt ein Stück Brot vom gestrigen Abend….  Er sitzt in zerknitterter Kleidung auf dem Bett und scheint nicht zu verstehen, was vor sich geht…»Greco Michele? Sie sind Greco Michele?“ Ein großer Fang, der Papst der Mafiosi, so sein Spitzname festgenommen. 

 

Und es folgt der Mafiaprozess ein Mammutverfahren: über 21 Monate Verhandlung, 349 Sitzungen, 307 1829 Stunden Dauer insgesamt, 475 Angeklagte, davon 208 in Haft, 102 auf freiem Fuß, 44 in Hausarrest und 121 Flüchtige, Anhörung von über 900 Zeugen und Geschädigten. 1314 Vernehmungen, 635 Plädoyers der Verteidigung, 1265 Prozessakten…
Greco Michele, Riina Salvatore, Provenzano Bernardo und Madonia Francesco: „lebenslänglich“. Der Kassierer der Cosa Nostra Pippo Calò wird zu dreiundzwanzig Jahren Haft verurteilt, der Steuereintreiber Ignazio Salvo zu sechs Jahren. Luciano Liggio wird freigesprochen. Insgesamt betragen die Gefängnisstrafen 2665 Jahre, es gibt 114 Freisprüche. Lebenslängliche Haftstrafen gibt es für 19, die schuldig gesprochen werden.

 

Und dann kommt die gnadenlose todbringende Abrechnung: „Um 17 Uhr, 56 Minuten und 48 Sekunden geht ein gewaltiger Riss durch die Autobahn Palermo–Mazara del Vallo, und ein Loch wie ein Mondkrater öffnet sich. Im über hundert Kilometer entfernten geophysikalischen Observatorium auf dem Monte Cammarata wird die Explosion registriert. Die Seismographen zeichnen Schwingungen wie bei einem Erdbeben, alle machen sich bereit, den Zivilschutz zu alarmieren….


Alles zerbirst. Die Fensterscheiben, das Metall, ihre Knochen. Ihre Körper. Die Wucht der Explosion erlaubt keine Erwiderungen. Nichts wird verschont in dieser Falle aus zerrissenem Blech.


Die Motorhaube des Autos öffnet sich wie eine Büchse; ein Gewirr aus Röhren, Metall und elektrischen Kabeln verschmilzt mit dem Asphalt. Der Himmel selbst verschmilzt mit der Erde. Der Sarg aus weißem Metall stürzt so schnell wieder hinunter, wie er in die Höhe geschossen ist. Als er den Boden berührt, ist er schon unter einer Lawine aus Erde begraben.“


Saviano schreibt, als würde parallel die Filmkamera in Zeitlupe dazu laufen. 


Zwei Attentate, zwei Richter, zwei Helden aber mehr als nur zwei Tote. Ein erschütterndes Stück Zeitgeschichte, mit Heldenmut aufgezeichnet, denn Saviano steht selbst unter ständigem Polizeischutz und lebt in wechselnden Unterkünften. Neuerdings werden auch die Verbindungen der Mafia nach Deutschland nach und nach aufgedeckt, ich erinnere mich noch gut an ein Interview mit dem damaligen Polizeipräsidenten Münchens Dr. Manfred Schreiber, der 1972 steif und fest behauptete, es gäbe keine italienische Mafia in Deutschland. 


Weil nichts sein kann, was nicht sein darf, so ähnlich wie beim NSU. Falcone und Borsellino hätten anders ermittelt und geredet. Ihre Risikobereitschaft bezahlten sie mit ihrem Leben.

Der höchste Preis. 

 

Roberto Saviano, 1979 in Neapel geboren, arbeitete nach dem Studium der Philosophie als Journalist. Gomorrha kam rasch nach Erscheinen auf die italienische Bestsellerliste und machte ihn schlagartig berühmt. Nach wiederholten Morddrohungen von Seiten der Camorra steht Saviano permanent unter Personenschutz und lebt seit vielen Jahren im Untergrund. Bei Hanser erschienen Gomorrha (Reise in das Reich der Camorra, 2007), Das Gegenteil von Tod (2009), Der Kampf geht weiter (Widerstand gegen Mafia und Korruption, 2012), ZeroZeroZero (Wie Kokain die Welt beherrscht, 2014), Super Santos (Hanser Box, 2014), Der Clan der Kinder (Roman, 2018) und Die Lebenshungrigen (Roman, 2019). 2009 erhielt Saviano den Geschwister-Scholl-Preis, 2012 den Olof-Palme-Preis für seinen publizistischen Einsatz gegen organisiertes Verbrechen und Korruption und 2016 den M100 Media Award. Er schrieb am Drehbuch zum Film "Paranza - Der Clan der Kinder" mit, das auf der Berlinale 2019 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde.

 

Pressestimmen
"Ein mitreißendes Buch, das direkt ins Herz unserer politischen Gegenwart zielt." Denis Scheck, druckfrisch

 

"'Falcone' ist Verneigung, Zeitzeugnis und Appell gleichermaßen." Carolin Gasteiger, Süddeutsche Zeitung

 

"Die derzeit stärkste literarische Stimme Italiens." Birgit Schönau, Die Zeit

 

"Roberto Saviano hat einen akribisch recherchierten Roman über den Mafiajäger Giovanni Falcone geschrieben." Luzi Bernet, Neue Zürcher Zeitung

 

"Ein sehr lesenswertes Buch." Christiane Pöhlmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

"Ein echter Pageturner." Der Standard

 

"Dieser Roman ist mehr als eine atemraubende Lektüre." Susanna Bastaroli, Die Presse

 

"Ein großes Requiem, eine Würdigung all derjenigen, die obwohl sie wussten, dass sie höchstwahrscheinlich umgebracht werden, den Staffelstab von ihren toten Vorgängern im Kampf gegen die Mafia aufnahmen." Tomas Fitzel, Rundfunk Berlin-Brandenburg

 

LINKS


NDR

Roberto Savianos "Falcone": Ein Held, der lieber keiner gewesen wäre | NDR.de - Kultur - Buch - Tipps


NZZ
Roberto Saviano schreibt einen Roman über den Mafiajäger Giovanni Falcone (nzz.ch)

 

Roberto Saviano und Annette Kopetzki   
Falcone 
HANSER VERLAG

 

Amrum - eine Nachkriegskindheit

Als ich dieses Buch gelesen habe, kam es mir so vor, als würde der Autor Hark Bohm, der ja eigentlich ein Filmemacher ist, hinter einer Kamera stehen und immer wieder auf seinen Erzähl-Gegenstand zoomen, oder die Blende nachstellen, oder mit Helligkeit und Dunkelheit arbeiten, um genauestens festzuhalten, was er eigentlich in diesem Buch mit Worten beschreibt. 


An manchen Stellen seiner Kindheitserinnerungen könnte man aber auch meinen, dass Hark Bohm eigentlich seinen Beruf komplett verfehlt hat. Denn in vielen Passagen kommen die Vögel und ihre Meeresumwelt in den einzelnen Kapiteln des Buches vor, mit einer derart genauen Beschreibung verschiedener Vogelarten und ihrer Charakteristiken, so treffend beschrieben, das habe ich noch in keinem anderen Roman so präzise gelesen. Also ist dieses Buch auch eine Riesenfreude für ornithologisch orientierte Leserinnen und Leser.


Amrum, diese heutige Ferieninsel, ein Naturparadies, eine Nordsee-Insel, die auch ich gerne einmal besucht habe, ist Bohms Heimatort. Dort treffen sich Himmel und Meer, dort erstreckt sich das Wattengelände, wir entdecken die kleinen Halligen, der Rhythmus auf dieser Insel ist ein langsamer, dort kann man wirklich auch im Urlaub seine Ruhe finden. Aber der Roman handelt ureigentlich ja von Unruhe in ruhigen Zeiten auf der Insel, denn man schreibt das Jahr 1945. Also ist Kriegsende und die Familien kämpfen auf dieser Insel ums Überleben, und auch ums Fortleben, trotz ihrer Verstricktheit in das Naziregime. Die Verbundenheit zur Natur gibt dem Jungen mit Namen Nanning Halt. Er ist das Alter Ego von Bohm. Er schlägt sich so durch, auch für seine regime-treue, hochschwangere Mutter, muss er irgendwie Essen auftreiben fürs Leben. Es ist der alltägliche Überlebenskampf, den uns Hark Bohm da schildert. 
Amrum, Frühjahr 1945, Seehundjagd, Fischen bei Nacht, Malochen auf dem Feld, es ist schwer für den gerade erst 12-jährigen Nanning, um seiner Mutter zu helfen, die Familie zu ernähren. Aber die politische Dimension der Nach- Hitler-Ära dringt immer wieder im Text an die Oberfläche, oder besser gesagt in den Vordergrund, allerdings nie aufdringlich, zuweilen beiläufig, und auch überraschend spröde. Greifen wir eine Textstelle heraus: "Ja, aber da sind 15 Millionen. Musst dir mal vorstellen, 15 Millionen aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern. 15 Millionen sind vorm Russen weg, alles Deutsche. Und was der Russe noch zu fassen kriegt, haut er mit dem Gewehrkolben tot. Und die Frauen auch. Wenn er sie“, Boy Krüger sprach etwas leiser, „gehabt hat“.

Das sind Dialoge die auch in eine Filmszene passen würden. Und erst recht in die Realität heute wieder.


Der Russe steht 50 Kilometer vor Berlin, und Hitler steht kurz vor seinem Ende. Fragen über Fragen: Was ist Wehrkraftzersetzung, an welchen Träume soll man noch glauben, wie ist das Überleben zu sichern, kommt Nannings Vater aus dem Krieg heil zurück, wie überlebt die schwangere Mutter? Das alles sind Schicksalsfragen, die sich der junge Nanning gemeinsam mit seinem Jugendfreund Hermann stellen muss. Und die Fragen häufen sich weiter auf: Wie tötet man Robben, wann ist Lebensmittelbeschaffung illegal, wie klaut man Hühnerfutter, wie ist ein Bulle zu zähmen? Das alles sind konkrete Lebensfragen, die tagtäglich gelöst werden müssen, egal ob der Wind von Nord, West, Ost oder Süd stürmt, es an einem düsteren Tag regnet, oder die Sonne romantisch im Wattenmeer versinkt. 

 

Der Filmemacher Fatih Akin wird dieses Werk des Filmregisseurs und Drehbuchautors Hark Bohm für die Leinwand bearbeiten. Das Buch macht so viel tiefenentspannende Lesefreude, dass man auch auf den Film-Spaß gespannt ist, auch wenn es kaum spaßig ist, was in diesem Buch erzählt wird.


Hark Bohm wurde 1939 in Hamburg geboren und verlebte seine Kindheit auf Amrum. Er ist einer der bekanntesten Regisseure, Drehbuchautoren und Produzenten Deutschlands. Zu seinen größten Erfolgen gehörten „Nordsee ist Mordsee“, „Yasemin“ und „Aus dem Nichts“, für dessen Co-Autorenschaft er mit dem deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk wurde ihm zudem der Ehrenpreis des deutschen Filmpreises verliehen. Amrum ist sein erster Roman, den er gemeinsam mit Philipp Winkler schrieb.

 

PRESSESTIMMEN


»Hark Bohm schreibt über die letzten Kriegstage aus Sicht eines Jungen auf Amrum – wie er sie selbst erlebte.« Berliner Morgenpost

 

"Amrum" ist ein Erinnerungsroman: wehmütig, bitter, insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, warm und vor allem eine Hommage an die Insel.« NDR Kultur

 

»Und von dieser Ahnung, dass da etwas nicht stimmt mit seiner Familie, dem Erwachen und Aufbrechen erzählt „Amrum“, der erste Roman des Regisseurs und Schauspielers Hark Bohm. Eine Legende des deutschen Autorenfilms. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Zitronen

So schön wie Valerie Fritsch in paradoxen Figuren erzählt, wird gute Literatur daraus. Ihr neuer Roman „Zitronen“ verwendet dieses Stilmittel, das Oxymoron, um ihre Protagonisten zu charakterisieren, um Situationen zu ver- oder zu entschärfen, um ihrem hohen Ton die erwünschte Fallhöhe von der Fiktion in eine zuweilen erschreckend reale Allgemeingültigkeit zu verschaffen. Den Aufprall dämpft die 1989 in Graz geborene Autorin mit einer den Roman bestimmenden Ironie, von der nie genau feststeht, ob sie nicht vielleicht doch ernst gemeint ist. Wovon erzählt sie?


Am Rande eines österreichischen Dorfes wohnt die Familie Drach in einem windschiefen alten Haus: „Das Dorf war so klein, dass man sich, wenn man sich umschaute, nie sicher war, ob jeder jeden kannte oder niemand niemanden, nicht einmal unter seinem eigenen Dach“. Lilly Drach – „der Apfelgarten war Liebe und Hass der Mutter“ – schützt ihren Sohn August nicht vor der brutalen Gewalt seines Vaters. Dessen Fäuste hinterließen manche Blutergüsse, auch in Augusts Seele. Der Vater trödelt mit altem Kram, mit dem er das Haus vollstopft, um es dann auf Flohmärkten zu verhökern. Reich wird man dabei nicht. Seine ganze Liebe galt seinen Hunden. Als er eines Tages ohne Abschied für immer verschwindet, gerät August unter die gefährliche Pflege seiner Mutter, die ihn für krank hält und ihn, obwohl ihm nichts fehlt, als Kranken hält. Sie war früher Krankenschwester. Sie mischt August Medikamente und alles Mögliche unter sein Essen, stellt ihn dem Landarzt Otto Ziedrich vor, der keine Krankheit diagnostiziert.

 

Lilly und Otto werden ein Paar, aber August wird weiter von seiner Mutter krankgepflegt. Erst als er von einem Blitz getroffen wird, ein Mal auf dem Rücken davon behält, kann er der Mutter entfliehen. Otto Ziedrich hat ihm ein Zimmer in der Stadt besorgt, in der er sich zunächst als Reinigungskraft im Leichenschauhaus durchschlägt. Valerie Fritsch nimmt die von ihr erdichtete Gelegenheit wahr und spinnt ganze Gewebe um die Schicksale der dort auf Identifizierung wartenden Opfer von Gewalt oder Unfällen.

 

Bald landet August als Barmann am Tresen einer Kneipe, wo er seiner Kundschaft Erlogenes über sein Leben erzählt, bis ihm eines Nachts Ava vor die Füße fällt, die er auffängt und die seine erste und einzige Liebe wird. Ava ist Künstlerin. Beide verbringen ihre zunächst unbeholfenen Nächte mal in Augusts winziger Wohnung, mal in ihrem Atelier. Auf einer Dachterrasse treffen sie mit sehr gemischten Leuten zusammen und beobachten gemeinsam die Passanten unten auf der Straße. Immer denken sie sich etwas über sie aus, was ja nicht offensichtlich ist. Fritsch entwickelt wie schon im Leichenschauhaus auch hier eine beeindruckende Fabulierlust. Ihre originellen Einfälle könnten Stoff für viele Geschichten sein. Kündigen sie vielleicht weitere Romane an?


Die Liebe zwischen August und Ava nutzt sich am Alltag ab, sie verlässt ihn spurlos und ohne tröstenden Abschied. Was fällt ihm anderes ein, als in seine Heimat, in das Dorf, in sein Geburtshaus zurückzukehren. Dort trifft er seine Mutter Lilly in einem Rollstuhl an, von Krebs angefressen, mit einem neuen Hund auf dem Schoss, dem sie auch Tabletten unter sein Futter mischt. August nimmt noch mit seiner Mutter an der Beerdigung eines schon seinerzeit verschwundenen Mädchens teil, dessen Leiche nach den ganzen Jahren gefunden wurde. Danach setzt August den Schlusspunkt unter einen verstörenden, verwöhnenden, bewundernswerten Roman, in dem es so schön heißt: „Aber es gibt einen Moment, in dem das Falsche zu tun, sich richtiger anfühlt, als es zu lassen.“


Harald Loch


Valerie Fritsch: „Zitronen“ Roman
Suhrkamp, Berlin 2024   187 Seiten   24 Euro
 

 

George Saunders: Tag der Befreiung   Stories

Sind Stories wirklich Prosa light? Ihre Kürze verleitet manchen, sie als zu leicht zu befinden. Aus der ganzen Weltliteratur gibt es längst Gegenbeweise. Und heute? Der 1958 in Texas geborene George Saunders schreibt mit seinen neun unterschiedlich langen Geschichten unter dem Titel „Tag der Befreiung“ ganz aktuell gegen das leichtfertige Vorurteil an. Die Inhalte dieser Stories haben es wirklich in sich. Sie drücken so etwas wie Verzweiflung an der Lebenswirklichkeit in den USA aus. Sie sind nicht parteiisch in den großen inneren Zerwürfnissen des Landes, ergreifen stattdessen Partei für die einfachen Menschen an der sozialen borderline. In dem „Liebesbrief“, den ein Großvater an seinen Enkel schreibt, kommt er der übernächsten Generation dem Vorwurf zuvor, er habe zu wenig getan, um das alles zu verhindern. Keine Einzelheiten – der Leser und die Leserin werden schon wissen, was hätte verhindert werden müssen. So schwer ist das nicht und muss deshalb auch nicht benannt werden. „Die Mom der kühnen Tat“ will sich für ihren Sohn rächen. Natürlich im Namen der Gerechtigkeit und zur Wiederherstellung geordneter Verhältnisse auf den Straßen Amerikas. Der Junge – er erweist sich als der einzige Vernünftige in der Familie – war von einem Herumstromernden in ein Gebüsch geschubst worden und hatte Kratzer im Gesicht davongetragen. Die Polizei ergreift einen Verdächtigen. Der war es aber nicht. Sie ergreift einen zweiten, der als Schubser in Frage kommt. Beide sind miteinander verwandt und Neffen des Besitzers eines Ladens für Haushaltswaren, bei dem Mom schon mal einen herabgesetzten Fernsehapparat gekauft hatte. Der zweite Verdächtige gibt die Tat zu. Der Junge sei hochnäsig die Straße entlanggelaufen. Der Ehemann der Mom sorgt selbst mit einem Baseballschläger für Ordnung und verletzt den ersten, unschuldigen Verdächtigten damit am Knie, so dass er ein Leben lang humpelt. Selbstjustiz der dümmsten Kategorie. Ein verständiger Cop ordnet Frieden an.


„Der Spatz“ handelt von einer unscheinbaren Verkäuferin. Sie arbeitet neben dem Sohn der Ladenbesitzerin, die den „Spatz“ für ungeeignet hält. In einer Frauenzeitschrift findet sie, die eigentlich eine graue Maus ist, ein paar Tricks, um sich attraktiver zu machen. Und siehe da: Es funktioniert. Am Ende heiraten sie und der Sohn der Inhaberin, die fortan nur Lobeshymnen auf den „Spatz“ singen wird. Eine echte Herausforderung ist die Titelgeschichte „Tag der Befreiung“. Ist es ein Puppenspiel oder hat in einer an Orwell erinnernden Fiction-Welt ein Impresario Gewalt über die Gehirne seiner Schauspieler ergriffen? Sie erinnern sich nicht mehr an das „Davor“, werden an- und ausgeschaltet, in verschiedene Intensitäten gedimmt, spielen eine tatsächliche Schlacht aus dem 18. Jahrhundert gegen Indios nach. Es gibt ein Massaker, das noch in die heutige Zeit hineinschwappt, als Menschenrechtler den Impresario zur Rede stellen und einige Protagonisten „zum Tode verurteilen“ und vollstrecken. Rätselhaft entwickelt sich die fiction in dieser über80 Seiten laufenden Kurzgeschichte auch mit ihrem künstlichen Vokabular aus einer Scheinwelt. Der „Tag der Befreiung“ hinterlässt eine verunsicherte Leserschaft, die, wenn sie mitmacht, staunt, was Literatur alles kann. Alle diese Geschichten sind stilistisch herausragend erzählt und bewundernswert von Frank Heibert übersetzt. Der ganze Band lässt einen tieferen Blick auf eine Gesellschaft werfen, die in weiten Teilen nicht mehr „normal“ tickt, und er tröstet zugleich darüber hinweg, wie nur große Literatur es kann.


Harald Loch


George Saunders: Tag der Befreiung   Stories
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert
Luchterhand, München 2024   320 Seiten   25 Euro

 

In einem Land der Vergewaltiger

Das Buch ist faszinierend und abschreckend zugleich. Es zeigt Grausamkeit und Gewalt, Machtausübung, Unterdrückung, Leibeigenschaft, Gefangenschaft, Folter. Es stößt ab, und dennoch kann man es aufgrund der poetischen, üppigen vereinnehmenden Sprache nicht mehr aus der Hand legen, wenn man es begonnen hat zu lesen, obwohl es dochFürchterliches und Grausames darstellt. Es beginnt ganz harmlos in einem Ausstellungsraum bei einer Vernissage und es endet, das wollen wir besser nicht verraten, denn wir empfehlen dieses Buch in die Hand zu nehmen und in einem Rutsch zu lesen,  weil es ein beeindruckendes Zeugnis slowenischer Literatur ist. Offenbar werden in diesem Buch Vergewaltigungs-Erfahrungen verarbeitet. Wir befinden uns auf einer abgelegenen Insel, wahrscheinlich in der kroatischen Mittelmeerregion  gelegen. 


Als hätte Kafka die Feder geführt, befinden wir uns zwischen zwei separaten Kleinstädten. In der einen leben die Frauen, in der anderen die Männer, getrennt voneinander. Wir begegnen Terror, Gefangenschaft, Folter, Tod und Reihen-Vergewaltigungen. Die gezeugten Kinder werden auf furchtbare Art und Weise abgetrieben. Es ist ein fortgesetzter Wahnsinn, ein Terrorsystem. Männer, die Macht ausüben, Sadismus, pure Quälerei, Demütigung, sexuelle Ausnutzung. Mit Abscheu möchte man sich von dieser entsetzlichen Geschichte abwenden, die ständig in einer poetischen Sprache von täglichen Gewalterfahrungen berichtet, zugleich aber auch zeigt wie sexuelle Lust mit Machtausübung und Gewalt verbunden sein kann.  Da führen Männer mit Peitschen das Regiment.

 

Das Buch steckt voller Symbolik.


„Ich bin in eine Welt der erlaubten Vergewaltigung als Kennzeichen der Macht eingetreten und geblieben. Ich habe keinen Widerstand geleistet. Und wahrscheinlich werde ich auch nicht von hier weggehen … Der Schiffbruch und der Gebieter haben mich allein und verworfen in der Ecke zurückgelassen. … Er war der Herr und Gebieter und ich hatte nicht gewusst, dass ich so sehr auf ihn wartete.“


Die Frauen leben in der Oberstadt die Männer in der Unterstadt. Das Leben spielt sich ab wie in einer Strafkolonie Kafkas.
Auch vor Klarheit und Brutalität schreckt die Autorin nicht zurück, wenn sie etwa schreibt, „dass sie einem das Kind herauskratzen, wenn man schwanger wird.“ Und wie gesagt Peitschen führen ein schreckliches Regiment in diesem Buch und eine Hauptrolle. Ein faszinierendes, verstörendes Buch..

 

Berta Bojetu
Filio ist nicht daheim
Slowenische Bibiliothek Wieser Verlag

 

Berta Bojetu wurde 1946 in Maribor geboren. Studium der Slawistik und an der Akademie für Theater, Regie, Film und Fernsehen (AGRFT) in Ljubljana.

Eis-Vulkane-Erdbeben und Literatur: ISLAND

Als wir vor Jahrzehnten mit einem Unimog zu einer Rundreise auf Island unterwegs waren und gerade die Fähre verlassen hatten, passierten wir eine Brücke und die gesamten Vorräte fielen am ersten Urlaubstag in einen reißenden Fluss, so dass wir vier Wochen ohne eigene Nahrungsmittel waren. Wir ernährten uns von lauwarmen roten Hot-Dog-Würstchen (Rød pølse) an der Tankstelle und von selbst gesammelten Pilzen. So waren wir nah an der Natur in Island in den vier Wochen und halb-vegan.


Auch die Literatur in Island ist nah an der Natur. Das beweist die literarische Reise des Autors Halldór Gudmundsson die eine jhahrhundertlange ist. Sie führt zunächst vom wortlosen Land der Eddas und Sagen-Geschichten über die Königssagas, die Isländer-Sagas bis zu den Romanen der Könige, über die Reformationsphase bis hin zum Humanismus. Dann gab es das endlose Jahrhundert der Dichtung, denn man muss wissen, wenn die nordische Dunkelheit über Island kommt und die tiefen Winter die Melancholie allerorts verbreiten, dann wird in Island fast ein jeder automatisch zum Erzähler und dann zum Dichter.

 

Dann tanzen überall auch Elfen über die Wiesen. Und viele glauben wirklich daran und lassen ein quadratisch Stück Rasen stehen, damit sie dort einparken können. Halldór Gudmundsson berichtet vom Mythos der kleinen Sprachen, von der Atomdichtung im Kalten Krieg, vom Einfluss der Dänen, Briten und dann der US-Amerikaner, von dem Eindringen der Moderne in die Literatur Islands, aber immer ist auf dieser Insel die Entwicklung etwa ein hundert Jahre zurück gegenüber vergleichbaren Ländern bis sie jeweils aufholen. Also zum Beispiel bei der verspäteten Entstehung des Romans. Typisch auch, dass Literatur, die durch Frauenhände und Hirne entsteht auch auf Island in der Minderheitenposition blieb. Aber die Menschen auf dieser Insel haben eine unbändige Lust zu formulieren, und das merkt man auch Halldór Gudmundsson selbst an. Es ist ein Opus Magnum, was er da vorlegt, eine Geschichte der Literatur von einem Land, in dem sich Feuer und Eis, freundschaftlich und feindlich begegnen, indem die Plattentektonik der Erde zu mancherlei Eruption führt, so dass die Bevölkerung an Erdbeben und Lava-Fontänen sowie Geysire gewöhnt ist, und die Geothermie gerne nutzt, auch wenn es sich auf Lavafeldern schlecht Auto fährt. Auf Island kann man mit Jules Verne buchstäblich eine Reise zum Mittelpunkt der Magma-Erde gedanklich und teilweise real wagen. 

 

Es gelingt dem renommierten isländischen Autor, ein sehr breit gefächertes Bild der Literatur Islands an den Leser zu bringen, und der sitzt, wenn er das Buch liest, wie in einem Kinosessel, vor sich die Cinemascope- Leinwand, die ein farbiges und eben wirklich breites Bild der Literatur Islands anbietet. Ob schwarze Wikinger und Walrosse, Weltuntergang-Sagas, die Mythologie des Nordens, das dänische und germanische Erbe, die Literatur an Königshöfen, das Geschichtenerzählen in den Familien, die Weltliteratur, die keiner kennt, später dann doch zum Beispiel vom Nobelpreisträger Halldór Laxness, die nordischen Düster-Krimis, all das fängt Halldór Gudmundsson für uns so farbig beschrieben ein, dass man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen will. 

 

Guðmundsson erklärt die geschichtlichen und sozial-historischen Zusammenhänge immer hintergründig mit, betont die ländlichen Strukturen, den Alltag in den isländischen Dörfern oder Gehöften, berichtet über die Naturgewalten, die Vulkane, die Berge, die Lava, das Meer die Menschen, beschreibt das Entstehen des Verlagswesens, erzählt immer mit, unter welchen Lebensumständen die Schriftsteller arbeiten, nur selten reichen die Einnahmen fürs Schreiben zum Leben. 
In Reykjavik beeinflusst die Rockmusik in jüngerer Zeit die literarischen Talente, am Fjord geschieht Mord und Totschlag, und da interessieren die Charaktere der Menschen und ihre Motive mehr als der Plot. 
Ob Fischexport oder Auslandsgeschäfte mit Energie mit der Wasserkraft, der Einfluss der Immigranten, die Zusammenhänge und Hintergründe werden in den Porträts über einzelne Literaten immer mit erzählt.

 

Das Buch endet etwas abrupt, oh es ist ja schon das Ende, ist der Leser überrascht, man vermisst ein abschließendes Resümee-Kapitel, bei der üppigen Fülle des Materials vielleicht auch ein zu hoher Anspruch, aber in einem Zitat kommt ein Fazit doch auch zur Geltung: “Die Literatur half den Isländern im 20.Jahrhundert auch, sich in der Fremde, in der Moderne zurechtzufinden. Um dies zu erreichen, musste die Literatur ihr eigenen Grenzen überschreiten: Mehr Menschen mussten zu Wort kommen, und alle Aspekte der Gesellschaft mussten diskutiert werden”, bilanziert der Verleger, Schriftsteller und Kulturmanager, der den in diesem Zitat erhobenen Anspruch selbst mit diesem seinem Buch über isländische Literatur durch die Jahrhunderte bestens selbst erfüllt hat. Ein opulentes und faszinierendes, vollständiges Porträt einer Literaturinsel, die am besten charakterisiert wird mit einer Kapitelüberschrift aus dem Buch selbst: „Ein Land voller Worte“.

 

Noch ein persönliches Wort zum Abschluss, das ich sonst eher vermeide. Vor lauter Schrecken, dass alle Lebensmittel im Fluss dahinschwammen, verlor ich gedankenlos im Supermarkt meine Scheckkarte, ohne es gleich zu bemerken. Als ich vier Wochen später die erste europäische weibliche Staatspräsidentin Vigdis innbogadóttir in Reykjavík in ihrem Büro besucht habe, um sie zu interviewen, sagte Sie mir zur Begrüßung: ”Vermissen Sie etwas?” “Ja”, sagte ich, “Meine Scheckkarte.” “Hier ist sie.” Wir lachten beide herzlich und waren uns einig: So ist Island, einfach liebenswert.   

 

Halldór Gudmundsson wurde 1956 in Reykjavík, Island, geboren, wuchs zum Teil in Deutschland auf und studierte in Dänemark. Bekannt ist er als Verleger, Schriftsteller und Kulturmanager.

Er war langjähriger Direktor von Mál og menning, damals Islands größtem Verlag, und später von Edda (1984-2003). Seit 2007 ist er Vorstandsmitglied von Forlagið und seit 2019 dessen Vorsitzender.

Gudmundsson hat mehrere Bücher verfasst, darunter eine Biografie über den isländischen Nobelpreisträger Halldór Laxness, für die er den Isländischen Literaturpreis erhielt und die in fünf Sprachen übersetzt wurde. Eine besondere Rolle spielte Gudmundsson als Projektleiter für die Ehrengastländer auf der Frankfurter Buchmesse: 2011 für Island und 2019 für Norwegen.

 

Darüber hinaus war er von 2012 bis 2017 Direktor von Harpa, dem international bekannten Konzerthaus und Konferenzzentrum in Reykjavík. Gudmundsson engagiert sich in verschiedenen kulturellen Gremien, unter anderem seit 1987 im Vorstand des Isländischen Literaturfestivals und seit 2022 im Vorstand von Snorrastofa, dem Kultur- und Mittelalterzentrum in Reykholt, sowie als Aufsichtsratsvorsitzender des Isländischen Nationaltheaters.

Er ist verheiratet mit Anna Vilborg Dyrset, die beiden haben fünf Kinder.

 

Halldór Gudmundsson
Im Schatten des Vulkans Eine literarische Reise ins Herz Islands btb

 

Currywurst,Pommes und der Lärm des Lebens

Ich mag diese depressiv angelegte Stinkstiefel-Rolle, die Jörg Hartmann im Dortmunder Tatort spielt. Oder sein Auftreten in der Serie “Weißensee” als bösartiger Stasi-Major. Sehr überzeugend, wenn Hartmann in solche Rollen schlüpft. Er kann spielen, aber kann er auch Schreiben? Ja! Drehbücher sowieso schon, und mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Das Motiv, dieses Buch zu schreiben, war der Tod seines Vaters, den Hartmann schreibend besser verkraften wollte. 

 

In diesem Buch tritt er als Autor ganz anders auf, als wir ihn vom Fernsehen her kennen, nämlich als liebevoller Sohn seiner Eltern oder auch Enkel seiner Großeltern. Dieses Buch ist wirklich eine blanke Liebeserklärung an die Kraft seiner Familie einerseits und an die Region des Ruhrpotts auf der anderen Seite. 


Im Klappentext zum Buch steht geschrieben, Hartmann würde die Balance zwischen Tragik und Komik halten. Das stimmt, aber auch die Balance zwischen familiären Situationen und öffentlichen Entwicklungen, zwischen Problemen in der Familie und einfach dem auch egoistisch ersehnten Lebensgenuss, zwischen objektiven geschichtlichen Fakten und subjektiven Erlebnissen und Erkenntnissen. Immer ist seine Sprache sehr nah dran am Ruhrpott-Leben. 


Herrlich die Eingangsszene, wie Hartmann, um als Schauspieler an eine Rolle zu kommen, sich an die Theater-Giganten ranmacht, um mit seinem Schauspielerfreund endlich vorsprechen zu dürfen. Denn Hartmann will an den berühmten Kammerspielen in München reüssieren oder aber in Berlin an einem renommierten Theater, am besten an der Berliner Schaubühne. Der Anspruch ist hoch, es bleibt bei einer Ausbildung an der Schauspielschule in München, die er in einigen ersten Stadien erfolgreich absolviert, aber doch nicht bis zum Abschluss bringt. Es sind auch die Selbstzweifel, die den Künstler plagen.

 

Hartmanns Buch ist voller Kraft, scharfkantig geschrieben, auf den Punkt genau, trotzdem witzig und sensibel und liest sich in einem Rutsch durch. Es macht einfach Spaß, seinen Gefühlen, seinen Beobachtungen, seinen Einschätzungen zu folgen. Dabei ist das Familiäre gar nicht so rasend spannend. Ja, es ist eben der LÄRM DES LEBENS.

 

Aber allein die Szenen, mit denen man sich selbst auch identifizieren kann, faszinieren, oder aber auch das karikierende in den Dialogen, zum Beispiel die Lebenswirklichkeiten am Theater. Hartmann kann Szenen schreiben, also vermutlich von seiner Theaterausbildung her geprägt, aber er kann auch knappe Dialoge glasklar formulieren. Immer wieder muss man als Leser schmunzeln oder gar lautstark lachen, wenn die direkte Sprache der „Ruhrpottler“ buchstäblich an unser Lese-Ohr dringt. Auch den Berliner Dialekt hat Hartmann drauf. 

 

Hartmanns Vater erkrankt an Demenz, rührend wie der Sohn das beschreibt und dabei zugleich auch einen Blick in sein Innerstes zulässt, weil er sich eben mit schweren Vorwürfen gegen sich selbst plagt, sich nicht genug um seine eigene Familie aber auch um die vorherige Generation ausreichend kümmern zu können, denn sein Schauspielerberuf verlangt ihm vieles, vor allem aber Zeit ab. 
Hartmann trifft immer den richtigen Ton, sein Text ist unterhaltsam und dennoch auch tiefgründig gelungen. Hartmann hat Beschreibungspotenz, deshalb wartet man gerne auf sein nächstes Buch. Hoffentlich ist es bald da! 

 

“Hömma! Es sind noch einige Döneken zu erzählen. Glückauf!” 


Jörg Hartmann gehört zu den bedeutendsten deutschen Charakterdarstellern. 1969 geboren, wuchs er in Herdecke, im Ruhrpott, auf. Nach seiner Schauspielausbildung und verschiedenen Theaterengagements wurde er 1999 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Fernsehproduktionen wie «Weissensee» oder der Dortmund-Tatort, in dem er Kommissar Faber spielt, machten ihn einem breiten Publikum bekannt; im Kino war er etwa in «Wilde Maus» oder zuletzt in «Sonne und Beton» zu sehen. Jörg Hartmann wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Fernsehpreis, der Goldenen Kamera und dem Grimme-Preis. Für den Tatort «Du bleibst hier» (2023) schrieb er das Drehbuch. Er hat drei Kinder und lebt mit seiner Familie in Potsdam.

 

Kafka lebt - in Meran und arbeitet im Kino

Anspielungen, Überschreibungen, Umformungen, Bruchstücke, ich füge hinzu Annäherungen und Entfernungen, das alles “patchworkt” Setzwein, als sei sein Name ein Programm in ein „Setzwerk“, eine Art Mosaik, man könnte auch sagen ein Puzzle aus Kafkas Lebensfundus und aus des Autors eigenen Betrachtungen zusammen. 

 

In den Nachbemerkungen offenbart der ostbayerische Autor, mit welchen Materialien er wie umgegangen ist. In einem Interview mit der Passauer Neuen Presse erwähnt Setzwein auch die Erzählung DIE VERWANDLUNG, das Werk DER PROCESS und IN DER STRAFKOLONIE, Werke Kafkas, die ihn von Jugend an geprägt und beeinflusst hätten. 

 

Auch die dreiteilige Biographie über Kafka von Reiner Stach, erschienen bei S.Fischer, erwähnt der Autor als Materialsammlung.  

 

Zum Buch selbst. Es ist ein zweites Leben nach Kafkas eigentlichem Tod 1924, der irgendwie für den Autor nicht wahr sein soll. Und darum gibt ihm Setzwein ein zweites Leben in Meran. Dort hat sich der scheue Schriftsteller hin zurückgezogen und arbeitet an diesem sonnigen Platz der Erde als Platzanweiser in einem Kino, im APOLLO. 

 

An diesem dunklen Ort trifft Kafka täglich seine Leinwandhelden und das Kinopublikum auch. Kafka bleibt auch bei Setzwein ein Sonderling, in einem grotesken Buch, eine nicht ganz so traurige Figur wie im richtigen Leben. 

 

Zum Beispiel: Wenn Kafka Nahrung zu sich nimmt, meist kein Fleisch, schon damals im Trend, beißt er exakt 32-mal auf den Bissen, um gesund zu bleiben. 

 

Er tritt auch mutig ans Fenster, um dort gelenke Leibesübungen zu vollziehen, ein Kraftakt des Schwächlings Kafka, verbunden mit der Hoffnung, dass dies alles seinem geschwächten Körper auch guttut. Im Text lässt der Autor auch das eine oder andere Kafka-Zitat schon einfließen, zum Beispiel jenes über die Bücher, die wie eine gefrorene Axt in dem Meer in uns wirken sollten.


Auch der Briefwechsel Kafkas mit seiner Übersetzerin Milena Jesenská kommt in diesem Buch vor. Auch der nie abgesandte Abrechnungsbrief an seinen Terror-Papa, auch die Szene als Kafka von seinem Vater durch die Tür auf den eiskalten Balkon gestoßen wird, dieser die Ausgangstür verschließt und den Buben in der Kälte zurücklässt. 


Dieser Roman ist wie ein Road Movie, ein Hineinfahren in die “bucklige Welt” und ein mit Schwung wieder aus hier herausfahren, irgendwann, mit Besuchen in Wien, München und Graz. Eine Fahrzeit durchs Leben, gemeinsam mit einem gewissen Marek. Ein Pole. 


Der Herr Doktor, also Kafka, wird als notorischer Einzelgänger wahrgenommen, der seine Flucht ins Schreiben organisiert. Das Verlangen nach dem Schreiben bei Kafka wird von Setzwein besonders betont. Dieser Trieb lässt sich zwar monatelang unterdrücken, aber irgendwann meldet er sich dann vehement zurück, dann braucht Kafka fürs Schreiben nur ein Zimmer, einen Schreibtisch, Papier, Tinte am besten auf einer einsamen, unbewohnten Insel. 


Die Bücher seines Freundes Max Brod könne er auf den Tod nicht ausstehen, wird Kafka in den Mund gelegt: Dieser Schwulst, diese Gefährlichkeit, dieser Prosa müsse man am besten das Etikett Doppelrahmstufe anheften. Dies hatte Kafka gequält, es aber Max zu sagen, hatte er sich nie wirklich getraut. Kafka hatte, wenn die Rede darauf kam, einfach nur geschwiegen. Über Franz Werfel ist Kafka ebenso fassungslos, wie man nur so derartig schlecht schreiben könne. 


Ein Roadmovie das Ganze, nicht immer auf gerader Strecke unterwegs, manche Kurve wird genommen, zuweilen fehlt Tempo, wenn’s in die Landschaften geht. Nehmen wir fürs Fazit eine Metapher passend zu Kafkas Essgewohnheiten: Setzweins Buch ist ein Appetizer für Kafkas Werke. 

 

Bernhard Setzwein wurde 1960 in München geboren und studierte Germanistik. 1990 zog er in die Oberpfalz, er lebt heute in Waldmünchen und in München. Setzwein ist Autor von Lyrikbänden, Essays, Reisefeuilletons und Romanen. Außerdem hat er ein Dutzend Theaterstücke und zahlreiche Radio-Features verfasst. Oft befassen sich seine Werke mit dem mitteleuropäischen Kulturraum.

 

Bernhard Setzwein Kafkas Reise. Durch die Bucklige Welt Edition Lichtung.

Valerie Fritsch: „Zitronen“ 

Kindsein in Slowenien

Wenn man sich nicht mit den Kulturen anderer Länder beschäftigt, holen einen zuweilen wieder Kriege ein. Slowenien ist ein Erbfolgestaat der Auseinandersetzung um das jugoslawische Territorium, und auch darum gab es einen Krieg. So muss der Kärtner und zugleich Slowene, Lojze Wieser, immer wieder darauf hinweisen, dass es sich lohnt, die Literaturen der Länder an Rändern wahrzunehmen: “Im Angesicht des Krieges gilt umso mehr: Europa – und die Welt – kann nur erlesen werden. Buch um Buch, nicht Krieg um Krieg.” 

 

Wissen wir um die Kultur der Ukraine oder Moldawiens?

 

Auf www.facesofbooks.de stellen wir die umfangreiche 33bändige slowenische Bibliothek künftig in loser Reihenfolge vor, damit wir mehr wissen über Wissen, Denken, Fühlen, Malen, Schreiben anderer Länder. Verleger Wieser sagt: “Noch vor gut vier Jahrzehnten gab es keine slowenische Literatur in deutschsprachigen Übersetzungen.Wir haben für diese Literaturen gekämpft, um die Schallmauern der Ignoranz zu durchbrechen.”

 

Heute also ein weiteres Werk aus der Slowenischen Bibliothek, über das Peter Handke sagt: “Was für ein Schatz wurde da für unsere Leser geborgen.” Und über den Autor sagt er auf dem Buchumschlag: “ (...) ein wunderbares Buch, einfach, dabei tief, voll Einsicht ins Weltgetriebe…”

 

Es ist ja ein ehernes Gesetz, je älter man wird, desto häufiger erinnert man sich an Kindheitstage. Nicht immer positiv, aber mitunter schon.  

In seinem letzten Werk - PREŽIHOV VORANC Maiglöckchen. Erzählungen aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Nachwort von Karl-Markus Gauß -  kurz vor seinem Tode auf die Welt gebracht, erinnert sich der Autor an die Kindheit in elf farbigen Erzählungen. 

 

Es ist ein Wehmutsbuch: In der titelgebenden Erzählung “Maiglöckchen” heißt es “Ach, wie gern würde ich morgen ein paar Maiglöckchen mit in die Kirche nehmen, aber es gibt sie nirgends mehr.” Verlust und auch Angst prägen die Erzählungen.  

 

Für mich ist die schönste über ein Stoppelfeld, die mir selbst Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis ruft: “Wenn der Heiden geschnitten wird und das Wetter schön und sonnig ist, ergießen sich übers Feld die schönsten Farben, die die herbstliche Natur vermag. Es stimmt, daß die Felder irgendwie melancholisch sind, denn der ganze Sommerwuchs ist bereits im Absterben, aber all die versonnene Melancholie, die Felder und Wälder, Bergland und tiefe Schluchten überzieht, ist so schön, daß das menschliche Herz unweigerlich seltsamen, fernen Gedanken nachhängt. In dieser Zeit fließen in der Atmosphäre unzählige wunderschöne Farben ineinander – die Farben von vergilbtem Laub, braunen Äckern, grünen Fichtenwäldern, rötlichen Lärchen- und Buchenhängen der näheren Berge, die Farben der düsteren Auen und Schluchten, die sich in jene wundersame, friedliche herbstliche Buntheit ergießen, die sich kaum beschreiben läßt.” 

 

Doch, es ist ja von gerade beschrieben worden, in faszinierenden Worten, vom Schriftsteller Prežihov Voranc, dessen Spätwerk um 1900 erschienen ist. Lovro Kuhar, sein eigentlicher Autorenname, war Kleinbauernsohn und Vagabund, Berufsrevolutionär, politischer Häftling und Abgeordneter, wie der Autor Karl-Markus Gauß in seinem Nachwort schreibt. 

 

Kindheit war in jenen Jahren ein unproduktiver Zeitabschnitt, die Bauern brauchten einfach Arbeitskräfte. Gauß schreibt, es seien ganz zarte und leise Geschichten von Kindern, in denen die Trauer um das vorenthaltene Glück leuchtet und sinnlich die Freude ferner Tage aufblitzt - wehmütige und schöne Geschichten, die in Wehmut wie Schönheit gleichermaßen
unbeschwert sind von der Last der Ideologie. Und wie die Kinder
das Recht auf ihre Kindheit haben, so muß auch die Literatur, die
von diesem Menschenrecht kündet, von pädagogischen und ideologischen
Zwängen entbunden sein, frei von parteipolitischem Auftrag wie volksbildnerischer Verpflichtung.” 

 

Die Erzählungen sind Betrachtungen über das “bejammernswerte Elend”  aber auch zugleich ein “warmherziges Werk, das vom Abenteuer der ersten Wahrnehmung, vom Glück der sinnlichen Erfahrung, von Reichtum und Fülle erzählt”, steht im Nachwort geschrieben. 
So zeigen diese elf Erzählungen enge Parallelen zwischen Literatur und Kindheit, beide sind ungebunden, suchen neue Wege, sind nicht normiert, finden einfach oder auf kompliziertem Wege in die Welt. 

 

PREŽIHOV VORANC Maiglöckchen. Erzählungen aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Nachwort von Karl-Markus Gauß

Leben durch die Jahrhunderte

Man könnte dieses Buch einen „Schelmenroman“ nennen über einen Kriegshelden, der die Zeitläufte des 20.Jahrhunderts erlebt wie in einem farbigen Cinemascope-Breitwandfilm der 1950er Jahre, üppig, ein bisschen zu farbig, übertrieben, flunkernd geschrieben, also muss nicht alles der prüden historischen Wahrheit dienen, denn der Autor mischt Faction und Fiction und ist versierter Drehbuch- und tschechischer Erfolgsautor. Das lässt Freiheiten zu. 


Gestapo und Hitler Gulag und Stalin, dieses Buch ist eine Chronik laufender historischer Ereignisse. 


Stančík ist Lyriker und Dramatiker, hat Regie studierte, kann mit Worten umgehen, Dialoge schreiben und Szenen entwickeln. Sein Buch ist ein Mix aus Essay, Reportage und Sachbuch eine romanhafte Tagebucherzählung, ein Abenteuerroman mit Rahmenhandlung. Das Buch passt so gar nicht in eine Genreschublade, und das ist gerade das reizvolle daran. 


Pravomil, die Hauptfigur datiert die vom Verlag so genannte „Tagebucherzählung“ in einen Lebensabschnitt von 14 Jahren bis hin zum Tod. Ein Heldenepos über eine gesamte Lebensstrecke, die  augenzwinkernd dargestellt wird. 


Nennen wir einige Inhaltsbeispiele.


Wir erfahren unter anderem, dass die Hauptstadt Berlin von Slawen gegründet wurde, „berl“ heißt nämlich im Slawischen „Sumpf“. Ach so! 
Und auch allzu alltägliches wird aufgetischt, dass Lieben viel mehr mit dem Essen zu tun hat, als man jeh ahnte. Oder am Rande erwähnt, dass Dvoraks von Todesahnung geprägter Schlusssatz lautete: „Mir dreht sich irgendwie der Kopf, ich gehe mich hinlegen.“


Auf Seite 83 lernen wir ausführlich die Methode Schnaps zu brennen. Und ein paar Seiten weiter heisst es wörtlich: „Kümmelschnaps ist für Weiber, Kognac für Millionäre. Ein Soldat trink Rum, weil es sich danach gut mit dem Bajonett angreifen lässt.“ 


Auch außenpolitische Grundkenntnisse werden vermittelt: “Grossmächte sind egoistisch, und wenn es am schlimmsten ist, kümmert sich jeder nur um sich selbst.“


Auf Seite 191 findet sich eine köstliche Sexszene, die mehr als nur Schmunzeln lässt, da der Autor sie erst beendet, weil die Präservative ausgegangen sind bzw. die Holzhütte, in der alles geschah, zwar aus Holz gebaut war, aber die beiden Sexpartner beim Ficken erlebten, dass kein Stein auf dem anderen blieb und sie die Hütte beim Rammeln bis an den Rand des Abgrunds verschoben hatten. Keine Scheu, diese klarne Worte auch so hinzuschreiben ohne Scheu. 


Der Autor entlarvt auch Hitlers Propagandasätze schmunzelnd und mitgeliefert wird dabei auch Klartext: „Deutschland und die Sowjetunion zerteilten Polen wie eine Stange polnischer Wurst.“ 
Wie das alles ausgeht am Ende, das Lebens- und Romanende wollen wir nicht verraten. Ein Geschichts- und Lebenspanorama voller Lebenserfahrung und Lebensgefühl und daher lesenswert.

 

Petr Stančík Die Verjährung WIESER Klagenfurt 

 

Petr Stančík, geboren 1968, ist ein tschechischer Prosaautor, Lyriker und Dramatiker. Nach zwei Jahren Regiestudium an der Prager Akademie der Musischen Künste arbeitete er als Fernsehregisseur und später als Texter. Nach 1989 veröffentlichte Petr Stančík zunächst unter Pseudonym. Heute gehört er in Tschechien zu den Bestsellerautoren und widmet sich seit 2016 ausschließlich dem Schreiben. Dabei mischt er Fakten und Fiktion – phantasie- und humorvoll und sprachlich augenzwinkernd lustvoll. Auf Deutsch erschien bereits die Legende Perak: Der Superheld aus Prag, edition clandestin, 2019, Original 2008); für den Krimi Mlyn na mumie (2014, Die Mumienmühle) erhielt er 2015 den renommierten Preis Magnesia Litera. Stančík veröffentlichte weit über zwanzig Bücher in verschiedenen Genres und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Prag.

Stella Benson: Zauberhafte Aussichten 

 

Zwei Frauen gehen auf Entdeckungsreise in den verstaubten Regalen der abgelegten Literatur. Sie entdecken ein, wie sie meinen, “abwegiges“ Buch, das vor über hundert Jahren erschienen und von viel berühmteren Kolleginnen wie Katherine Mansfield oder Virginia Woolf bewundert wurde. Die französische Fassung erhielt damals den Prix Femina. Die Entdeckerinnen verstehen etwas von Büchern: Magda Brinkmann ist Buchhändlerin in Berlin und Nicole Seifert promovierte Literaturwissenschaftlerin in Hamburg. Was führte beide zu diesem „abwegigen“ Buch, das unter dem Titel „Zauberhafte Aussichten“ in der Übersetzung von Marie Isabel Matthews-Schlinzig jetzt in der Reihe Entdeckungen als rororo Taschenbuch erschienen ist. Verfasst wurde es von Stella Benson (1891 – 1933), einer Feministin, Romanautorin und Reiseschriftstellerin. Es gehört in die Reihe der Kriegsliteratur, ist während des Ersten Weltkrieges begonnen worden und 1919 unter dem Titel „Living Alone“ in London erschienen. Es handelt in 10 Kapiteln von Frauen, die sich in London während des Krieges für wohltätige Zwecke engagieren. Sie treffen sich in entsprechenden Komitees, manche von ihnen gehen täglich von Komitee zu Komitee und die Autorin versäumt nicht, dieses – heute würde man sagen: zivilgesellschaftliche – Engagement hoher Intensität ein wenig auf die Schuppe zu nehmen. Zu einer dieser Sitzungen erscheint eine veritable Hexe mit ihrem Besen, die in einem geheimnisvollen Haus auf der fiktiven Fäustlingsinsel in der Themse lebt. Auf der Sitzung verwirrt sie die Komiteemitglieder mit widersprüchlichen Angaben über ihre Person. Die junge Sarah Brown jedoch findet die Hexe interessant genug, um zu der auf ihrem dort stehengelassenen Besenstiel angebrachten Adresse auf der Insel zu gehen und sich in dem Haus einzuquartieren, das den Namen „Alleinleben“ trägt. Die absurde Hausordnung verbietet, dass ein Gast einen anderen bewirten darf, es gibt weder Telefon noch elektrisches Licht und zum Schluss heißt es: „Für das Wohnen in diesem Haus wird kein Entgelt erhoben.“ Vielleicht bewog diese Bestimmung Sarah Brown, das Wagnis einzugehen und das verordnete Alleinsein zu leben. Es entsteht eine fantastische Geschichte, „abwegig“ eben, aber literarisch gekonnt und – das hat die Herausgeberinnen wohl auf ihrer Schatzsuche zur Veröffentlichung bewogen – ein feministischer Schlüsselroman über den Ersten Weltkrieg. Geschrieben ist er voll naiver, hochkarätiger Ironie. Obwohl das Alleinleben im Mittelpunkt steht, treten ebenso skurrile, „englisch“ erfundene, jeweils markant figurierte weitere Personen in dem herausfordernden Buch mit eigenen Geschichten auf. Seine Dialoge sind z.T. in einem Dialekt verfasst, den die Übersetzerin virtuos in eine deutsche Parallelsprache „neben dem Duden“ transponiert. Verrückt ist das alles wie der ganze Krieg, nur nicht so mörderisch. Der Kanonendonner von der Somme oder aus den Ardennen gibt hier den Generalbass für eine die Frauen in London direkt an ihre eigene Front führende magische Geschichte. Offenbar traf das Buch bei seinem Erscheinen den Nerv der Zeit. Als ob es das heute nicht täte!

 

Harald Loch

 

Stella Benson: Zauberhafte Aussichten   Roman

Aus dem Englischen von Marie Isabel Matthews-Schlinzig

Herausgegeben von Magda Birkmann und Nicole Seifert

Rororo Hamburg 2024   Deutsche Erstausgabe   222 Seiten 

 

Dževad Karahasan: Einübung ins Schweben 

Was heißt Schweben? Sich in der Luft, im Wasser im Gleichgewicht halten, ohne zu Boden zu sinken. Frei schweben, sich vielleicht auch schwebend irgendwohin zu bewegen. Oder einfach durch die Luft schweben, wie fliegen oder gleiten, das sind nur einige Synonyme, die im Internet von it-Sprachhelfern zur Verfügung gestellt werden. 
Kann man sich im schwebenden Gleichgewicht halten, wenn brutaler Krieg herrscht? 


Sind wir nicht genau aus diesem Gleichgewicht geraten und auf den Boden der Tatsachen gefallen durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine? 


Vergegenwärtigen wir uns den Bosnienkrieg in der Rückschau. Endergebnis nur für Sarajewo: 35.000 Gebäude wurden zerstört, etwa 11.000 Menschen starben. 


Ich habe den Autor Dževad Karahasan bei einer Europatagung kennengelernt und ihn interviewen dürfen. Seine leise, bedächtige, eindrucksvolle Stimme, die immer Bedeutsames sagt, hat mich so stark beeindruckt, so tief und wirksam wie sein neuestes Buch, das auch den Leser selbst in einen Schwebezustand befördert.
Dževad Karahasan in Duvno, im ehemaligen Jugoslawien geboren, 200 Kilometer von Sarajewo entfernt, ist ein Erzähler, ein Dramatiker und auch politischer Essayist. 


Die Belagerung Sarajewos war immer schon sein literarisches Thema. 
Wir erleben in diesem Buch die politischen und menschlichen Auflösungszustände im Anblick von militärischer Gewalt. In den philosophisch grundierten Gesprächen hören wir die klare Sprache des Autors, von der Kritiker sagen, sie habe die „Dichte einer großen Erzählung“. In Sarajewo, an der Nahtstelle zwischen Orient und Okzident, hat sich ein Vielvölkergemisch vereint: Bosniaken, Serben, Kroaten, Muslime, Christen, Juden und Nichtgläubige. 
Peter Hurd, die eine Hauptfigur des Romans, macht die Belagerung der Stadt verrückt, treibt ihn zum Wahn und Drogenrausch. 
Karahasan liebt den dialogischen Roman, der wie eine Brieferzählung daherkommt. 


Eine Textpassage führt uns fast mitten hinein ins Früher aber als ein Déjà-vu auch irgendwie in die heutigen Tage des Ukraine-Krieges: „Sie greifen das Innenministerium an, sie schießen aus großen Kalibern ... Wie war es möglich, dass wir so schnell angefangen hatten, über Kaliber und Waffengattungen zu sprechen, die Entfernung der Explosion einzuschätzen und andere militärische Dinge zu diskutieren, über die wir heute nicht mehr wussten als gestern, als wir einen Krieg in Sarajewo noch für unmöglich hielten und von Kalibern keine Ahnung hatten.“
Kurz vor dieser Textpassage hat eine Granate auf dem Bürgersteig in Sarajewo einen Menschen pulverisiert. Eine fürchterliche Explosion hatte den ganzen Körper buchstäblich in einzelne rote Tröpfchen verwandelt, die nach allen Seiten auseinander spritzten.


Wir sind in Sarajevo – zurückgebeamt. 


30 Jahre hat Karahasan gebraucht, um in diesem Buch sein Schicksalsthema Sarajevo abzuarbeiten.


Es hat sich gelohnt, so lange zu warten, denn die Dichte seines Romans ist ungeheuerlich. 


Karahasan ist ein empfindsamer Autor, der zum Beispiel darüber nachdenkt, dass das Wissen des Menschen früher begonnen hat als alles Erlernte. Zum Beispiel fragt er sich: „Wer hat meine Haut gelernt, warm und kalt zu erkennen, oder glatt und rau zu unterscheiden, und wann?“ 
Im Gespräch mit seinem Freund Peter Hurd diskutiert Karahasan auch die Funktion von Sprache: „In der Sprache ist alles enthalten, was möglich ist, also alles, was existiert und alles, was nicht existiert, aber existieren könnte, und jeder einzelne Mensch erkennt in diesem unbegrenzten Angebot das, was er in sich trägt.“ 


Auch das Thema Gerechtigkeit wird aufgegriffen: „Warum teilte sich die Gesellschaft in Sarajevo damals derart radikal in jene, die raffen, rauben, retten und sich aneignen und jene, die sorgsam darauf bedacht sind, dass ihnen auch nicht eine Zigarette in die Hand gerät, die nicht ihnen gehört?“


Von den Bergen um Sarajewo herum schießen Artilleristen und Scharfschützen sogar auf Menschen, die in einer kleinen Gruppe um ein frisches Grab herumstehen, und töten Trauernde oder verletzten sie schwer. 


Es wird also gezielt geschossen auf Friedhöfe in Sarajevo. Als wolle man die Toten nochmals töten, und dabei auch die Lebenden erwischen. 
Und wann kommt der Autor nun zum Schwebezustand? Eigentlich in dem ganzen Buch, besonders aber auf Seite 99.  Hier wird das Paradoxon erklärt, indem Peter Hurd zum Himmel zeigt und sagt: „Hier schwebt alles, Rauch schwebt über zahllosen Brandstätten über der ganzen Stadt, in der ständig etwas brennt. Die Seelen der Ermordeten und Unbestatteten schweben über und um uns. Fliegen schweben über Müllhaufen und Leichen. Unsere rauschgiftabhängigen Freunde schweben, und jetzt, da, schweben auch die Vögel. Und das ganze Schweben spielt sich in der schwersten Stadt der Welt ab.“
Es ist also der Schwebezustand gemeint zwischen Leben und Tod, zwischen Existieren und Aufgeben, zwischen weiser Einsicht und Drogendunst im Kopf, zwischen Scheitern von ahnungsloser Politik und weiser philosophischer Erkenntnis.  


Es sind Karahasans „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“, in die wir hinabtauchen, in eine Stadt unter Belagerung, in der allerdings auch Licht leuchten kann. „Es leuchtet genug, um in Zuständen der Verzweiflung sogar lesen zu können, aber doch schlecht genug, um nicht alle Scheußlichkeiten der Welt und des eigenen Lebens sehen zu können.“


Für Karahasan ist es eine Erfahrung, dass Krieg in Wahrheit eine Zeit des entblößten Menschen ist.


Und immer wieder sind es diese klaren, kurzen philosophischen Erkenntnissätze altgriechischer philosophischer Bedeutsamkeit, die faszinieren, wie etwa dieser: „Freie Menschen tragen ihre Gesetze in sich und achten sie, weil sie damit sich selbst achten.“ 


Es ist auch ein Buch über die Grundsatzfrage Gehen oder Bleiben, Flüchten oder Standhalten, tot sein oder Weiterleben, Fragen, die sich in Sarajevo und dem Bosnienkrieg, die sich aber auch heute im Überfallkrieg gegen die Ukraine erneut stellen. Insofern ist Karahasans Buch ein Augen- und Ohrenöffner, ein Roman der sensibilisiert, also eine Anleitung für den Überlebens-Schwebezustand. 

 

Dževad Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Autoren der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Essays, Erzählungen und Theaterstücke. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung 2004 und mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt 2020.


Dževad Karahasan: Einübung ins Schweben Suhrkamp

 

I bin reif für die Insel

Schon auf den ersten Seiten kommt uns eine norddeutsche Type entgegen, ein ruppiger Fährmann, der immer die Leinen los- und festmacht, ein paar Worte, ein paar Sätze, sparsam wenig Dialog, und wir sind mitten auf dieser fiktiven Nordseeinsel, die uns fortan bei der Leselust in Bann schlägt mit ihren Menschen, deren schwindenden Lebensentwürfen und deren touristischen Ersatzhandlungen für originales Inselleben uns Landratten faszinieren.

 

Dörte Hansen schreibt über eine „Zeitenwende“ mit „Wellengang“, Traditionen werden weggespült, das Inselleben ändert sich rapide, die Menschen müssen sich fügen, und immer trifft Dörte Hansen den Ton, in knappen Sätzen, stark verkürzt, schlagwortartig, geradezu lakonisch und dennoch eben treffend: „Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, die verlassen wurden oder jemanden verlassen haben. Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut.“

 

Als ein Wal auf der Insel anlandet, kommt es zum Wendepunkt in der Geschichte. Mehr wollen wir hier nicht verraten.

Da haben Männer in dem Buch wilde Bärte und grimmige Gesichter, da tragen die Tresenkräfte Fischerhemden, da hatten Seebären Erfahrungen mit der tosenden See, da fallen Sätze wie „Man muss, wenn man auf einer Insel leben will, die Tagesränder suchen“, da regen sich die Inselbewohner über Fangquoten auf, die von „Brüsseler Schwachmaten“ verordnet werden. Stattdessen entwickelt sich „Erholungsfischerei“, und die EU finanziert.

 

„Der Herr ist mein Lotse. Ich werde nicht stranden. Er leitet mich auf dunklen Wassern“, spricht der Herr Pastor, wenn die Urne - ein neues Geschäftsmodell - zu Wasser gelassen wird, weil sich Touristen auch nach dem Tod zur Nordsee hin sehnen und in den tiefen Meeresgrund als Asche-Überbleibsel abtauchen, und die Insel-Influencer verraten im Internet den Followern die letzten Spot-Geheimnisse. Die Wahrhaftigkeit bleibt auf der Strecke, wenn sich die Touristenautos an den Straßenrändern drängeln, schreibt die Hörfunkredakteurin in ihrem dritten Roman.  

 

Trauern die Menschen dem Fischerleben nach? Ja und Nein: „Sie handeln jetzt mit Seifenblasen, wie die meisten auf der Insel. Es ist ein sauberes Geschäft, verglichen mit dem Fischen oder mit dem Töten, Häuten, Kochen eines Wals. Und trotzdem halten manche es (-das neuen Leben-) nicht aus. Im letzten Satz ist vom Salz die Rede „… dem Mund voll Salz.“ Das Buch schmeckt nach mehr vom Meer.

 

Dörte Hansen Zur See PENGUIN

 

Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, arbeitete nach ihrem Studium der Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print. Ihr Debüt »Altes Land« wurde 2015 zum »Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels« und zum Jahresbestseller 2015 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihr zweiter Roman »Mittagsstunde« erschien 2018, wurde wieder zum SPIEGEL-Jahresbestseller und mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Grimmelshausen Literaturpreis ausgezeichnet. 2022 erschien ihr dritter Roman »Zur See«. Dörte Hansen, die mit ihrer Familie in Nordfriesland lebt, ist Mainzer Stadtschreiberin 2022.

Im Aufzug der Geschichte

Schon der Name der Hauptfigur Josip ist ein Phantasieprodukt, gemixt aus „Trotzki“, „Brodski“ und Joseph Roth! Könnte vielleicht auch eine Anspielung auf Josip Broz Tito sein? Auch das Buch ist ein Mix. Und die Songs, die der Moderator im Radio spielt, kommen auch in dieser Form daher. Mit QBR-Code können die Leser die Songmischung auch anhören, zwischen Tom Waits, Procol Harum und den Rolling Stones. 


Der Autor verlangt Ordnungssinn vom Leser, denn Juri Andruchowytsch legt eine derartige schreiberische Virtuosität an den Tag, groteske szenische Purzelbäume, mystische Hintergründe - eine Art ukrainisches Puzzle, vor Beginn des Krieges geschrieben, das der Leser oder die Leserin selbst zusammensetzen muss. Denn diese Gegenwartsdiagnose ist pointiert und schillernd zugleich, verwirrend und aufhellend, Thriller und Radio-Hommage, ein großartiges Stück faszinierender Literatur. 
Da sitzt ein Radiomensch nachts am Mikrofon und schwandroniert vor sich hin, spielt seine Songlist herunter, dazu eine Kaskade der Sprüche über Kindheit, dieses „ewige Drama, oder, wenn Sie so wollen, die ewige Komödie“. 


Oder, die Nullerjahre des 21. Jahrhunderts, sie „…ordneten sich einem einzigen Ziel unter - der Generierung von gigantischem, kosmisch unendlichem Zaster“. Schöne Grüße an Herrn Putin und die Oligarchen-Clique. „Ich floh vor dem Imperium, als es gerade zerfiel.“ Oder „In Wirklichkeit bestand unser Winter vor allem aus Tauwetter … Heute erinnern wir uns an de Kälte“. 


Kritiker sprechen schon von Weltliteratur.
Szenen, Dialoge, Erinnerungen, Radiomoderationen, Erzählerisches, das alles mischt der Autor in seinen Roman, als wäre das Leben und die Geschichte des Ostens in einen Shaker zu packen, den man rüttelt oder schüttelt, je nachdem, um diesen Wahnsinnscocktail genießbarer zu machen.


Dieser Rotsky ist eigentlich Musiker und hat die ukrainische Revolution auf dem Maidan als Straßenpianist miterlebt, um mit Noten und Musik auf der Klaviatur und nicht mit Kugeln zu kämpfen. 
Ukraine ist das Vexierbild, das der Autor entwickelt, ohne das Land genau zu benennen, aber doch ist es ureigentlich gemeint. „Verbreiteter Verfall … endlose Hässlichkeit, in Details ebenso wie im Ganzen (…) Kaputte Umwelt, Gestank, Dreck und Staub. Gleichzeitig ein wahnsinnig hohes Konfliktpotential im öffentlichen Raum, eine darüber ausgegossene schlimme Angespanntheit. (…)“


Rotsky ist auf der Flucht und wird gejagt in einem grellen Plot und in einem Land Absurdistan mit seinen Widersprüchen, Vordergründen und Hintergründen, ein Roman über Umbrüche, Regimeschergen, Revolutionäre, über Flucht in den Westen. 


Das ist Fantastik zur ukrainisch-russischen Realität, auf den verschiedensten Erzählebenen präsentiert, als würde der Erzähler im „Aufzug der Geschichte“ in die verschiedenen Etagen auf- und abfahren, um sich dort zurechtzufinden. Fast möchte man meinen, der Aufzug stecke gerade fest.


„Andruchowytsch ist ein scharfer Beobachter. In diesem Roman wird alles ins Absurde gedreht, alles verfremdet, und was dagegen hilft, ist die Lebenslust und die Lebenskraft des Helden …  Eine abgefahrene, bizarre Geschichte, mit großer Lust und Leidenschaft erzählt“, schreibt Jörg Magenau, Autor und Literaturkritiker für den RBB. 
Fazit: „Wenn Gott unser Richter ist, dann ist der Teufel unser Rechtsanwalt.“ 


Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, studierte Journalistik und begann als Lyriker. Außerdem veröffentlicht er Essays und Romane. Andruchowytsch ist einer der bekanntesten europäischen Autoren der Gegenwart, sein Werk erscheint in 20 Sprachen. Der Autor ist zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur geworden. Seine Auszeichnungen: Heine-Preis der Landeshauptstadt Düsseldorf 2022, Goethe-Medaille 2016, Hannah-Arendt-Preis 2014.

 

Juri Andruchowytsch Radio Nach Suhrkamp

 

Literatur vom Lande - Wilderer

Bauer liebt Künstlerin, Jakob liebt Katja. Kann das gutgehen? Kann Literatur einer solchen Geschichte dem geschmacklosen Parship-Kitsch die Stirn bieten, der in dieser Konstellation angelegt ist? Dem 1982 geborenen Reinhard Kaiser-Mühlecker aus Oberösterreich gelingt es eindrucksvoll in seinem jüngsten Roman „Wilderer“. Er bringt dafür zwei Voraussetzungen mit: Er selbst führt die Landwirtschaft seiner Vorfahren und er ist Künstler, ein Sprachkünstler, der in makellosen Sätzen und mit klaren, manchmal landsmannschaftlich eingefärbten Worten seine gut gebaute Geschichte vom Lande erzählen kann. 


Jakob bewirtschaftet den von seinem Vater schon ziemlich heruntergewirtschafteten Hof im Schatten der Autobahn, die an die längst angebrochene Gegenwart erinnert. Er lebt in dem großen Bauernhaus gemeinsam mit seinen Eltern und der zurückgezogenen Großmutter. Er ist hilfsbereit, geschickt und verdient bei der Gemeinde als eine Art Hausmeister etwas zu den schrumpfenden Erträgen der einfallslos betriebenen Landwirtschaft hinzu. Im Rahmen dieser Nebentätigkeit lernt er Katja kennen, die für ein paar Wochen ein Stipendium von der Gemeinde bekommen hat. Sie ist eine angehende Künstlerin aus Salzburg, von Erfolg weit entfernt. Anlässlich eines neugierigen Besuchs auf Jakobs Hof entwickelt sie Interesse an dessen Landwirtschaft und hilft bald sehr anstellig und voller kluger Gedanken im bäuerlichen Betrieb. Sie entwickelt neue Perspektiven, die Jakob, aus seiner Einfallslosigkeit geweckt, voller Verve und mit der Zeit erfolgreich umsetzt. Beide kommen sich näher, heiraten, bekommen ein Kind und sehen einer in der Moderne ankommenden Zukunft entgegen.
Ein Jakob ans Herz gewachsener Hund wildert gelegentlich. Jakob versucht erfolglos, es ihm abzugewöhnen und tötet ihn schließlich. Später wird ein neuer Hund angeschafft – auch er wildert und muss auch dran glauben. Aber es sind nicht die beiden Hunde, die dem Roman den Titel „Wilderer“ geben. Hinter die auch auf die beiden Hauptfiguren seiner Liebesgeschichte irgendwie zutreffende Metapher setzt der Autor ein nachdenkliches Fragezeichen. Als Katja den Hof – wohl für immer – verlässt, ist sie zur Hälfte Miteigentümerin von Haus und Ländereien und verlangt von Jakob für sich und ihren gemeinsamen Sohn die Auszahlung ihres inzwischen auch dank ihrer Initiativen werthaltigen Anteils. Sie hat als Künstlerin inzwischen einigen Erfolg erlangt und will sich und ihren Sohn aus Jakobs Familie befreien. Jakobs Vater und seine Schwester verbindet eine unselige Verwandtschaft, sein Bruder ist ein langweiliger, frömmelnder Beamter und seine Großmutter hat kurz vor ihrem Tode Jakob doch noch das erhebliche Vermögen überschrieben, das sie bei der „Arisierung“ jüdischen Eigentums in der Nazizeit geraubt hatte. Jakob wird das „Judengeld“, wie es in der Familie respektlos genannt wird, nicht anrühren.


„Wilderer“ enthält eindrucksvoll gezeichnete, sich entwickelnde Persönlichkeiten. Die Protagonisten wachsen einem auf je eigene Weise ans Herz. Die Nebenfiguren bilden eine farbige Palette menschlicher Eigenschaften ab und führen Allzumenschliches als literarischen Mehrwert mit sich. Das vermutlich überwiegend städtische Lesepublikum wird das entbehrungsreiche Leben auf einem kleinen Bauernhof ohne Romantik und in genauer Beschreibung der Natur- und Arbeitswelt nachempfinden können. Wann gab es zuletzt – außer von Kaiser-Mühlecker selbst – Literatur vom Lande, noch dazu so schön erzählt?


Harald Loch


Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer Roman
S.Fischer, Frankfurt am Main 2022   350 Seiten   24 Euro

 

Nordstadt - ein Roman über Jugendliche

Impfgegner gab es schon immer und ihre Opfer auch. Boris ist eines. Seine Mutter ließ ihn als Kind nicht gegen Kinderlähmung impfen. Als Jugendlicher erkrankte er und kann auf seinen Polio-Beinen nur eingeschränkt gehen. Schwimmen auch nur mit seinen kräftigen Armen, sein Beinschlag ist kümmerlich. Von ihm und vor allem von seiner Bademeisterin „Nene“ handelt der kleine Roman „Nordstadt“ von Annika Büsing. Er ist das erste Buch der Autorin, die Wert darauf legt, ein Arbeiterkind zu sein. Sie ist im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen und lebt mit Mann und zwei Söhnen wieder dort. Dazwischen war sie gen Norden gezogen, nach Island und dann nach Hamburg.

 

Heute unterrichtet sie Deutsch und Religion an einem Bochumer Gymnasium. Ihr Roman spielt im Wesentlichen in der Schwimmhalle der „Nordstadt“, handelt von Nenes Erlebnissen als Bademeisterin zu denen auch Boris gehört. Aus gegenseitigem scheuem Respekt wird eine vorsichtige Liebesbeziehung. Alles beginnt mit dem Schwimmbrett auf dem Nene eine Trainingsanleitung für Boris‘ Beinarbeit notiert hat und geht mit ein, zwei – die Ich-Erzählerin Nene zählt bis zu fünf – gemeinsamen Kinobesuchen weiter. Die zaghaften Versuche sexueller Annäherung münden in gelegentliches Gelingen.

 

Von alledem erzählt die Autorin in einem frischen, manchmal etwas betont jugendlichen Ton. Als Lehrerin hört sie sich so manches in der Klasse ab. Die Dialoge zwischen ihren beiden Protagonisten gelingen ihr oft auf neue Weise humorvoll, manchmal auch nachdenklich existenziell. Ihre beiden Hauptfiguren schenken sich nichts. Boris lebt im Prekariat, hat keine Arbeit oder Ausbildungsstelle, lebt von den geringen Zuwendungen vom „Geldamt“, ist am Monatsende oft so klamm, dass er nichts mehr zu essen hat. Nene steht etwas besser da und zahlt auch für Popcorn im Kino, den Eintritt sowieso. Der sozialkritische Inhalt und der deutliche Ton klagen Verhältnisse an, für die Boris nichts kann. Aber sie entlässt Boris auch nicht in die Mitleidsnische, in der es keinen eigenen Rest an Verantwortung mehr gibt. Nene selbst hat eine schlimme Kindheit mit einem alkoholkranken, schlagenden Vater und manchem Einschreiten des Jugendamts hinter sich. Als Jugendliche wurde sie von einem Gleichaltrigen vergewaltigt. Ob sie das nicht anzeigen wolle, wurde sie gefragt: „Nein, ich will es vergessen“!


Die Autorin gruppiert um Nene und Boris einige treffend gezeichnete Personen in der zweiten Reihe: Eine bürgerliche Halbschwester Nenes, mit der sie sich nicht verstand, sich mit ihr aber versöhnt. Die Mutter von Boris, die ihm die Polioimpfung verweigerte. Eine langjährige Kundin im Schwimmbecken, deren Badekappe Nene nach derem Tode als Andenken erbittet. Manches in diesem sehr klaren Roman ist rührend, anderes hart und kompromisslos. Immer überzeugt die Autorin mit dem, was sie richtig sagt und immer sind die Menschen glaubwürdig, wenn sie das sagen, was eigentlich auf der Hand liegt, aber keiner mehr wahrnimmt. Das tut gut, es endlich so deutlich zu lesen, mit so viel Wärme und Lebenswillen. „Wie kann man gleichzeitig pathetisch und herzlos sein? Geht das überhaupt?“ Heißt es an zwei Stellen. Nene und Boris werden ihrer Wege gehen, als sie sich im Schneetreiben trennen: „… wir haben sowieso nichts zu verlieren. Nicht, weil das nichts ist, sondern weil es alles ist, weil es die Welt bedeckt wie der Schnee. Boris nimmt seine Mütze ab und setzt sie mir mit einer Hand ungelenk auf den Kopf, und er sagt: ‚Wenn du mit wem anders rummachst, stecke ich die Stadt in Brand‘.  ‚Episch‘, sage ich.“


Harald Loch


Annika Büsing: Nordstadt   Roman
Steidl, Göttingen 2022   128 Seiten   20 Euro

Notizen nicht aus der Provinz

Ja, das Buch macht gute Laune und bereitet das oft zitierte Lesevergnügen, Humor und Sarkasmus blitzen auf, analytische Erkenntnisse mischen sich mit subtilen Beobachtungen über Menschen und das Leben an sich, über Vorgänge und Absurditäten. 


Vorbilder für sein Notizbuch gibt der Autor preis, etwa Sloterdijks Zeilen und Tage oder Botho Strauss‘ Der Fortführer, und so führt eben Michael Maar sein Zeilen-Mix auf Fliegenpapier fort, ohne innere Ordnung. Die Fixierung auf bestimmte Notizen bleiben dem Leser überlassen, er sucht sich aus, was ihm oder ihr gefällt. Auch der Rezensent darf also auswählen. 


Besonders gefällt mir, dass Autor Maar Bernhard Vogel dabei ertappt, wie er diplomatisch unkorrekt in hellem Anzug Valery Giscard d’Estaing - ein Parkett-Fauxpas - empfangen will.  Schnell eilt er heim, zieht sich um, wählt den Schwarzen, trifft dann endlich den französischen Präsidenten, der derweil auch sein Outfit gewechselt hat und nunmehr in Hell erscheint. 


Alltagsbeobachtungen, Erkenntnisse, Zitate, Literaturverweise, Weisheiten, Literarisches, Feuilletondebatten, die Ehelosigkeit von Adalbert Stifter oder Übersetzungsprobleme bei Marquez, das alles kommt vor, auch die Sadomaso-Gefühle des Herrn K., gemeint ist Kafka. 


Was für ein schöner Satz, der literarisches Bemühen zusammenfasst: „Man will durchs Verb ausdrücken, was einen sonst die Anstrengung des Arguments gekostet hätte.“ Ratsam ist: „In Büchern nie aus dem Gedächtnis zitieren.“ Alltagstauglich: „Und wohin schreibt man, dass man eine to-do-Liste machen sollte?“ Aus eigener negativer Erfahrung damit ist mir diese Erkenntnis besonders lieb: „Eine der einfachen Grundregeln des Lebens: Wechsle nie zu Vodafone.“ Ranicki würde dazu lispeln: Das ist große Literatur! Und so nah am Leben.


Bleiben wir bei Literatur, die sich seitenweise ergießt. Da empfindet der Autor die „Sehnsucht nach einem Punkt“, wenn literarische Gedankenströme allzu breit und lang dahinströmen, ohne zum Ende zu kommen. 


Also, ein kurzweiliges Notizbuch, das auf den Einkaufszettel kommen sollte. 


Setzen wir also hier, um nicht der eben genannten Gefahr zu erliegen, einen   . (=Punkt)    


Michael Maar, geboren 1960, ist Germanist, Schriftsteller und Literaturkritiker. Bekannt wurde er durch seine Dissertation Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg (1995), für die er den Johann-Heinrich-Merck-Preis erhielt. 2002 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2008 in die Bayerische Akademie der Schönen Künste, 2010 bekam er den Heinrich-Mann-Preis verliehen, 2021 den Werner-Bergengruen-Preis. Seine jüngste Veröffentlichung ist der Bestseller „Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur“. Er hat zwei Kinder und lebt in Berlin. 

 

Michael Maar FLIEGENPAPIER Vermischte Notizen ROWOHLT

Tagebuch eines Selbstmörders

Ausnahmsweise geht es hier mit dem Schluss los, damit der Interessent nicht von der Lektüre des Buches abgeschreckt wird: Auf Seite 830, der letzten des Romans „Die Mauersegler“ des Spaniers Fernando Aramburu steht der erlösende Satz: „Águeda streckte mir eine Hand entgegen und sagte ernst und mit fester Stimme ‚gib mir das Gift‘!“ 


Der Philosophielehrer Toni beschließt am 1. August 2018, sich in genau einem Jahr das Leben zu nehmen. „Ein Jahr noch. Warum ein Jahr? Keine Ahnung. Aber das ist mein absolutes Limit.“ Diese obszöne Idee gliedert den grandiosen Roman in 365 Teile. An jedem seiner verbleibenden Tage schreibt Toni sein geplant postumes „Tagebuch eines Selbstmörders“ .

 

In den Aufzeichnungen geht es um die Vergangenheit, seit Tonis Kindheit. Es geht um die erzählte Gegenwart. Es geht um einen bei einem Anschlag verletzten und fußamputierten Freund, den er für sich insgeheim „Humpel“ nennt. Das Gymnasium, an dem Toni unterrichtet wird besichtigt. Seine ganze Familie spielt in wichtigen Nebenrollen mit, seine Frau Amalia, mit der er eine zänkische Ehe führt und die ihre Geliebte heiraten will, sobald sie von Toni geschieden ist. Der spanische Bürgerkrieg, die manchmal ätzende demokratische Gegenwart, das Leben in Madrid, das er mit seiner Hündin Pepa so durchstreift, dass die Leserin zu einem Stadtplan greifen möchte, Nachbarn, Kollegen, herausfordernde Schülerinnen und fein gefühlte Szenen unterschiedlicher Sexualität wechseln mit jedem geschriebenen Tag einander ab. Das ist geschickt, wohltuend, in vielen Fällen auch spannend, und lenkt von der angelegten Grundspannung ab, ob und wie der geplante und eher nebenbei immer wieder bekräftigte Vorsatz der Selbsttötung wohl verwirklicht wird. Bewegend sind die Augenblicke bei „Mama“ im Altersheim. Mit seinem jüngeren Bruder Raoul – wechselseitige Hassobjekte – richtet er es so ein, dass sie ihre Mutter nie gemeinsam besuchen. Eine junge Nichte, Tochter dieses Bruders, leidet an einem Hirntumor, der teuer in Essen bestrahlt werden soll. Toni wird einen namhaften Betrag zu den Kosten beisteuern. Da er ohnehin bald aus dem Leben scheiden wird, benötigt er seine Ersparnisse und sein Erbteil nach der inzwischen an Alzheimer verstorbenen Mutter ja nicht mehr.


Aramburu wurde 1959 in San Sebastian im Baskenland geboren und lebt seit über 30 Jahren in Hannover. Er ist ein großartiger Erzähler und Willi Zurbrüggen ist sein großartiger Übersetzer. Der Roman breitet – immer aus der Perspektive des Suizid-Kandidaten – die ganze Palette der condition humaine vor seinem Publikum aus. Nicht etwa nur das Negative, das Tonis Entscheidung verständlich machen könnte, auch wahre Highlights menschlichen Erlebens, witzige Begebenheiten und Anekdoten gehören dazu. Eine mehrstufige Ironie durchzieht den Roman. Der eher mittelmäßige Philosophielehrer denkt über größere Vertreter seines Faches nach, zitiert sie manchmal durchaus passend. Eine vor Jahrzehnten zugunsten seiner späteren Frau Amalia zurückgewiesene, wenig attraktive Freundin taucht zufällig wieder auf. Allen ihren drei bisherigen Hunden hatte sie den Namen „Toni“ gegeben. Der Philosophielehrer Toni weicht den Nachstellungen dieser Águeda immer wieder aus. Ein Komplott seines Freundes Humpel – inzwischen hat der sich selbst umgebracht – mit dieser Águeda führt dann zu der Szene, die Toni auf der letzten Seite des Romans beschreibt. Er legt ihr auf ihre Aufforderung das Tütchen mit Kaliumzyanid in die Hand. „Als sie daraufhin den Inhalt in einen Gully schüttete, sah ich, dass es die Hand mit der Narbe war. Sechs Tage sind seitdem vergangen, und heute Morgen habe ich mir ein Buch gekauft.“


Harald Loch 


Fernando Aramburu: Die Mauersegler   Roman
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
Rowohlt, Hamburg 2022   832 Seiten   28 Euro

Andreas Isenschmid: Der Elefant im Raum – Proust und das Jüdische  

O-Ton Goebbels in Paris um 1900! Die Recherche des Literaturkritikers Andreas Isenschmid zu „Proust und das Jüdische“ führt mitten in die Dreyfus-Affäre zum Ende des 19. Jahrhunderts. Der Autor erspart seinen Leserinnen nicht das volle Ausmaß des damals in Frankreich wütenden Antisemitismus. Der Wortlaut der aggressiven Ausbrüche erinnert an die Schmähungen und Drohungen von Goebbels. Die vulgäre Pariser Haltung gegen Juden gipfelte in einem tausenstimmigen Chor von Antisemiten, als der jüdische Offizier Dreyfus öffentlich degradiert wurde – widerwärtig und erschreckend! Isenschmid geht minutiös der Frage nach, wie viel Marcel Proust davon mitbekam, wie viel er in seinen zeitnahen Interventionen davon verarbeitet hat, wieviel in dessen Recherche „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eingeflossen ist. 
Marcel Proust hatte eine jüdische Mutter und einen katholischen Vater. Er war katholisch getauft, aber nicht gläubig. Isenschmid taucht tief in die erlebte Familiengeschichte Prousts ein, fördert dessen zahlreiche Zeitschriftenartikel aus der Zeit vor, während und nach der Dreyfus-Affäre zutage und setzt aus allem das ambivalente Verhältnis Prousts zum Jüdischen zusammen. Das besteht teils aus abwertenden, teils aus bewundernden Passagen im Werk Prousts, die der Autor stellengenau zitiert und einordnet. Auch dazu ist Literaturkritik auf höchstem Niveau fähig, wenn sie sich auf die verfügbaren Quellen stützt. So entsteht nicht nur das schlüssige Resümee von einem Roman, in dem zwei der Hauptpersonen, Swann und Bloch, Juden sind und Marcel eben Marcel ist: „Das ist Prousts „Recherche“, dieser wohlgeformte Strom verzauberter und verzaubernder Einzelheiten, die sich aller begrifflichen Fixierung entziehen. Die Geschichte der Homosexuellen, welche die „Recherche“ erzählt, ist unendlich nuancierter und übrigens auch freudvoller als die Formel der race maudite. Und so ist auch die Geschichte der Juden in der „Recherche“ trotz einiger Holzschnitzereien ein Strom hochnuancierter ambivalenter Einzelheiten.“ 
Bevor Isenschmid mit einer Trouvaille seine glänzend geschriebene und spannend zu lesende Untersuchung schließt, fasst er noch einmal zusammen: „Denn wenn Prousts „Recherche“ auch aus schönsten, alle Abstraktionen unterlaufenden Einzelheiten besteht, so ist doch offenkundig, dass im Kreislauf dieser Einzelheiten, wie geheimnisumhüllt auch immer, doch stets ein jüdisches Herz mitschlägt. Man darf dieses Jüdische nicht zu deutlich benennen, doch vergessen wird es nie. Auch nicht in Prousts letzten Stunden.“ Hierfür entdeckt Isenschmid für sein deutschsprachiges Publikum einen letzten Zettel aus dem Sterbezimmer Prousts auf dem steht: „Alle haben vergessen, dass ich jüdisch bin. Ich nicht.“


Harald Loch


Andreas Isenschmid:
Der Elefant im Raum – Proust und das Jüdische
Hanser, München 2022   240 Seiten   26 Euro

 

Wie Ulysses auf die Welt kam

Wieviel Gewinn brachte die lost Generation der Weltliteratur! In Paris zwischen den Weltkriegen wurde dieser Gewinn verbucht, und noch ein Hauptgewinn zusätzlich. Eine Buchhandlung war daran maßgeblich beteiligt: „Shakespeare and Company“, gegründet und erfolgreich betrieben von Sylvia Beach. Von ihr handelt Kerri Mahers Roman „Die Buchhändlerin von Paris“.

 

Im Zentrum stehen James Joyce und dessen „Ulysses“, den Sylvia Beach vor 100 Jahren auf eigene Kappe zuerst veröffentlichte. Vorabdrucke waren in einer amerikanischen Zeitschrift von der dortigen Zensur verboten worden, und englische Verlage hatten sich nicht an diesen Meilenstein der modernen Literatur herangewagt. Die Amerikanerin Sylvia Beach war in Paris verliebt. Nicht nur in die Stadt, sondern auch sehr bald in ihr Vorbild, die Buchhändlerin und Herausgeberin literarischer Zeitschriften Adrienne Monnier. Diese Liebe zwischen zwei Frauen, literarisch gegründet, ist die einfühlsam gezeichnete zweite Linie dieses Romans, der großzügig und intim von der Invasion amerikanischer Autoren in Paris erzählt, die vor dem Muff und dem Alkoholverbot während der Prohibition in den USA erzählt. Shakespeare and Company war Ziel und Mittelpunkt dieser Invasion.

 

Das, was in Kerri Mahers Roman scheinbar wie Namedropping wirkt, ist in Wirklichkeit sein nicht-fiktionaler Gehalt. Alle diese schon bekannten und erst noch berühmt werdenden Autoren – fast ausnahmslos waren es tatsächlich Männer – machten das Einmalige der Buchhandlung aus. Hier konnten sie amerikanische und englische Literatur im Original bekommen, hier trafen sie sich. Sylvia Beach hatte die verbotene amerikanische Zeitschrift mit den Auszügen aus „Ulysses“ nach Paris schmuggeln lassen, bot sie dort ihren amerikanischen Kunden an und hatte selbst die außerordentliche literarische Bedeutung dieses entstehenden Werkes erkannt. Als sich abzeichnete, dass es keinen Verleger finden würde, sprang sie schnell entschlossen in die beschämende Lücke und organisierte mit Hilfe von Adrienne Monnier und vielen Freunden die finanziell und auch wegen der von Joyce während des Druckvorgangs immer wieder vorgenommenen Textänderungen technisch herausfordernde Erstveröffentlichung des Jahrhundertromans. 
Kerri Maher schmückt geschickt die nachgewiesenen Tatsachen mit vielen fiktionalen Dialogen und Szenen, die sie literarisch für wahr erfindet. Die erhellen plausibel und oft von wärmenden Tönen getragen die Atmosphäre dieser Pariser Ausnahme-Society der 1920er und folgenden Jahre. Kaum eine andere Buchhandlung auf der Welt dürfte an die Bedeutung von Shakespeare and Company heranreichen, aber sehr viele Buchhandlungen sind an ihrem Ort und zu ihrer Zeit derartige Zentren der Literatur. Es ist ja nicht so, dass dort lediglich Bücher verkauft werden. Vielmehr entwickelt sich in vielen ein literarisches Leben, das nicht nur von den Autoren, sondern auch von dem Publikum inspiriert wird. Es sind kulturelle Kostbarkeiten, in den es keiner zu Reichtum bringt, die ihrerseits aber einen literarischen Reichtum schaffen.

 

„Die Buchhändlerin von Paris“ ist auch das Hohelied auf solche Stätten der Literaturvermittlung, ohne die Einzigartigkeit von Shakespeare and Company zu schmälern. Immerhin gehören dazu begeisterte Menschen, die etwas von Literatur verstehen, der sie ihr Leben widmen. Dazu gehören Menschen, die großzügig ihre Existenz, oft auch ihr Vermögen dafür einsetzen, dass Leserinnen und Leser die Freuden der Literatur erleben können. Von zwei von diesen ist in Kerri Mahers Roman die Rede. Schön, dass sie sich lieben, schön dass die Autorin von dieser Liebe so einfühlsam wie diskret erzählt.

 

Um sie herum schwirren Männer wie Ezra Pound und Ernest Hemingway, André Gide und Paul Valérie, T.S. Eliot, später auch die Fitzgeralds, Henry Miller oder die vor den Nazis aus Deutschland geflohenen Walter Benjamin und Gisèle Freund, die dann im Leben von Adrienne Monnier eine wichtige Rolle spielen würde - Prominenz mit all ihren Macken und Vorzügen. Mit James Joyce hatte Sylvia Beach noch ihre liebe Not, die aber keinen Zweifel an der Qualität von Ulysses zuließ. Welch eine Einladung diesen großen Roman endlich oder wieder zu lesen!


Harald Loch

 

Kerri Maher: „Die Buchhändlerin von Paris“ Roman Aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Feldmann Insel, Berlin 2022 

 

Kerri Maher studierte an der Columbia University und gründete die preisgekrönte Literaturzeitschrift YARN. Sie war viele Jahre Professorin für Creative Writing. Heute lebt sie mit Tochter und Hund in einem grünen Vorort westlich von Boston und widmet sich ganz der Schriftstellerei.

 

Der Verlust von Heimat, Sprache, Identität

Wir wissen einfach zu wenig über das große weite Land Kanada und seine Vergangenheit. „Kukum“ ist ein nur 211 Seiten langer Roman, der jedoch einige umfassende Anmerkungen im Fließtext braucht, um den Leser in die geographische Region und in die Vergangenheit der indigenen Bevölkerung einzuführen. Das ist fürs Lesen etwas bremsend, aber fürs Wissen und Verstehen schließlich unabdingbar. 


Es geht also um die INNU, die autochthone, eingeborene, einheimische Bevölkerung in der Wildnis Kanadas. Wir lernen dieses Volk, seine Ur-Sprache und seine wilde ursprüngliche Heimat kennen durch die Lebensgeschichte der Almanda Siméon. Sie ist die Urgroßmutter des Autors Michel Jean, der uns in kurzen, prägnanten Sätzen mit seinen Vorfahren nach Kanada entführt.


Almanda Simeon heiratet früh und zieht beherzt in die Wildnis zu den Nomaden, die an den wilden Flüssen fischen und jagen und die vagabundieren, ortsfest nur kurzzeitig leben, weit wandern, dorthin, wo die ertragreichen Fisch- und Jagdgründe das Überleben vor allem im harten Winter garantieren. 


Zur Geografie: Die Handlung spielt in Mashteuiatsh, früher auch Pointe-Bleue genannt. Es handelt sich dabei um die kanadische Provinz Québec, am Westufer des riesig großen Lac Saint-Jean gelegen. 
Almanda lächelte viel, war erlebnishungrig, lernbegierig, neugierig und liebte Kinder, Enkel und Urenkel, vor allem aber ihren Mann Thomas. So zeichnet Jean seine Urgroßmutter.


Sein Roman ist ihr Lebensroman, ist zugleich die Ur-Geschichte Kanadas, ihre Lebensgeschichte. Aber sie ist auch eine Erzählung von Gegensätzen, von der Vergangenheit der Innu, der Welt von Gestern und der sie bedrohenden Zukunft, die intensive Waldabholzung und brutale Energiegewinnung durch Wasserkraft bedeutet. 


Das Buch zeigt schonungslos, ohne anklagend zu werden, den Gegensatz von gelebter Tradition, etwa des Jagens und Fischens in wilder Naturlandschaft, und dem gegensätzlichen Fortschritt, der angelegten Eisenbahngeleise, die Dörfer brutal trennen, des Autoverkehrs, der reihenweise Kinder tötet, und der Entwurzelung der Innu-Kinder, die in Internaten zwanghaft - den Eltern entzogen - um-erzogen werden. 
Natur und Technik stehen sich feindlich, unversöhnlich gegenüber, die althergebrachten Ansprüche des Individuums und seiner Selbstverwirklichung (Fischen und Jagen ohne gesetzliche Grundlagen, da leben, wo man eben gerade hinkommt) und den konträren gesellschaftlichen Anforderungen (fremde Sprache lernen, Kinder und Schulzwang, Internatserziehung). Konkret bedeutet das dann zum Beispiel, Papierfabriken haben „den Wald geschluckt“ und Staudämme die „ungestümen Wasserfälle“.


Der Gegensatz passiv - aktiv zeigt an, wie Männer dem Alkohol verfallen, weil sie keinen Arbeitsplatz mehr finden, antriebslos werden, und dagegen aktive Frauen, die den Ministerpräsidenten anspornen, um an Bürgersteige im Dorf zu kommen. 


Der lesenswerte Roman ist ein ständiges Erinnern und Vergessen der verlorenen Sesshaftigkeit und der Vertreibung eines einheimischen Volkes aus dem Paradies durch die zivilisatorische Entwicklung.
Wir erleben den Gegensatz von Wald und Welt mit. Und im Hintergrund steht die alte-immer-neue Frage nach der Identität, eben die eigentliche, wo man herkommt, und auch, wo man hingeht. Im Roman buchstäblich, in Wirklichkeit ein Fortgehen aus dem Freisein. 


Die Umerziehungsmaßnahmen, der Verlust von eigener Sprache und die Aneignung des fremden Französischen kommen ebenso vor wie der sexuelle Missbrauch von Kindern in Klöstern, der allerdings nur am Rande erwähnt wird. Die schlimmsten Fälle von Missbrauch in Kinderheimen waren zum Zeitpunkt des Entstehen des Romans noch unbekannt. 


Almanda Siméon sieht ihre Heimat als eine „… Art Atlantis der Innu, (es) existiert dieser Ort nur noch in der Erinnerung der Alten wie ich und wird mit uns endgültig verschwinden. Bald. So wie es auch die Portagewege nicht mehr geben wird, die Generationen von Nomaden geduldig angelegt haben. All dieses Wissen wird aus den Gedächtnissen verschwinden, in denen es noch lebendig ist“. 


Die „Portagewege“ sind jene Pfade, die benutzt wurden, um die Boote an den Stellen am Ufer voranzutragen, wo die Gefährlichkeit der reißenden Flüsse eine Kanufahrt einfach nicht zuließen. So verschwinden die Wege, die ein Fortschreiten möglich machten.


Ein seltsamer Widerspruch, der im Wort Fort-schritt steckt. Für die Innu bedeutete das Vorangehen in der Fortschritts-Zeit ein Stehenbleiben, früher waren sie als Nomaden mobil unterwegs. Jetzt, zur Ansässigkeit gezwungen, an einem Ort zwanghaft verwurzelt. Das Ende von Freiheit. Eine berührende, packende, melancholische Erzählung über Herkunft und Zukunft. Und über Verlustängste.


„Aber unser Territorium jenseits des Sees existiert nur noch in unseren Herzen. Eines Tages werden wir es wiederfinden.“

 
Michel Jean KUKUM Wieser Verlag Klagenfurt