Geht es um die Rettung eines Obdachs für ein Obdachlosenheim oder um die Aufklärung von drei Morden? Oder steht die erfolgreiche, von tragischen Verlusten überschattete Frauenpower auf dem Programm
des neuen Krimis von Petros Markaris oder doch eher der Respekt vor der griechischen Antike? Der inzwischen hierzulande wohlbekannte Kostas Charitos ist inzwischen vom geschätzten Hauptkommissar bei
der Mordkommission der Polizeidirektion Attika zu deren Leitendem Kriminaldirektor befördert worden. Auf seinen bisherigen Posten folgt – gegen seine anfängliche Skepsis – eine Frau: Antigoni
Ferleki.
Die Fans von Petros Markaris werden sich wohl an dieses neue, gewinnende Gesicht gewöhnen müssen, auch wenn sie manchmal ausrastet. Gleich nach ihrem Amtsantritt bekommt sie es mit drei rasch aufeinanderfolgenden Femiziden zu tun. Alle haben mehr oder weniger direkt mit dem Protest von jungen Frauen gegen eine aus den USA angereiste Investorengruppe zu tun, die sich unter dem Vorwand, die Antike zu schützen und wiederzubeleben, deren Marktwert für ihre Profite unter den Nagel reißen will. Die Frauen, meist junge Akademikerinnen, haben sich zu einer Gruppe unter dem Namen „Die Karyatiden“ zusammengeschlossen. Diese Bezeichnung haben sie den Mädchenfiguren entnommen, die auf der Athener Akropolis wie Säulen das Dach eines Gebäudes tragen.
Die fantasievollen Aktionen der Frauengruppe haben die Investorengruppe aus Griechenland verscheucht. Im Internet beginnt ein shitstorm gegen die Karyatiden, weil man doch auf die Investitionen angewiesen sei. Zwei dieser Karyatiden werden von Fanatikern ermordet, eine Dritte im Streit über die Bewertung von deren Aktionen.
Für die neue Leiterin der Mordkommission Antigoni sind die drei Frauenmorde eine Herausforderung, die sie mit Unterstützung ihres Vorgesetzten Charitos glänzend besteht. Die einzelnen
Ermittlungsschritte werden dem harten Kern der Krimiliebhaber nicht genügend differenziert sein. Sie werden durch die menschliche Dimension des Romans reichlich entschädigt: Die „Neue“ wird schnell
in die ganze Familie des „Alten“ aufgenommen.
Jede Ermittlungsszene wird durch eine Mahlzeit mit griechischen Spezialitäten kulinarisch abgepuffert. Der gut dreijährige Enkel von Charitos wird zum heimlichen Protagonisten und zwar auch im Obdachlosenheim, das der Altkommunist Lambros Sissis leitet und das vom Verkauf und von Räumung bedroht ist. Alle kümmern sich um einen Ersatzstandort, der schließlich in der unmittelbaren Umgebung gefunden wird, aber noch von Anarchisten besetzt ist. Wie darankommen?
Die inzwischen auch dort integrierte Antigoni hat einen Plan und – wenn der scheitert – auch einen Plan B. In dem spielen die Karyatiden eine tragende Rolle. Ende gut. Alles gut, trotz der drei schnell aufgeklärten Morde. Markaris schreibt spannend und appetitanregend, politisch voller Engagement und mit rührenden Elementen – nicht für jeden, aber für viele eine wunderbare Lektüre zwischen Grauen und Engagement und einem Bekenntnis des mittlerweile siebenundachtzigjährigen Autors zu einem fantasievollen Feminismus.
Harald Loch
Petros Markaris: Aufstand der Frauen Ein Fall für Kostas Charitos
Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger
Diogenes, Zürich 2024 319 Seiten 25 Euro
In seinen Krimis steckt das, was die Franzosen „terroir“ nennen, eine landschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Hommage an eine Gegend, in diesem Fall des Périgord, die Heimat der Trüffel,
erstklassiger Weine, freundlicher Menschen. Eine irgendwie heile Welt, in der sich Bruno als Chef de Police um alles kümmert, manchmal auch um die Aufklärung von Verbrechen. Das liest sich aus der
Feder seines Erfinders Martin Walker auch zum sechzehnten Mal gut. S Sein immer zahlreicher werdendes, ihm sogar nachreisendes Publikum begegnet demselben Hund Balzac, demselben Pferd Hector und
denselben Freunden und Freundinnen des Kleinstadtpolizisten Bruno. Der Autor ist 1947 in Schottland geboren, war lange Zeit politischer Korrespondent in New York für den „Guardian“ und pflanz in
dieses ländliche Paradies immer wieder die Probleme der politischen Welt – diesmal sind es die imperialistischen Interessen Chinas, die kriminellen Handlangerdienste Russlands und die Welten der
Geheimdienste sowie der neuesten Errungenschaften der Datenverarbeitung. Dieser Kontrast zwischen Folklore und großer Welt wird immer wieder fruchtbar aufgelöst durch kulinarische Höchstleistungen
Brunos, durch die in beiden Welten herrschenden menschlichen Stärken und Schwächen, durch Spannung auf Haupt- und Nebenwegen, von denen sich manche als Sackgassen erweisen, durch einen Showdown, bei
dem Bruno eine Schusswunde erleidet. Das ursprüngliche Verbrechen findet eine sensationelle Aufklärung, das folgende wird nach Kräften vereitelt.
Reizvoll gelingt Bruno mit klassischen Mitteln der Polizei die Aufklärung des Ausgangsfalls, der ihm von einem französischen Geheimdienstgeneral verlogen falsch dargestellt wird – ein Seitenhieb auf
die Fähigkeiten von Geheimdiensten. Reizvoll ist auch die kaum widerstehbare Annäherung einer Tochter des amerikanischen Opfers bei einer historischen Aufführung. Unfall oder Mordanschlag – das war
die Frage für groß angelegte Ermittlungen. Die Antwort ist ein echter Walker: Weder noch! Tatsächlich gab es den Versuch, die zu einem Geschäftsausflug aus aller Welt angereisten Web-Milliardäre zu
eliminieren. Wenn es nicht dazu kommt, spielen Zufälle eine Rolle sowie die Spürnase Brunos und das Engagement von zwei Kreisen. Der eine steht im Tal der Vézère, einem Nebenfluss der Dordogne. Der
andere Kreis besteht aus Geheimdienstleuten des Westens - eng vernetzt mit der Diplomatie. Im Hintergrund steht immer das Elysée, sprich der französische Staatpräsident. So geht es hin und her
zwischen dem Marktplatz von Saint Denis und der weiten Welt. Es stimmt schon: Das Weltgeschehen beeinflusst auch die Idylle im Périgord. Bruno versucht, dort den menschlich so gelungenen Zusammenhalt
zu bewahren. Aber unter der Hand schleicht sich die Wehmut ein, das alles könnte eines Tages verloren gehen. Voller Sehnsucht wartet also Walkers Publikum auf Brunos siebzehnten Fall
Harald Loch
Martin Walker: „Im Château“ Der sechzehnte Fall für Bruno, Chef de Police
Aus dem Englischen von Wolfgang Windgassen
Diogenes, Zürich 2024 379 Seiten
Hundert Mal unterbricht Raketenalarm die Ermittlungen. Es gilt, die spurlos verschwundene Jasmin Schechter, Tochter einer superreichen Familie aus Tel Aviv, zu finden. Ihr Mann – jetzt erst einmal
alleinerziehender Vater Dudi der dreieinhalbjährigen Lily – beauftragt Masi Morris mit der Suche nach seiner Frau. Masi ist Privatdetektivin in Tel Aviv. Zuvor war sie die Starermittlerin der
dortigen Polizei, wurde wegen ihres „unangemessenen“ Verhaltens aber gefeuert. Dudi und Masi kennen sich seit Kindheitstagen, seit sie die Geliebte seines Vaters war. Ja, die Detektivin ist
Nymphomanin und schiebt vor, während und nach ihren Ermittlungen oder Raketenalarmen befreienden Sex mit wechselnden Partnern ein. Einzelheiten bleiben der Leserin, dem Leser erspart. Dafür gibt es
jede Menge Ermittlungsarbeit, die in manche Sachgasse und auch wieder aus ihnen heraus führt. Unterstützt wird Masi nur von ihren beiden jüngeren Geschwistern Tilly, die kurz nach der Aufklärung des
Falles nach New York zu einer Schauspiellehrerin fliegt und Benji, der alles hackt, was in binären Codes gespeichert ist, ob verschlüsselt oder nicht. Die Ermittlungen führen tief in die Familie
Schechter, die jeden Kontakt zur Polizei vermeidet. Wer in einem Maybach chauffiert wird, wer sich durch vermeintlich uneigennützige Spenden für spektakuläre wohltätige Zwecke lukrative öffentliche
Aufträge im ganzen Land in den Vordergrund schiebt, bleibt in allen Familienangelegenheiten gern im Hintergrund. Aus gutem Grund, wie sich herausstellt.
Für Masi gilt es zunächst, mehr über die verschwundene Jasmin zu erfahren. Sie und ihre Geschwister müssen dazu ein großes Umfeld absuchen, durchleuchten und daraus ihre Schlüsse ziehen. Eine
wichtige Rolle spielt dabei Ari Schechter, der jüngere Bruder Jasmins, für die Sicherheit des Imperiums zuständig. Masi trifft und überrascht ihn am Schießstand mit ihrer eigenen Treffsicherheit: Mit
sechs Kugeln in dasselbe Loch auf der Scheibe zu treffen, macht ihr keiner so schnell nach. Sie fährt ein mittelschweres Motorrad und hat immer eine Pistole bei sich, benutzt sie in diesem Roman aber
nur als Accessoire der Drohung. Masi sucht nach einem Leck in der Mauer um die Familie Schechter. Ist Jasmins Bruder Ari oder auch die dritte Ehefrau des Patriarchen eins, durch das die Ermittlungen
weitergehen können? Dabei macht Masi dramatische Bekanntschaft mit einem weiteren Geschäftsfeld der Schechters: Ein Edelbordell für die politische und finanzielle High Society des Landes. In dem
Showdown im tiefen Untergrund unter Jerusalem kommt es zu einem Showdown, bei dem Masi clever und gewandt die Oberhand behält. Als Ari bei einem vermeintlichen Verkehrsunfall zu Tode kommt,
beschleunigt sich das Drama um die Familie Schechter unter Mithilfe von Journalisten, die den gewitterten Skandal öffentlich machen und auf Erstaunliches in der Geschichte dieser „unantastbaren“
Familie weisen. Rasant ist der ganze Roman, der von einem Schauplatz zum nächsten führt, manchmal auch in Luftschutzkellern. Er spielt im heißesten Sommer seit Jahrzehnten. Schweiß fließt reichlich,
ebenso Whiskey und anderes Hochprozentiges. Schließlich richtet sich der immer klarer sehenden Blicke Masis auf das Sexualverhalten des Familienoberhaupts. Aber das ist anders, als es zunächst
scheint. Sie spürt Jasmin schließlich auf, die ihre weitere Familienplanung abseits der Schechters im Auge hat und mit ihrem Mann Dudi und ihrer Tochter Lily bald ein Leben zu viert führen wird. Der
Roman fesselt durch die ungeheure Beschleunigung und den munteren Szenenwechsel. Er ist streckenweise vulgär, ohne in eine solche Sprache zu verfallen. Die Dialoge sind gekonnt und oft witzig – ganz
mitreißende Unterhaltung und Spannungsliteratur, wie man sie sonst nicht kennt, die den Alltag in Israel unter täglich mehrmaligem Alarm realistisch abbildet.
Harald Loch
Daria Shualy: Lockvogel Kriminalroman
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Kein & Aber, Zürich und Berlin 2024 431 Seiten 24 Euro
1919, nach der Russischen Revolution, herrscht in der Ukraine Bürgerkrieg: Die Bolschewiken haben die Stadt Kiew zwar erobert, aber noch nicht vollends unter Kontrolle. Die einfachen Leute leben in ständiger Ungewissheit, echte und falsche Rotarmisten und mafiöse Banden treiben ihr Unwesen. Nachdem der junge Samson seine ganze Familie verloren hat, gerät er durch eine Verkettung von Zufällen in den Polizeidienst der neuen Staatsmacht. Seine Ermittlungen in einem rätselhaften Mordfall führen zu unvorhersehbaren Konsequenzen. Und dazu, dass er sich verliebt – in die glühende Bolschewikin Nadjeschda. (DIOGENES)
Auf dem Cover des Buches in der Unterzeile steht der Gattungsbegriff Kriminalroman, und der führt den Leser als ebenso zuständiger „Ermittler“ gleich von Anfang an in die Indizien-Falle. Denn ureigentlich ist es ein historischer Roman, den Andrej Kurkow da bei Diogenes vorlegt. Ja, es geht auch um Verbrechen, doch die Folie, vor der die Handlung spielt, sind die nachrevolutionären Verhältnisse in der Ukraine, speziell in Kiew.
So bleibt es also nicht aus, dass die aktuellen Ereignisse beim Lesen immer mitgedacht werden. In Kiew tobt der Bürgerkrieg, wer wird die Macht erringen, die Bolschewisten, als Rotarmisten unterwegs, die Konservativen, die Sozialisten, die Nationalisten, die „rote“ Armee, die „weiße“ Armee? Gewalt auf den Straßen, Plünderungen, Konfiszierungen, Angst beherrschen die Menschen im Alltag, und Gewalt ist allerorten. Ob Brennholz oder Elektrizität, Brot und Salz, Zucker und Getreide, alles ist knapp.
Kosakenreiter säbeln nach der Tötung des Vaters der Hauptperson Samson das Ohr ab, und skurril, wie es bei Kurkow immer zugeht, hört der künftige Volkskommissar „mit ohne“ Ohr besser als je zuvor, abhörtalentiert. Das schreiberische Talent von Samson befördert ihn zum Ermittler. Mehr sei von der kriminellen Handlung, die eher schmal gehalten wird, hier nicht verraten.
Kurkow, der übrigens in russischer Sprache schreibt, mischt eine Liebesgeschichte mit historischem Roman und beides mit Krimigeschichten. Der Schreibstil Kurkows erinnert in seinem poetischen Ton an russische Klassiker, verlangt jedoch zuweilen vom Leser etwas Geduld, da das Buch ohne große dramatische Zuspitzungen auskommt.
Kurkows Absicht ist es, einer gewalttätigen nachrevolutionären Epoche seines Heimatlandes in Gestalt des historischen Kriminalromans ein Gesicht zu geben. Er soll wohl zur Reihe ausgebaut werden, schließlich heißt es im letzten Satz: „Fortsetzung folgt.“ Denkt man an die heutigen Zeiten in der Ukraine, muss man formulieren, die Fortsetzung von Gewalt muss ein Ende haben.
Andrej Kurkow Samson und Nadjeschda Kriminalroman DIOGENES
Andrej Kurkow, geboren 1961 in St. Petersburg, lebt seit seiner Kindheit in Kiew und schreibt in russischer Sprache. Er studierte Fremdsprachen, war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach schrieb er zahlreiche Drehbücher. Seit seinem Roman „Picknick auf dem Eis“ gilt er als einer der wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Autoren. Sein Werk erscheint in 42 Sprachen.
Auch das einunddreißigste Mal klappt es! Donna Leons neueste Version des Soft-Krimis funktioniert wieder so wie immer: Der Plot reißt einen nicht vom Hocker, die Spannung bleibt erträglich, Venedig kennt man inzwischen und manche Gerichte, die Brunettis Ehefrau der Familie vorsetzt, sind längst überall nachgekocht. Und trotzdem: Man liest auch den neuen Titel „Milde Gaben“ sehr gern, fühlt sich wohl, denkt vielleicht an den nächsten Grappa und weiß dann doch die Antwort auf die Frage, warum das alles so vielen Lesern gefällt.
Man wagt es kaum auszusprechen, dass ein Roman – ob Krimi oder nicht – nur mit den bewährten literarischen Zutaten eine sehr gute Lektüre sein kann: Mit Stil, hervorragend von Werner Schmitz übersetzt, mit einem klugen Aufbau selbst der doch recht bescheidenen Handlung, mit der Zeichnung des neuen Personals – diesmal ist ein Vizeadmiral dabei, eine Tierärztin, eine Greisin – und mit dem Wiedererkennen der bekannten Figuren, allen voran Brunetti.
Diesmal geht es um Spendenbetrug. Raffiniert hat ein kleines Konsortium eine gemeinnützige Stiftung gegründet, die ein Krankenhaus in Belize finanzieren soll. Der kleine mittelamerikanische Staat
hätte es bitter nötig, dass die von wohlmeinenden und zunehmend auch habgierigen Spendern in Italien eingesammelten Gelder dort auch ankommen. Kommen sie aber nicht, sondern fließen nach Abzug von
einigen Handgeldern an die Spender zurück, die noch dazu eine Spendenquittung erhalten, um ihre italienische Einkommensteuer zu verringern. Das ganze Rad, das gedreht wird, ist nicht etwa groß. Die
Betrüger leisten sich von dem Reibach ein paar Luxus-Klamotten. Eigentlich spielen sie in der Liga der Eierdiebe.
Brunetti kommt an diesen Fall, weil er einer alten Bekannten aus unglücklichen Kindertagen einen Gefallen erweisen will. Er setzt die Ressourcen der Polizei ein, um am Ende die ganze Angelegenheit
der Guardia di Finanza, also der Steuerfahndung zu überlassen. Als ob die nichts anderes zu tun hätte! Eine solche Belanglosigkeit in einen Roman zu verwandeln ist schon eine Kunst, die beherrscht
sein will, die gelesen wird und die beste Unterhaltung bietet, Was will man mehr?
Harald loch
Donna Leon: „Milde Gaben“ Commissario0 Brunettis einunddreißigster Fall
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
Diogenes, Zürich 2022 344 Seiten 25 Euro
Krimis bedienen sich aus der ganzen Welt der Fiktion. Manchmal knüpfen sie an Vorgänge der realen Welt an, sind von cold cases inspiriert, also von unaufgeklärten alten Fällen, oder von gesellschaftlichen Missständen, Naturkatastrophen oder auch von der großen Politik. Erfolgreich sind sie, wenn sie gut unterhalten, Spannung aufbauen, Verworrenes auflösen, vor allem, wenn sie gut geschrieben sind. Wenn der im französischen Périgord lebende Schotte Martin Walker jetzt den vierzehnten Fall für Bruno, den Chef de Police der Kleinstadt Saint-Denis vorlegt, dann scheint sich sein persönliches Rezept bewährt zu haben. Über einen seinen früheren „Fälle“ hat ein Kritiker mal geschrieben: „Was für ein schönes Kochbuch!“
Auch in „Tête-à-Tête“ gehören die kulinarischen Rezepte aus Brunos Küche zum Erfolgsrezept des Buches. Alle übrigen Zutaten wie gehabt:
Ein seit dreißig Jahren unaufgeklärter Mordfall wird spektakulär gelöst. Der Täter bleibt für dieses Verbrechen aber straffrei. Das hängt mit der „Großen Politik“ zusammen, von der der Autor als
Washingtoner Mitarbeiter des britischen Guardian viel versteht. Täter wie Opfer des Mordfalls hätten in den sogenannten „Rosenholz-Dateien“ gefunden werden können, den inzwischen von der
amerikanischen CIA aufgekauften Mikrofilm-Verzeichnissen der Stasi. Zwischen den US-amerikanischen und den französischen Geheimdiensten besteht aber seit De Gaulle ein tiefes Misstrauen, so dass
Frankreich keinen Zugríff auf diese Dateien hat. Ein hochpolitischer Hintergrund also, der auch zu dem Mordmotiv beiträgt – Wirklichkeit mit einem Schuss Fiktion. Die Aufklärung des Falles gelingt
unter Einsatz modernster Methoden wie auch in der Archäologie erprobter handwerklicher Kunst – fabelhaft.
Der Roman spielt in einem der zuletzt immer heißer werdenden Sommer, die auch im Périgord die Waldbrandgefahr erhöhte. Bruno ist als Chef de Police ja überall zugange, auch bei der Bekämpfung eines
großen Brandes, der alle Kräfte der Gegend mobilisierte. Brunos fernsehtauglicher Beitrag dazu war der Einsatz von mittelalterlichen Steinschleudern als „Wasserwerfer“. Hier dreht die Phantasie des
Autors, angefeuert von der eigenen Begeisterung total durch. Seine spannende Beschreibung der nächtlichen Waldbrandbekämpfung, mit dem notwendigen Schuss Selbstironie bekömmlich gewürzt, lässt diese
Begeisterung auf die Leserinnen und Leser überspringen.
Zum Walker-Erfolg tragen die vertrauten Personen – der Bürgermeister, ehemalige Freundinnen, der Baron und Kolleginnen und Kollegen, Journalisten – sowie sein Hund Balzac und sein Wallach Hector
entscheidend bei. Die ausgefallenen, dem „terroir“ verpflichteten Gerichte bereitet Bruno z.T. mit Zutaten aus seinem Garten, jedenfalls immer mit naturnahen Produkten aus dem Périgord zu. Von den
Weinen ganz zu schweigen! Das ganze Buch schmeckt nach „la douce France“.
Harald Loch
Martin Walker: Tête-à-Tête Der vierzehnte Fall für Bruno, Chef de Police
Aus dem Englischen von Michael Windgassen
Diogenes, Zürich 2022
Bei der Festnahme eines Drogendealers erleidet die Kommissarin Noémie Chastain eine schwere Schussverletzung: Fortan ist eine Hälfte ihres Gesichts entstellt. Weil man ihr nicht mehr zutraut, ein Team zu führen, wird sie gegen ihren Willen aus Paris in die Provinz verbannt: Nach beschaulichen Wochen taucht auf dem See eine Tonne mit einem längst verwesten Leichnam auf, wodurch Noémie auf die Vorgeschichte Avalones stößt: Vor 25 Jahren wurde das Dorf evakuiert, überflutet, die Bewohner mussten dem neu geschaffenen Stausee weichen und wenige Kilometer entfernt im neuen Avalone leben. Doch drei Kinder kamen damals nicht mit. (BLESSING)
Man kennt die Szene vom Vorbeifahren: Der Reschensee im westlichen Südtirol zeigt noch die Kirchspitze vom versunkenen Dorf, das seit mehr als 70 Jahren verlassen und wegen des neuen Stausees
geflutet wurde. Gaun heißt die Gemeinde, und ihr Schicksal wurde im Roman von Marco Balzano im Verlag Diogenes thematisiert. In Olivier Noreks Roman ist es auch ein versunkenes Dorf, mit Namen
AVALONE, allerdings in Südfrankreich gelegen. Im See werden drei zehnjährige Kinder vermutet, die seit Jahren verschwunden und mutmaßlich entführt worden sind.
Norek, der selbst im Polizeidienst war und drei Jahre für Pharmaciens sans frontières gearbeitet hat, quittierte den Dienst nach einer erfolgreichen Fernsehserie und wurde Autor, durch den Roman über
das Flüchtlingslager Calais international bekannt. Seine Realitätsnähe im Schreiben fasziniert den Leser. Schon im Prolog werden wir schockiert: „Überall war Blut. Viel zu viel Blut. Und dann das
Gesicht, Grundgütiger, dieses Gesicht! Es glich einem Schlachtfeld.“ Es geht um das Gesicht der Hauptfigur, der Kommissarin, die bei einem Einsatz gegen Drogenbanden mitten ins Gesicht
geschossen wird. Ihr Antlitz gerät zur Fratze, ihr Seelenleben bis ins Mark erschüttert, sie verliert ihren Freund und ihre Sicherheit. Ihre Chefs versetzen sie in ein kleines südfranzösisches Dorf,
in dem buchstäblich der Hund begraben ist, dorthin wo einfach nichts aber auch gar nichts passiert.
Ihr Auftrag lautet zu prüfen, ob die örtliche Polizeistation wegen der geringen Kriminalitätsdichte geschlossen werden kann? Langeweile breitet sich aus, doch dann stößt sie auf einen „Cold Case“ -
sie vergisst ihre hektische Ermittlungszeit in der Hauptstadt Paris und taucht ein in das entschleunigte Leben einer Dorfpolizistin und widmet sich dem neuen Fall.
Nach und nach gewinnt Noémie Chastain mit Hilfe eines betreuenden Psychologen wieder mehr Selbstbewusstsein, sie muss ja trotz ihrer Entstellung im Gesicht in ein irgendwie halbwegs normales Leben
zurückfinden. Welches Verbrechen unter welchen Umständen geschah und aufgeklärt werden muss, das verraten wir an dieser Stelle nicht.
Dem Autor gelingt die Verbindung von raffinierter Dramaturgie, überzeugenden Figuren im Polizeialltag mit der psychologischen Ausnahmesituation einer Frau, die ihrer Schönheit beraubt
wurde.
Hintergründig, in die Tiefe gehend oder „profond“ wie der Franzose sagt. Und „passionant“: aufregend, spannend!
Olivier Norek Das versunkene Dorf Blessing
Olivier Norek, geboren 1975 in Toulouse, war Police Lieutenant in Seine-Saint-Denis. Seine Erfahrungen im Polizeidienst verarbeitete er 2013 bis 2016 in der
Capitaine-Coste-Trilogie, die ihn zu einem Star der französischen Krimiszene machten.
Sie kennen sich seit der Kindheit und beginnen gerade, ihre eigenen Wege zu gehen, als plötzlich einer von ihnen als Mörder festgenommen wird. Er soll seinen Onkel aus Habgier erschlagen haben. In einem schier endlosen Indizienprozess wird das Unterste zuoberst gekehrt. Die Freunde kämpfen für den Angeklagten, denn er kann, er darf kein Mörder sein. Doch als 15 Jahre nach dem Urteil eine Journalistin sich der Sache noch mal annimmt, stellt sich die Frage der Loyalität wieder neu. Ein guter Freund wird also des Mordes angeklagt. Was passiert mit einem selbst, was passiert mit der Clique, die von Kindheit an eine verschworene Gemeinschaft war – und wie weit trägt die Loyalität? Inspiriert von einem Gerichtsfall, der in den Nullerjahren in Deutschland für großes Aufsehen sorgte, geht Christoph Poschenrieder diesen Fragen nach. Dabei steht nicht so sehr das Thema der Schuld im Vordergrund als vielmehr der Umgang aller Beteiligten mit einer fundamentalen Verunsicherung. Wenn du dem Freund nicht mehr traust, kannst du dir selbst noch trauen? (DIOGENES)
„Kann man Freund eines Mörders bleiben oder darf einer einfach kein Mörder sein, damit wir Freunde bleiben können?", das ist die Kernfrage des Buches. Ist der Täter wirklich der Täter? Kann seine
Schuld vor Gericht bewiesen werden? Wie stehen seine Freunde zu ihm? Ist es wirklich möglich, dass der Freund der Clique seinen Onkel aus reiner Habgier getötet hat?
Sabine, Sebastian, Emilia, Till, Benjamin sehen einen Freund als Mörder vor Gericht oder eben von ihnen als Unschuldigen eingeschätzt. Sie müssen sich also entscheiden. Welche Haltung sollen sie
gegenüber ihrem Freund und dem Geschehen beziehungsweise gegenüber dem Prozess einnehmen? Geht es in Wahrheit um einen Mord wegen eines Erbfalles? Der erbberechtigte Neffe könnte seinen Onkel getötet
haben, weil dieser ihm wegen des Abbruchs eines Jurastudiums die Erbschaft verweigert.
Der Münchener Tiefgaragenmord im Jahr 2006 stand Pate für das Buch. Schwerwiegende Indizien belasten den Verdächtigen, aber der Freundeskreis entscheidet sich zunächst, den Freund für unschuldig zu
halten. Nach und nach geraten die Fakten jedoch ins Wanken, von Kapitel zu Kapitel zieht uns der Autor geradezu sogartig in diese Geschichte rein. Das Alibi scheint fraglich, Geldscheine tauchen auf,
auf denen Blut des Opfers zu finden ist. Reichen die Indizien zur Verurteilung aus?
Clever streut der Autor Memos der berichtenden Journalistin in den Text ein, die dem Buch, das aus Einzelszenen der berichtenden Personen besteht, weitere Struktur geben. Stellenweise zitiert
Poschenrieder auch aus der „Einführung in die Kriminalistik für die Strafrechtspraxis“, um beim Leser Rechtsverständnis zu wecken.
Kapitel für Kapitel schildert Poschenrieder den Fall jeweils aus der Perspektive einzelner Personen des Freundeskreises drehbuchartig wirkend, und so geht es in dem Buch nicht nur um den bloßen Fall,
sondern um vielfältige Freundschaftsbeziehungen und Lüge, um Vertrauen und gegenseitigen Zusammenhalt, um Sicherheiten und Zweifel in ihren Verhältnissen zueinander.
Im Nachwort schreibt der Autor: „Was ist Freundschaft, was hält sie aus?“. Das Buch erinnert mich an einen Film von André Cayatte aus den 1960er Jahren, es ist ein Justizfilm, der den Rechtsgrundsatz
"Im Zweifel für den Angeklagten" thematisiert. Bis zuletzt weiß der Zuschauer nicht, ist der Angeklagte nun schuldig oder ist er es nicht? Lassen wir auch bei diesem Buch die Frage um der Spannung
willen offen.
Ein Kammerspiel vor juristischer Kammer, klug konstruiert, spannend geschrieben, mit juristischem Verständnis grundiert, die psychologischen Dimensionen fein ausgelotet. „Ein Leben lang“, wie der
Titel heißt oder lebenslang, wie das Urteil lauten könnte, das ist hier die Frage.
Christoph Poschenrieder Ein Leben lang DIOGENES
Christoph Poschenrieder, geboren 1964 bei Boston, studierte Philosophie in München und Journalismus in New York. Seit 1993 arbeitet er als freier Journalist und Autor von Dokumentarfilmen. Heute konzentriert er sich auf das literarische Schreiben. Sein Debüt ›Die Welt ist im Kopf‹ wurde vom Feuilleton gefeiert und war auch international erfolgreich. Mit ›Das Sandkorn‹ war er 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Christoph Poschenrieder lebt in München.
Was gehört zu einem Thriller? Tote, die nicht eines natürlichen Todes sterben – hier ein fremdverschuldeter Selbstmord, ein „Kollateralschaden“ und etliche rassistische oder ideologisch begründete
Morde. Gewalt gegen Menschen, hier vor allem gegen die Seele. Ein oder mehrere Showdowns – hier meist in verbalen, oft auch in körperlichen Auseinandersetzungen.
Internationales Flair – hier vor allem Spanien, ein bisschen Düsseldorf und indirekt etwas Silicon-Valley. Vielleicht noch etwas Abstammungszweifel – in ihnen liegt nicht der Schwerpunkt, aber der
Ausgangspunkt der Geschichte. Alle diese Zutaten stehen dem 1958 in der Eifel geborenen Wolfgang Kaes zur Verfügung und machten sein neues Buch „Das Lemming-Projekt“ zu einem der üblichen Thriller,
wenn er nicht…
Wolfgang Kaes schreibt investigative Spannungsliteratur, die so dicht an der Realität „spielt“, dass er schon einmal einen längst in der Polizeiablage gelangten Fall aufgeklärt hat. Und er schreibt
gesellschaftskritisch.
Diesmal geht es um zwei beklagenswerte Fehlentwicklungen. Die ein betrifft Spanien. Das Land hat die Verbrechen der Franco-Diktatur nie gesühnt, hat die faschistischen Strukturen vor allem in Militär und Polizei nie zerschlagen und hat die unselige Macht der katholischen Kirche nicht gebrochen. Hier geht es um eine Zölibats-Übertretung mit Folgen, um ein Kinderheim für angeblich Schwererziehbare und dort um körperliche, seelische und sexuelle Gewalt. Die andere, globale Fehlentwicklung sieht der Autor in seinem Roman in den Möglichkeiten, die das Internet der Manipulation von Menschen, deren Haltungen und auch von politischen Entscheidungen unkontrolliert eröffnet. Da, wo noch Menschen und noch nicht Algorithmen der „Künstlichen Intelligenz“ die Inhalte im Netz filtern, werden diese Menschen bis aufs Blut ausgebeutet. Die meisten von ihnen in Manila auf den Philippinen, wo sie besonders billig sind. Etwa 500 auch in Nerja, in der spanischen Küstenprovinz Malaga. Hier arbeitet Alejandro als Content Analyst, d.h. er muss in Sekundenbruchteilen, die ihm auf dem Bildschirm vorgespielten Fotos oder Videofilmchen aus dem Netz beurteilen, ob sie anstößig, unerlaubt oder strafbar sind und gelöscht werden müssen oder ob sie der Meinungsfreiheit unterliegen. Dafür erhält der studierte Kunsthistoriker einen Hungerlohn. Die „Reinigung“ des Netzes erfolgt durch eine Tochterfirma des Unternehmens, das viel von dem Dreck in die sogenannten sozialen Medien einspeist. An beiden Vorgängen wird enorm verdient. Kaes zeigt in seinem Krimi, wie das funktioniert und wer dahintersteht, wer die Milliarden abkassiert. Seine Kritik an diesem Zustand ist eine fundamentale Gesellschaftskritik, Er formuliert sie entsprechend scharf.
Dass der ganze Wildwuchs nur mit ausgefeilter Kontrolle und sehr manipulativ Geld in die Taschen Weniger spült ist klar. Kaes war lange Zeit Redakteur und Reporter beim Bonner Generalanzeiger. Er
weiß, wie schwer es die Printmedien gegenüber den nicht mit journalistischen Standards arbeitenden „sozialen“ Medien haben.
Als in Nerja eine junge Content Analystin dem Leistungsdruck nicht mehr standhält und wohl auch dem sexuellen Druck ihres über die Verlängerung ihres Sechsmonats-Vertrages entscheidenden Vorgesetzten
nichts mehr entgegensetzen kann, springt sie von einer Brücke in eine tiefe Schlucht. Ihr von ihren Lebensumständen erzwungener Freitod löst eine Lawine aus, in deren Verlauf zwei Mitglieder ihrer
Familie als politisch unerwünscht erschossen werden. Alejandro schaltet seine Schwester ein, die in einer Regionalredaktion der linksliberalen Zeitung El Pais arbeitet. Sie recherchiert den Fall
gründlich. Eine Deutsche, die in Nerja wohnt, macht bald mit. Ihr Bruder arbeitet in Düsseldorf für eine bundesdeutsche Behörde der Netzsicherheit. Auch er wirkt an der Aufklärung dieses und auch
eines Familiengeheimnisses von Alejandro mit. Die Auflösung ist spektakulär und führt an den Ort der Verbrechen an den „schwererziehbaren“ Kindern zurück.
Kaes erzählt das mit einer wirklich „investigativen“ Erforschung von Land und Leuten in dieser auch für Touristen attraktiven Gegend Südspaniens. Er hat ein gutes Gespür für das Leben in dem Dorf, in
dem Alejandro bei seiner Mutter lebt und das am Ende im letzten Showdown in einer machtvollen solidarischen Handlung den übermächtig scheinenden Herren des Netzes erfolgreich die Stirn bietet.
Harald Loch
Wolfgang Kaes: Das Lemming-Projekt Thriller
Rowohlt Polaris, Hamburg 2021 428 Seiten 16 Euro
Der Gourmet und Dorfpolizist Bruno, sprich BrÜno, scheint im 13. Roman FRANZÖSISCHES ROULETTE von Martin Walker ein Freund des Niedrigtemperaturkochens zu sein. Nicht zu heiß auf den Herd bringen, sich Zeit lassen, alles bei nicht hoher Temperatur vor sich hin köcheln lassen, bis der Krimiplot dann gar ist. Das dauert diesmal eine ziemlich lange Zeit, bis die Handlung in Fahrt kommt.
Der Millionenseller Martin Walker weiß allerdings sehr genau, wie er sein Krimimenü anrichtet. Eine Portion südfranzösische Landschaft, natürlich Wein, Frauen, Hunde, Pferde, Rugbymannschaften, schönes Wetter im Périgord, der eine oder andere Tipp für Sehenswürdigkeiten. Auch der Merlot liegt im Trend, er sollte wegen des Klimawandels nicht zu viel Alkoholgehalt einfangen.
Martin Walker hat als ehemaliger Journalist eine Trüffelnase für aktuelle Trends und mischt ökologisch angesagte Solarpaneelen mit gut schmeckenden „Oeufs Mimosa“ der einfachen französischen Küche, dazu „serviert“ der Musikfan Beethovens Chorfantasie für ambitionierte Freunde der klassischen Chormusik oder das Concierto de Aranjuez für Freaks der klassischen Gitarre. So ist eben für jeden etwas dabei, vielleicht aber auch zu viel des Guten.
Wie kann es in diesem kuscheligen Frankreich-Ambiente sein, dass in einer sauteuren Seniorenresidenz, in der es sogar einen literarischen Buchclub gibt, ein Mensch vermutlich eines nicht ganz natürlichen Todes stirbt?
Wir begegnen in standesgemäßem Chateau einem alternden Rockstar, der irgendwie an Rod Stewart erinnert, weil seine Stimme gealtert und von zahllosen Zigaretten und vom Whiskey angeraut und angegraut ist.
Wir machen mit Bruno auf dem Markt einen Dorfrundgang, bekommen an den Käse- und Fleisch-Ständen französische Esskunst serviert, mit einem kleinen Glas Rouge als Willkommenstrunk. Vive la France!
Es geht derweil in der Handlung um die Frage: Wer erbt was und wann und warum bzw. wer wird um sein Erbe betrogen? Derweil backt Bruno Hundekuchen und baut fachgerecht und schnellstens einen Hühnerstall. Plötzlich kommen russische Oligarchen ins Spiel, falsche Europässe, ins Bett gelockte Senioren, die blaue Pille, gekaufter Sex, Kokain, Herztod, die Ukraine, der Majdan, das Josephine-Baker-Museum, garniert mit Lammkeule an Walnuss und Granatapfel.
Für touristisch Interessierte Krimileser streifen wir sightseeingmäßig die Périgordstädte Périgueux, Sarlat, Limeuil, Milande, Monbazillac. Walker schafft es sogar, die syrischen Flüchtlinge auf Lesbos im Lager Moria und Angela Merkel mit in die Handlung einzubauen und dazu ein abgeschossenes Passagierflugzeug. Wie heißt es in der Kulinarik, hier angewandt auf den Krimi: Es wird nichts so heiß gelesen, wie es niedergegart gekocht wird.
Ein neuer Höhepunkt des von Thomas Wörtche bei Suhrkamp herausgegebenen Krimiprogramms sind „Die Toten vom Gare d’Austerlitz“ des Briten Chris Lloyd: Ein historischer Kriminalroman, ein politischer
allemal, ein literarischer, ein Paris-Krimi und ein sehr spannender. Die Gleise des Pariser Kopfbahnhofs „Gare d’Austerlitz“, benannt nach der für Napoleon siegreichen sogenannten Dreikaiserschlacht
von 1805 gegen Österreich und Russland, führen in den Südwesten Frankreichs. Hierher wird der Inspecteur Edouard Giral wegen vier in einem Güterwagen entdeckter Toten gerufen. Es ist der 14 Juni
1940. Der Tag, an dem die Wehrmacht in Paris einmarschiert. Frankreich hat noch nicht kapituliert, der Waffenstillstand ist noch nicht unterzeichnet. Es stellt sich schnell heraus, dass die vier
Toten mit Giftgas, wie es im Ersten Weltkrieg benutzt wurde, ermordet wurden. Der noch nicht ganz verflogene Geruch ruft in Giral schlimme Erinnerungen an den Krieg wach, den er in deutscher
Gefangenschaft überlebt hat. Auf einem Bahnsteig steht bereits eine Einheit der Wehrmacht unter Hauptmann Weber. Am selben Tag wird Giral zu einem schrecklichen Selbstmord gerufen: Ein polnischer
Flüchtling hat sich zusammen mit seinem kleinen Sohn aus dem Fenster gestürzt. Er stammte aus Bydgoszcz (Bromberg). Auch in einem Kleidungsstück eines der Toten vom Bahnhof war dieser Ortsname
eingedruckt.
Edouard, den alle bis auf den Major der Abwehr Hochstetter „Eddy“ nennen, ermittelt. Die Wehrmacht erlaubt der französischen Polizei, ihre Arbeit weiterhin zu machen, aber die Abwehr und auch die
Gestapo und die Geheime Feldpolizei wachen darüber. Sie haben jetzt das Kommando und führen die Ermittlungen so, dass sie ihnen nicht in die Quere kommen. Dazwischen tauchen geflüchtete polnische
Geheimdienstler auf, die für die Exilregierung in London arbeiten, amerikanische Journalisten, die über die deutsche Wehrmacht berichten, Kollaborateure und Pariser Klein- und Großkriminelle, die
Eddy aus früheren Zeiten kennt. Unter den deutschen Truppen und anderen Dienststellen befinden sich auch Widerständler, die zwar gegen Hitlers bevorstehendes Abenteuer im Osten, aber nicht gegen die
Nazi-Ideologie sind. Alles ist für Giral undurchschaubar. Vertrauen kann er keinem.
Immer wieder kommt es zu dramaturgisch gekonnt inszenierten Show-Downs zwischen ihm und denen, die seine Ermittlungen behindern oder anders lenken wollen. Er hat früher als Rausschmeißer in einem der
Pariser Clubs gearbeitet und ist in körperlich guter Verfassung, schwebt dauernd in Todesgefahr, überlebt aber alle Anschläge, ist täglich neu ramponiert. Seine Ermittlungen gehen in viele
Richtungen. Am Ende stellen sich alle Vermutungen als falsch heraus. Dazwischen liegen zahlreiche Tote, bei Kämpfen zwischen den sich geheim befehdenden Seiten bei den Deutschen und von ihnen
erschossene Franzosen. Eddy war einmal verheiratet, hatte aber seine Frau und seinen damals kleinen Sohn verlassen und seitdem keinen Kontakt mehr zu ihnen. Sein Weltkriegstrauma hatte ihn unfähig
zum Führen eine Ehe oder für eine Vaterrolle gemacht. Als nach mehr als zehn Jahren sein Sohn unerwartet bei ihm auftaucht – er war Soldat in der inzwischen geschlagenen französischen Armee – und ihm
Vorwürfe macht, bekommt der Krimi noch eine andere menschliche Dimension. Die Verbrechen der SS und der Wehrmacht in Polen bilden einen weiteren Pfad zu vermeintlichen Tätern der Morde auf dem
Bahnhof. Schließlich ist alles anders als Giral vermutet, aber es ist schlüssig und von historischer Wahrheit, auch die Kollaboration einiger Polizisten mit den deutschen Besatzern. Das ganze Buch
ist fesselnd geschrieben und vor allem in den unglaublichen Dialogen glänzend übersetzt. Schade ist allenfalls, wenn schon deutsche Offiziere in dem Roman gut französisch sprechen, dass dem deutschen
Lesepublikum nicht das originale grammattische Geschlecht der Pariser Lokalitäten gegönnt wird, besser heiße es also: „Die Toten von der Gare d’Austerlitz“ und „die Place de l’Étoile“!
Harald Loch
Chris Lloyd: Die Toten vom Gare d’Austerlitz
Aus dem Englischen von Andreas Heckmann
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp, Berlin 2021 473 Seiten 15,95 Euro
Yanick Lahens: Sanfte Debakel
Mord und Musik – auf Haiti verschmelzen beide zu einem kreolischen Inselporträt aus der Feder von Yanick Lahens. „Sanfte Debakel“ nennt sie ihren aufwühlenden kleinen Roman, „douces déroutes“ im
französischen Original, das Peter Trier ohne Verlust der Poesie oder des karibischen Tempos überzeugend ins Deutsche übersetzt hat. Alles beginnt mit dem Mord an Raymond Berthier, einem der wenigen
Richter, der nach Ansicht der Auftraggeber seines Killers zu viel wissen wollte. Seine todunglückliche Tochter Brune ist eine begnadete Sängerin. Sie singt gegen ihre Trauer. Ihr gut vernetzter Onkel
Pierre versucht den Mord an Brunes Vater aufzuklären und seine Nichte möglichst zu schonen, als die schrecklichen Einzelheiten zur Gewissheit werden.
Um die beiden gruppiert die Autorin junge Männer unterschiedlichen Temperaments: Ézéchiel ist ein revolutionärer Straßenkämpfer und Poet einer unerreichbaren Zukunft, Waner steht für Gewaltlosigkeit
und ländliche Entwicklung. Cyprien ist ein Aufsteiger, ein junger Anwalt, der seiner Karriere zuliebe langsam in den korrupten und gewaltbereiten Alltag der Oberschicht vordringt. Die Autorin stellt
einen superreichen Oligarchen als Strippenzieher von unvorstellbarer Gewalt vor. Dessen Tochter wird mit Cyprien verkuppelt, dem Jungstar der bestechlichen Justiz. Das alles ist Alltag in Haiti, zu
dem aber auch die Musik, der Gesang von Brune gehört, die in Clubs auftritt, Massen betört und am Ende zu einer internationalen Karriere aufbricht. Ganz in ihrer Nähe und der ihrer engsten Freunde
lebt auch ein junger Killer, der durch seine gutbezahlten Morde in ein besseres Leben strebt.
Die Autorin Yanick Lahens ist eine an der Sorbonne ausgebildete Literaturwissenschaftlerin. Sie ist 1953 in Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis geboren, hat mehrere in Frankreich preisgekrönte
Romane („Tanz der Ahnen“ oder „Und plötzlich tut sich der Boden auf“ – als Journal über das verheerende Erbeben auf Haiti von 2010) veröffentlich und war Inhaberin des Lehrstuhls Mondes francophones
am Collège de France, der renommierten öffentlichen Elite-Universität im 5ème in Paris. Sie ist aber nicht nur Botschafterin der französischen Sprache, sondern auch der kreolischen, die sie in ihrer
Heimat Haiti, in der sie wieder lebt, erneut in die Schulen einzuführen hilft. Die „Sanften Debakel“, die ja gar nicht etwa sanft sind, setzen mit dem Aroma des Kreolischen einen literarischen Akzent
auf Haiti, der die exotische Poesie zwischen Voudou und Gewalt spannungsgeladen explodieren lässt. Die Handlung, in schneller Schnittfolge erzählt, erreicht die Temperatur eines Thrillers mit
ungeahndet bleibenden Verbrechen, kritisiert die auch auf Haiti zerstöririsch wirkende Rassendiskriminierung und vermittelt die Hoffnung auf die heilende Wirkung von Musik, die unantastbar
scheint.
Harald Loch
Yanick Lahens: Sanfte Debakel
Aus dem Französischen von Peter Trier
Litradukt, Trier 2021 160 Seiten 14 Euro
Der Name des Mädchens war Txupira. War, denn sie wurde ermordet. Sie war erst 14 Jahre alt, eine Indigene im brasilianischen Bundesstaat Acre, der an Bolivien und Kolumbien grenzt, im oberen
Amazonasgebiet. „Noch bevor der Kommissar die verdächtigen jungen Männer festgenommen hatte, war die tote Txupira rücklings mit gefesselten Armen im Wasser treibend gefunden worden. Ihr waren die
Brustwarzen herausgeschnitten worden. Und in ihrer Gebärmutter hatte man Glasscherben gefunden.“
An diesem Verbrechen entwickelt die brasilianische Autorin Matrícia Melo ihren erschütternden Roman „Gestapelte Frauen“. Die Protagonistin ist eine junge Anwältin. Sie erforscht im Auftrag ihrer in der Hauptstadt ansässigen feministischen Großkanzlei Frauenmorde in dieser abgelegenen Provinz Brasiliens.
Gleich am ersten Tag erlebt die Ich-Erzählerin die Verhandlung gegen die Mörder der jungen Indianerin. Die Anklage vertritt die engagierte Staatsanwältin Carla. Beide Frauen werden Freundinnen. Die Angeklagten, junge Männer aus der weißen Oberschicht, werden gegen alle Regeln des Strafrechts freigesprochen.
Frauenmorde ziehen sich durch den Roman. Die junge Anwältin war als kleines Mädchen selbst Augenzeugin, wie ihr Vater ihre Mutter erschoss. Als Kind wuchs sie bei ihrer Großmutter auf, konnte sich
durch eine Psychoanalyse stabilisieren. Aber als – kurz vor ihrer Abreise in die Provinz Acre – ihr Liebhaber ihr aus unbegründeter Eifersucht eine Ohrfeige gab, engagierte sie sich voll und ganz für
die Aufklärung und Verhinderung von Mordtaten an Frauen. Im Gerichtsarchiv in Acre stößt sie auf zahlreiche Fälle. Viele blieben unaufgeklärt, die meisten ungesühnt.
Die Autorin zählt die Namen der Opfer, meist Indigene, auf. An diesen Stellen wird ihr Roman zu einem dokumentarischen Sachbuch. Immer wieder unterbricht die forschende Anwältin ihre sie sehr belastende Untersuchung, um in dem Dorf, aus dem die ermordete Txupira stammte, das solidarische und einfache Leben der von der weißen Oberschicht unterdrückten Indigenen zu genießen. Mit diesen Ausflügen in eine andere Welt gelingen der Autorin sehr poetische Passagen, Ruhepausen auch für die Leserinnen ihres Romans.
Carla legt Berufung gegen den Freispruch der Mörder ein und spielt ein belastendes Dokument der örtlichen Zeitung zu. Deren Chefredakteurin wird nach der das Gericht entlarvenden Veröffentlichung
ermordet. Am Tage der neuen Hauptverhandlung werden die drei Angeklagten erschossen aufgefunden, danach auch Carla, die Anklägerin. Ihr früherer Freund hat die Mörder ermordet, um Txupira zu
sühnen.
Er ermordet auch Carla, weil sie sich von ihm getrennt hat und eine neue Beziehung eingegangen ist. Eifersucht. Männer ermorden Frauen – das ist die leider zu oft wahre Wirklichkeit dieses sozialkritischen Romans einer Autorin, die für ihren Roman „O Matador“ mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Die Times kürte sie zur „führenden Schriftstellerin des Millenniums“ in Lateinamerika und für „Inferno“ erhielt sie den bedeutendsten brasilianischen Literaturpreis.
Die Karteikarten mit den Fällen der Ermordeten ergeben die „gestapelten Frauen“ des treffenden Titels für ein aufwühlendes Buch. Es geht um ein ungelöstes gesellschaftliches Problem - nicht nur in Brasilien!
Harald Loch
Patrícia Melo: Gestapelte Frauen Roman
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita
Unionsverlag, Zürich 2021 251 Seiten 22 Euro
Der Inselpolizist Enrico Rizzi hat es auf Capri zumeist mit kleineren Delikten zu tun und daher genügend Zeit, seinem Vater in den Obst- und Gemüsegärten hoch über dem Golf von Neapel zu helfen. Bis mitten im August ein Toter in einem Ruderboot an den felsigen Strand getrieben wird: Jack Milani, Spross einer Industriellenfamilie und Student der Ozeanologie. Es ist der erste Mordfall für den jungen Rizzi, ein Fall, bei dem es neben der Aufklärung eines Verbrechens auch um die Zukunft der Weltmeere geht.
(Diogenes)
In Capri herrscht üblicherweise die normale Alltags-Kleinkriminalität vor, ein paar Diebstähle und harmlose Einbrüche, kleine Drogendelikte. Nicht mehr. Da geschieht mitten im sonnigen Urlaubs-August ein Mord. Ein Toter wird in einem Ruderboot aufgefunden, ermordet mit fünf Messerstichen. Der Tote heißt Jack Milano, er ist Sohn einer Industriellenfamilie und war Student der Ozeanologie.
Der ernste Kern des Krimis kreist um die Übersäuerung der Meere. Gut 20 Millionen Tonnen CO2 pro Tag verwandeln sich im Ozean zu Kohlensäure und versauern das Wasser.
Die Hauptpersonen des Krimis sind Meeresbiologen. Sie wollen eine Chemikalie entwickeln, die CO2 im Wasser neutralisieren könnte. Das wäre vielleicht ein Riesengeschäft in der Zukunft.
Kommissar Rizzi ermittelt und wälzt die Motivlage: Handelt es sich bei der Tat um ein Eifersuchtsdrama? Oder spielt berufliche Konkurrenz eine Rolle? Ist der Mörder der große Unbekannte oder handelt es sich um einen Freund aus dem engeren Kreis der Familie?
Enrico Rizzi, der Inselpolizist, und seine strafversetzte Kollegin Cirillo spielen ihre Ermittlungsrollen in der Kulisse der malerischen Tourismus-Insel Capri. Es kommt, wie es im Krimi kommen muss, auch das Stereotype daher, der Lokalpolizist hat wirklich Erfahrung und eine Ahnung von den lokalen Verhältnissen, die da weiter oben in ihren Büros in Neapel eben nicht. Und die Assistentin hat als Norditalienerin am Ort des Geschehens auch noch nicht ihre Rolle gefunden.
Der Autor Luca Ventura, der ein Pseudonym benutzt, steckt mehr Aufwand in die Beschreibung der Umgebung und in die Dialoge als in die Charakterisierung der ermittelnden Personen und ihrer Hintergründe.
Da dürfen der Fiat 500 auf der Straße und die italienischen Spezialitäten auf der Speisekarte nicht fehlen - etwa die Muscheln à la marina, die „…sind hier ganz ausgezeichnet“.
Das ist ein bisschen zu viel Zurückhaltung in der Personenbeschreibung, aber mutmaßlich bewusst so angelegt, um dies dann in weiteren Folgen einer Romanserie dafür umso ausführlicher zu tun.
Der Krimi nimmt italienisch gemächlich Tempo auf, und er endet etwas traditionell in einem einzigen Geständnismonolog. Das Umweltthema wird eher nur gestreift, um den Urlauberleser nicht zu überfordern. Ein Urlaubskrimi für den Strand, da entsteht im Sand und auf der Liege tagsüber dann nicht zu viel Gänsehaut, es sei denn es wird Abend und kühler, wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt.
Luca Ventura lebt am Golf von Neapel, wo er derzeit den zweiten Fall der Capri-Serie um den Inselpolizisten Enrico Rizzi und dessen norditalienische Kollegin Antonia Cirillo schreibt.
Rom könnte in diesem Frühjahr so schön sein - sonnig, turbulent, sogar inspiriert vom Geist des herannahenden Konzils. Doch leider haben Wissenschaftler, Bibliothekare der Vatikanischen Bibliothek, die Hohe Geistlichkeit, Polizei und Mafia von einem einzigartigen Papyrus aus der Frühzeit des Christentums erfahren. Sein Besitz verheißt Ruhm und Reichtum, stellt aber zugleich fundamentale Glaubenssätze in Frage.
Zunächst sind alle Beteiligten bemüht, sich das wertvolle Schriftstück unauffällig zu beschaffen. Dann aber kommt es zu einem Zwischenfall, der jeden Versuch, die Angelegenheit diskret zu lösen,
Makulatur werden lässt - der geheimnisvolle Papyrus verschwindet. Als Commissario Bariello von der römischen Polizei und Monsignor Montebello aus der Vatikanischen Bibliothek gemeinsam versuchen, das
jahrtausendealte Dokument wieder aufzutreiben, entbrennt eine mörderische Konkurrenz um das Wissen, das der Papyrus birgt. Aber in dem ausbrechenden Chaos scheint es jemanden zu geben, der alle Fäden
in der Hand hält und weder Tod noch Teufel scheut … (CHBeck)
Ein aufsehenerregendes Dokument taucht im Vatikan auf. Dabei handelt es sich um einen unvollständigen Text aus der Antike, einen Brief des Apostels Paulus an den „…Evangelisten Markus, und er
schreibt darin, dass Maria, die Mutter Jesu gestorben ist und dass sie sie begraben werden.“ Ist das denn gelogen, Maria ist doch gleich – nach Glaubenssätzen – in den Himmel gekommen? Was stimmt
denn nun, das Briefzeugnis oder das päpstliche Postulat? Und die Apostel-Behauptung steht da auf einer Papyrusrolle geschrieben, an welchem Ort die Jungfrau Maria einst begraben wurde. Nämlich in
Kleinasien, in Ephesus, heute in der Türkei liegend.
Der päpstliche und kirchliche Glaubenssatz lautet jedoch: Der Leib Marias wurde leibhaftig in den Himmel aufgenommen. Dieses Dogma der Kirche wird durch den Fund fundamental erschüttert.
Das fehlende Teil-Beweisstück wird ausgerechnet in der Vatikanischen Bibliothek von Forschern aufgespürt. Die Unfehlbarkeit des Papstes wird also durch das Papyrusdokument heftig in Zweifel
gezogen.
Der Autor, eigentlich langjähriger Lektor des CHBeck Verlages, ist von Haus aus Altertumsforscher und Papyrusexperte. Papyrus wurde dereinst aus der gleichnamigen Staude gewonnen, und zwar aus dem
Mark des Gewächses.
In diesem Wissenschaftskrimi treffen sich Gelehrte und Gläubige, Journalisten, Wissenschaftler und Mafiaangehörige, böse Buben und heilige Kräfte.
Italienische Originaldialoge oder Sätze aus dem Lateinischen werden im Text als Original eingefügt, das hindert zwar das flüssige Lesen, gibt dem Ganzen Szenario jedoch Glaubwürdigkeit. Am Buchende
stehen die Übersetzungen dann in der Reihenfolge ihres Auftretens im Buch.
Auf Seite 364 steht das Glaubensbekenntnis des Autors und Lektors selbst: „Das geschriebene Wort … ist und bleibt das Gefährlichste, was die Menschheit hervorgebracht hat. Es ist die unvergleichliche
Nahrung des Geistes – die Frucht vom verbotenen Baum. Alles Materielle ist nur ein Schaustück für die dumme Masse. Der Geist will beschäftigt sein.“
Wer also geistvoll hinter die Kulissen des Vatikans blicken will, wer sich für das Altertum, christliche Kirchengeschichte und Historie der Schreibtechniken interessiert, hat hier einen personen- und
handlungsreichen, intelligenteren Krimi in der Hand, wer Thriller-Qualitäten à la Hollywood und Horrorgeschichten à la Dan Brown erwartet, hat hier das falsche Papierprodukt gewählt.
Der Autor Stefan von der Lahr ist promovierter Altertumswissenschaftler. Stefan von der Lahr wurde nach einem Studium der Geschichte, Philosophie und Rechtswissenschaft mit einer althistorischen Arbeit zum Dr. phil. promoviert. Er hat über griechische Dichter und Tyrannen sowie über die Frühzeit der römischen Gesetzgebung gearbeitet und Bücher dazu veröffentlicht. Er arbeitet seit über fünfundzwanzig Jahren als Lektor im Verlag C.H.Beck.
Stefan von der Lahr Das Grab der Jungfrau KRIMINALROMAN CHBECK
Mit vier Toten hat sich Commissaire Dupin diesmal herumzuschlagen. Es ist kein Heimspiel in Concarneau oder wenigstens im westlichsten Département Frankreichs, im Finistère. Er hat die Ehre, zusammen mit seinem Präfekten und jeweils einem Kommissar sowie den Präfekten aus den anderen drei bretonischen Départements zu einem Seminar nach Saint-Malo eingeladen oder besser: abkommandiert zu sein.
Wie er solche - wie ihm scheint nutzlosen – Veranstaltungen mag! Es soll die regionale Zusammenarbeit der Polizei und der Verwaltungsspitzen in der Bretagne diskutiert werden. Dupin ist Einzelgänger, der nur mit seinem Team um seine Assistentin Nolwenn erfolgreich arbeiten kann – und er ist ein Feinschmecker. So fangen die „Bretonischen Spezialitäten“, wie Bannalecs neuester Roman heißt, auch ganz bezeichnend an: „Noch ein Stück von dem Brillat-Savarin, bitte“.
Dieser besonders fette Weichkäse, ein „triple crème“, ist nach dem Verfasser des Buches „La Physiologie du Goût“ von 1826 benannt. Damit begründete der Autor damals eine neue Form des Schreibens über die Kochkunst. Diese neue Form hat inzwischen einen beliebten Ableger in der Kriminalliteratur entwickelt: Donna Leon in Venedig, Martin Walker im Périgord und eben Bannalec in der Bretagne. Alle schreiben Kochbücher mit ein paar Toten, die sich nicht etwa überfressen haben, sondern ermordet wurden. Um die geht es vordergründig.
In den „Bretonischen Spezialitäten“ geht es zunächst auch ums Kochen. Zwei Schwestern betreiben, in Saint-Malo die eine und im benachbarten Dinard die andere, hervorragende Restaurants. Beide sind von Kindheit an Rivalinnen und die eine ersticht die andere in der Markthalle unweit des Käsestandes, an dem Dupin am ersten Tag des verhassten Seminars noch ein Stück des Brillat-Savarin gekauft hat. Er sieht den tödlichen Stich und macht sich sofort auf die Verfolgung der flüchtenden Täterin. Sie entkommt ihm. Aber er entkommt nicht dem Fall, in den er sich – unzuständig, wie er auf fremdem Terrain ist – aus beruflichem Instinkt sofort eingemischt hat. In dem Seminar wird über nichts anderes gesprochen. Als auch der Ehemann der eben ermordeten Sterne-Köchin umgebracht wird – auch er mit einem Messer – beschließen die versammelten Präfekten der Bretagne, drei anwesende Kommissare gleichberechtigt mit dem Fall zu betrauen. Eine praktische Umsetzung des Seminarthemas – für Dupin ein Grauen! Die drei treten lange auf der Stelle. Es wird ein Dritter umgebracht, schließlich stürzt ein Vierter von einer hohen Klippe. Die gleich gefasste Mörderin der Schwester-Köchin schweigt. Mit einem Trick bringt sie Dupin zum Reden. Aber er verschafft ihr damit auch einen unübertrefflichen Strafmilderungsgrund – Affekt.
Wie sie dann doch des kaltblütigen Mordes an ihrer Schwester und als Drahtzieherin auch der anderen Verbrechen überführt wird, wie sich das „Brit-Team“, die drei Kommissare, zusammenraufen, entwickelt der längst als der ehemalige Verleger von S. Fischer enttarnte Jean-Luc Bannalec zwischen immer neuen Restaurantbesuchen der Seminarteilnehmer. Die Leser können übrigens alle im Buch vorkommenden Gourmet-Tempel besuchen und die von Dupin & Co. vorgetesteten Gerichte nachbestellen. Ob sie die vielen Cafés benötigen, die Dupin immer braucht, um auf seine persönliche Betriebstemperatur zu kommen, ist fraglich.
Den Rum – Saint-Malo ist ein bedeutender Rum-Umschlagplatz – sollten die Reisenden auf den Pfaden von Dupin auf jeden Fall genießen. Dupin brauchte ihn nach manchem frustrierenden Arbeitstag, zum erholsamen Schlaf. Wie sagt man nach einem solchen Krimi mit vier Toten? Bon appetit.
Jean-Luc Bannalec: Bretonische Spezialitäten
Kommissar Dupins neunter Fall
Kiepenheuer & Witsch
Georges Simenon: Die bösen Schwestern von Concarneau
Die Ketten, die Geschwister aneinanderbinden, sind noch haltbarer als die Ankerketten der Fischkutter in der bretonischen Hafenstadt Concarneau. Hier spielt während des Ersten Weltkriegs einer der
großen Romane von Georges Simenon, der ohne Maigret auskommt, die Hauptperson seiner Kriminalromane. An Spannung und an genauer Beobachtung des Verhaltens der Menschen und ihrer Umgebung fehlt es
auch in „Die bösen Schwestern von Concarneau“ nicht.
Françoise, Marthe und Céline Guérec dominieren ihren jüngeren Bruder Jules, der im Mittelpunkt des Romans steht. Auf der Heimfahrt von Quimper verursacht er mit dem neu gekauften Auto einen Verkehrsunfall, an dessen Folgen ein Junge stirbt. Jules begeht Fahrerflucht und vertuscht gegenüber den Schwestern sein Vergehen mit allerlei Lügen. Simenon erzählt mit viel Menschenkenntnis von der immer bedrückender werdenden Atmosphäre im Hause der Guérec. Jules versucht aber gegenüber Marie Papin, der in ärmsten Verhältnissen lebenden Mutter des gestorbenen Kindes sein Gewissen zu entlasten. Ohne ihr etwa die Wahrheit zu sagen, bringt er dem Zwillingsbruder der Gestorbenen kleine Geschenke, stellt den geistig behinderten Bruder Maries auf einem seiner Kutter ein, macht der gar nicht Interessierten schließlich einen Heiratsantrag.
Jules und seine Schwestern gehören einer angesehenen Familie an. Als Familienunternehmen setzen sie den von ihren Eltern übernommenen Fischereibetrieb erfolgreich fort, Jules ist der Fischer, die
Schwestern betreiben ein Café und verkaufen Proviant und Ausrüstungen für die Schiffe im Hafen. Céline ist die Älteste und Klügste. Anhand von Indizien, die sie sich selbst zusammenreimt,
konfrontiert sie Jules mit seiner Tat, verhindert die kompromittierende Heirat und zahlt Marie Papin einen sehr ansehnlichen Betrag gegen Verzicht auf alle Ansprüche. Jules ohrfeigt daraufhin seine
Schwester Céline, wütet und zertrümmert das Ladeninventar. Die sensationslüsterne Bevölkerung nimmt voyeuristisch Anteil an der Verwüstung. Die Familie hat er damit unmöglich gemacht und sie
beschließen – notgedrungen gemeinsam - den Ort zu verlassen, an dem sie zu Wohlstand und Ansehen gekommen waren. Nur Marthe, inzwischen mit dem Ortspolizisten verheiratet, bleibt in Concarneau. Nach
verschiedenen Umzügen landen die drei anderen Geschwister in Versailles, wo nach einiger Zeit Françoise stirbt. Es bleiben nur die beiden Kontrahenten Céline und Jules übrig, der eine kaum
auskömmliche Stelle als Versicherungsvertreter angenommen hat – ausgerechnet für die Branchen Feuer und Unfall.
Mit solchen Pointen würzt Simenon seinen Roman, der trotz der elegant fließenden Erzählung nicht ins rein Unterhaltsame abgleitet. Der Tod eines Jungen und die archaischen Ketten zwischen den Geschwistern verlangen eine gewisse Härte des Stils. Aber Simenon kennt sein Publikum und hält in einem Nebensatz Versöhnliches bereit: Die arme Marie Papin hat inzwischen einen Bauunternehmer geheiratet und wird fortan ohne materielle Sorgen leben können.
Harald Loch
Georges Simenon: Die bösen Schwestern von Concarneau Roman
Aus dem Französischen von Ingrid Altrichter
Atlantik/Hoffmann und Campe, Hamburg 2020
Andrea Camilleri: Kilometer 123 Kriminalroman
Italien ist ohne die Römer nicht vorstellbar. Vor über 2000 Jahren bauten sie ihr Verkehrsnetz und die Via Aurelia, die von Rom parallel zur Küste führte, war einer der Hauptverkehrswege. Heute ist
es die Strada Statale 1. Am Kilometer 123 dieser SS 1 fährt ein SUV mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Rom auf einen kleinen Wagen auf, schubst ihn von der Straße, so dass er sich überschlägt. Der
am Steuer sitzende Bauunternehmer wird schwer verletzt von dem Fahrer des nachfolgenden Wagens geborgen. Der sagt der Polizei, er sei der festen Überzeugung, dass der „Unfall“ absichtlich
herbeigeführt worden sei. Der verletzte Bauunternehmer kam von einer seiner Geliebten zurück, als er von der Straße flog. Die Polizei ermittelt. Das alles und auch das Folgende hat sich Andrea
Camilleri ausgedacht. Der sizilianische Großautor ist vor knapp einem Jahr im Alter von 93 Jahren gestorben. „Kilometer 123“ ist sein letzter Roman. Er schreibt ihn abwechslungsreich, flicht Dialoge
per SMS ein, Zeitungsmeldungen und auch Aktennotizen der Polizei. Der Fall entwickelt sich nämlich. Wenige Tage nach dem ersten Unfall kommt am gleichen Kilometer 123 ein weiteres Auto von der Via
Aurelia ab und überschlägt sich. Die Fahrerin ist diesmal tot. Sie ist eine andere der heimlichen Geliebten des inzwischen halbwegs genesenen Bauunternehmers.
Der Bauunternehmer wird inzwischen von der Polizei durchleuchtet. Auf einer seiner Baustellen kam es zu so erheblichen Unregelmäßigkeiten beim Arbeitsschutz und der illegalen Beschäftigung von
Arbeitern. Eine Anzeige bei der Finanzpolizei wegen Millionen-Steuerhinterziehungen rückt ihn weiter ins Zwielicht. Aber wie hängen die Dinge zusammen?
Hat die beim zweiten Unfall tödlich verunglückte Geliebte des Bauunternehmers Selbstmord begangen, nachdem sie den ersten an diesem verursacht hatte? Wollte sie mit dem Suizid an Kilometer 123 ihre
Schuld eingestehen und büßen? Oder war es ganz anders. Die Ehefrau des Bauunternehmers gerät in den Ermittlungsblick der Polizei, die in der Beurteilung des Falles wieder einmal völlig zerstritten
ist. Die Ehefrau hat von den Liebschaften ihres Mannes erfahren. Was liegt näher als Rache an ihm und an den Geliebten zu nehmen? Zumal, da sie ihren Mann auch bei der Gewerbeaufsicht und der
Steuerfahndung angezeigt hat. Der Leser darf den Fall selbst lösen, alles liegt auf der Hand, nichts ist bewiesen. Aber da ist noch ein weiteres Paar. Es muss kein „heimliches“ mehr bleiben.
Nutznießer dieser „Unfälle“ sind die beste Freundin der ums Leben gekommenen Geliebten des Bauunternehmers und deren Witwer. Sie wollen ein freudiges Wochenende in einem Motel an der Via Aurelia nahe
dem Kilometer 123 verbringen. „Wir nehmen uns ein Zimmer und verbringen dort die Nacht.“ Dieser Kilometer 123 liegt übrigens in der ehemals sumpfigen und malariaverseuchten Landschaft Maremma, die
schon in Dantes „Göttlicher Komödie“ als Teil des purgatorio, also des Fegefeuers, berüchtigt war - Italien eben und seine Jahrhunderte alte Kultur.
Harald Loch
Andrea Camilleri: Kilometer 123 Kriminalroman
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Kindler, Hamburg 2020 142 Seiten 22 Euro
Zwischen Köln und Düsseldorf fallen die Entscheidungen. Die Handlung spielt in ausgedachten Orten des Rheinlandes, wo sich Wolfgang Kaes besonders gut auskennt. Er ist Chefreporter beim Bonner
Generalanzeiger. Seit Jahren schreibt er etwas andere Kriminalromane. Diesmal gibt es keine glückliche Aufklärung eines schon über fünf Jahre zurückliegenden Mordes. Kaes und sein Protagonist Thomas
Mohr fahren eine Kampagne gegen schlampige Ermittlungen, gegen rechtswidrige Verfahrenseinstellungen, gegen Korruption in Reihen der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Wir wissen nicht, ob es so
schlimm steht. Es gibt keine seriösen Erhebungen darüber. Keiner will das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben. Der Zielfahnder beim Landeskriminalamt NRW Thomas Mohr will jedenfalls
Gerechtigkeit. Auf Grund behördeninterner Intrigen ist er versetzt worden und bearbeitet jetzt als einziger Dezernent „cold cases“, also Altfälle, in denen schon gar nicht mehr ermittelt
wird.
Die erste der ihm wie zur Ablenkung übertragenen cold cases betrifft einen Vorgang aus der Nacht vom 8. auf den 9. November 2013, in der einige Schulfreunde einen Club, das „Rheingold“ in Bad
Hombach, besuchen. Einer kehrt nicht mehr nach Hause zurück: Jonas Berthold. 19 Jahre jung, Jurastudent. Seine Leiche wird zwei Wochen später aus dem Rhein geborgen. Die Rechtsmedizin stellt kein
Fremdverschulden fest. Schon beim ersten Aktenstudium stutzt Mohr: So widersprüchlich, so oberflächlich und so unplausibel verlaufen die Ermittlungen und entsprechend sind deren Ergebnis: Einstellung
des eigentlich gar nicht betriebenen Verfahrens. Die Eltern des Jungen kämpfen an verschiedenen Fronten um Aufklärung, wollen wissen, wie und weshalb ihr Sohn gestorben ist, wer ihn vermutlich
umgebracht hat. An dieser Gerechtigkeitslücke arbeitet der Autor und lässt seinen Zielfahner Mohr einen der „cold cases“ als einen heißen Fall mit vielen Überraschungen, einigen dramatischen
Show-Downs erleben und eine Entdeckung machen, die in unserem Rechtsstaat nach NSU und vielen anderen „Pannen“ nicht wirklich überrascht, aber auch nicht im günstigsten Licht erscheinen lässt.
Diese Fundamentalkritik an den nicht ganz so sauberen Behörden, die diesen Rechtsstaat eigentlich sichern sollen, diese vielleicht auch eher als Warnung zu verstehende Philippika gegen Beamte, die
nicht jederzeit Gewähr bieten, das zu schützen, was sie meist aus Habgier verraten, macht noch keine Spannungsliteratur, macht noch keinen guten Kriminamroman. Dazu gehören Verbrechen und Verbrecher,
Gewalt und Verschlagenheit, dazu gehören Logik, Spürsinn, Sackgassen, Ermittlungsfehler, Sand im Getriebe. Hier kommen noch Lokalkolrit, Kenntnis der örtlichen Mileus, zeitgeschichtliche, ja aktuelle
Bezüge dazu. Auch Internationalität, die die Handlung bis ins gar nich so entfernte Rotterdam aber auch bis an den Südzipfel Marokkos verschlägt. Und auch eine schöne, hoffentlich andauernde
Liebesgeschicht zwischen dem Zielfahner Mohr auf dem Abstellgleis der cold cases und einer von der Amtsleitung zunächst auf ihn angesetzten Psychologin: Vera! Das volle Programm also mit einem
rechtsstaatlichen Anliegen, das hier hoffentlich nicht an seiner „Endstation“ landet, wie der Titel dieses hervorragenden Kriminalromans lautet. Chapeau Wolfgang Kaes!
Harald Loch
Wolfgang Kaes: Endstation Kriminalroman
Rowohlt, Hamburg 2019 424 Seiten 16,99 Euro
Der Züricher Unionsverlag ist berühmt für die von ihm herausgegebene Literatur aus den entlegensten Ecken der Welt. „Die Cannabis-Connection“ des deutsch-niederländischen Autorenduos Hoeps & Toes
spielt allerdings zwischen Amsterdam und Berlin, führt zeitweise bis ins Bundeskabinett, lässt die Bundeskanzlerin von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen und hinterlässt eine Reihe von
Ermordeten – ein mitteleuropäischer Thriller, der weit in die Vergangenheit ausholt. Die holt den Protagonisten Dr. Marcel Kamrath unerwartet ein, als er – inzwischen Staatssekretär im
Bundesjustizministerium – federführend für eine fiktive schwarz-grüne Koalition die gesetzliche Cannabis-Freigabe vorbereitet. Die Legalisierung von Hasch würde natürlich den illegalen Handel in
Deutschland zum Erliegen bringen. Der wird vornehmlich von Amsterdam aus betrieben. Dort hatte Kamrath vor Jahrzehnten, vor seinem Studium, in der Hausbesetzer-Szene mitgemischt, war mit der
Drogenmafia schmerzlich in Kontakt gekommen und hat dabei seine damalige Freundin Kiki verloren. Die erste Leiche geht wohl auf sein Konto, wie er sich vorwirft.
Plötzlich taucht in Berlin sein damaliger bester Freund Sander van Haag auf, den er ebenfalls ermordet wähnte. Der hat inzwischen ein eigenes Rauschgift-Netz aufgebaut und vertreibt über die Hälfte
seiner Produkte in Deutschland. Er ist bestens über Kamrath informiert und erpresst ihn mit alten Geschichten, schiebt ihm Leichen im Keller zu und verlangt von ihm, das Legalisierungsprojekt zu
stoppen. Kamrath steht vor dem nächsten Karrieresprung. Er hat die Bundeskanzlerin so verstanden, dass er demnächst Minister werden könnte. Alles das sieht er in Gefahr. Er schwankt, weicht sein
Engagement für die Cannabis-Freigabe auf, erfindet Bedenken und begibt sich aus Angst vor dem ihn raffiniert täuschenden Erpresser in immer neue und tiefere Abhängigkeiten von ihm. Ein
Drogenabhängiger greift Kamrath in Begleitung von einer Freundin und Sander in einem Berliner Park an, verletzt sich dabei lebensgefährlich selbst und wird von Sander wie Müll entsorgt, anstatt
ärztliche Hilfe zu holen. Kamrath wird dadurch sogar als Mörder erpressbar, obwohl er das Opfer nicht auf dem Gewissen hat.
Kamrath verliert seine politische Glaubwürdigkeit, weil er – entgegen seiner Überzeugung – auf die Erpressung eingeht. Geschickt spielen die Autoren das politische Haifischbecken Berlins als
selbstgerechte und gerade noch nicht kriminelle Variante neben die mörderische Cannabis-Connection ein. Das liest sich manchmal, als hätte der SPIEGEL mit am Kabinettstisch gesessen.
Schließlich nimmt Kamrath Vernunft an und Kontakt zu einer ehemaligen niederländischen Geheimdienstmitarbeierin auf, lässt sich Information über seinen Erpresser schicken und liefert ihn damit dann
selbst ans Messer. Davor und dabei müssen noch ein paar weitere Menschen sterben, die Cannabis-Connection kennt keine Gnade, wenn ihre Interessen bedroht sind. In Franken verüben sie einen
terroristischen Anschlag mit bleivergiftetem „Stoff“, der weitere Opfer fordert. Auf dem Wege zu dem Schluss führen die beiden Autoren noch etliche weitere Show-Downs herbei. Es bleibt spannend bis
zum Ende, nicht zuletzt wegen der sprachlichen und stilistischen Feinarbeit, die Hoeps&Toes auch noch dem Gröbsten widmen. Die Dialoge folgen einer perfekten Dramaturgie, die Empathie des
Publikums mit Kamrath wird auf eine harte Probe gestellt, aber nie gänzlich verraten. Ob es für Kamrath persönlich noch zum Happyend reicht, bleibt offen. Aber sein politisches Kind, die
Cannabis-Freigabe, wird schließlich von der Kanzlerin abgesegnet - ein Plädoyer für die Legalisierung der wahrscheinlich nur durch strenge Aufsicht als „weiche“ Droge zu bezeichnenden Hanf-Produkte.
Deren Verbot begünstigt jedenfalls – folgt man diesem gelungenen Thriller – die schlimmsten Verbrechen.
Harald Loch
Hoeps & Toes : Die Cannabis-Connection Thriller
Die von Jac. Toes <sic!> auf Niederländisch geschriebenen siebzehn Kapitel hat sein Mitautor Thomas Hoeps ins Deutsche übersetzt
Unionsverlag, Zürich 2019 350 Seiten 19 Euro
Die Heldin von Saint-Denis im Périgord ist Paulette. Die Gymnasiastin wird im Verlauf des Kriminalromans „Menu Surprise“ von Martin Walker in den Kader der französischen Rugby-Nationalmannschaft berufen – ein Triumph für das ganze Städtchen. Aber Paulette hat vorher noch eine schwierige Entscheidung zu treffen, die sie – gerade volljährig geworden – ganz allein treffen darf und muss. Ihr Schottischer Autor ist ein Meister der Nebenhandlungen und der in diesen brillierenden Nebenfiguren. Hauptperson ist wieder Bruno, der Chef de Police von Saint -Denis. Er wird gerade befördert und ist nunmehr für das ganze Tal der Vézère zuständig. Er ist zugleich der Trainer der örtlichen Rugby-Mannschaft und kümmert sich in dieser Eigenschaft auch um Paulette. Aber neben seinen lokalen Aufgaben fordert ihn diesmal ein rätselhafter Doppelmord, von denen einer auch ein Selbstmord sein kann. Sofort sind die höheren Instanzen eingeschaltet.
Walker führt sein Publikum durch das Dickicht der Zuständigkeiten, verflicht die dem Bürgermeister unterstehende Polizei der Gemeinde mit der von Paris gesteuerten Gendarmerie Nationale, holt den Staatsanwalt und auch internationale Ermittler mit in das administrative Dickicht, in dem der „kleine“ Bruno Gelegenheit zu Anfängerfehlern und auch zu Erfolgen bekommt.
Die Aufklärung um die beiden Toten führt in den seit dem Karfreitagsabkommen ruhenden Nordirland-Konflikt und lässt die immer noch aktuelle Bedeutung dieses Problems während des laufenden Brexit-Dramas aufblitzen.
Im Hintergrund spielt das „Menu surprise“ auch im Irak-Krieg und auf weiteren Schauplätzen internationaler Krisen. Walker kennt sich da aus. Lange berichtete er für die britische Tageszeitung The Guardian aus Washington, in früheren Jahren schrieb er für die Zeitung aus Belfast über die IRA.
Ein schottischer und ein US-amerikanischer Geheimdienstmann ergänzen das ohnehin schon kompliziert strukturierte Team der Ermittler. Sanfte Kritik übt Walker an den nach Sensationen jagenden britischen Journalisten, die sich auch in Fällen, in den sie die Ermittlungen behindern und sogar Menschen in Gefahr bringen, auf die Pressefreiheit berufen. Ein Lokalreporter des Ouest France sorgt für ganz andere Probleme.
An die Spitze der schnell gebildeten Gruppe von Sonderermittlern stellt sich aus leitender Position in Paris und Brüssel Brunos frühere Geliebte Isabelle. Das ist die private Dimension dieses kultivierten und sich zu einem dramatischen Show-Down steigernden Krimis. Manche lesen die Bruno-Romane auch als Kochbuch. Wer wissen will, wie man aus einer einzigen Ente fünf hervorragende Gericht zubereitet, welche Weine aus dem Périgord er vorzugsweise dazu genießen sollte, wer das Marktleben in einer französischen Kleinstadt nachvollziehen und sich im Geiste von dem ausgezeichneten Koch Bruno verwöhnen lassen will, hat mit „Menu surprise“ das richtige Buch in der Hand.
Hundeliebhaber kommen voll auf ihre Kosten, da Brunos Basset sich nicht nur als treuer Jagbegleiter und schmeichelnder Partner Isabelles sondern auch bei der Festnahme einer Täterin bewährt. Die Freunde Brunos sorgen auch in diesem elften Fall für ein vertrautes Ambiente und die britisch-französische Symbiose im Périgord wird immer wieder aufgerufen, wenn englische Namen von Weingütern noch aus der Zeit des Hundertjährigen Krieges bis in die Gegenwart hinein gelten.
„Menu surprise“ ist kein Buch für Hard-core-Leser sondern für Genießer einer Lebensart, in der die Verbrechen, die es aufzuklären gilt, Fremdkörper bleiben. Sie wecken in Walker nicht den Ruf nach schärferen Gesetzen, sondern wecken die Freude am doch recht liberalen Leben in der französischen Provinz, in die er sich aus Washington immer wieder zurückzieht.
Harald Loch
Martin Walker:
Menu surprise. Der elfte Fall für Bruno, Chef de Police
Das Reizwort PARIS stimuliert die Sinne. Vor meinen Augen taucht der Eiffelturm auf, das umtriebige Seineufer, die fleißigen Bouquinisten oder die mondäne Champs Elysees. Wir lauschen den Dreivierteltakt der Valse Musette, einem französischen Volkstanz, der auch zwischen den Häusern am Montmartre im Künstlerviertel daheim ist, und in der Nase kommt uns der frische Geruch eines knacken Baguettes entgegen, das mit Butter eingestrichen, mit Kochschinken belegt, im Café an der Ecke des Boulevards so schön bröselt.
Die Chansons von Piaf, Greco oder Brel oder eben die Erlebnisse von Kommissar Maigret in 75 Simenon-Büchern lassen uns in früheren Paris-Erinnerungen schwelgen, als es noch den Bauch von Paris und seine Hallen gab.
Apropos Maigret: Der Belgier und sein Schöpfer Simenon wurden 40 Jahre im Diogenes Verlag verlegt, nun liegen die Buchrechte beim neu gegründeten Schweizer KAMPA-Verlag.
Daniel Kampa, der bei Altverleger Daniel Keel für Diogenes und Hofmann und Campe arbeitete, hat der Erbenfamilie und dem traditionsreichen Schweizer Verlag DIOGENES die Rechte abgeluchst. Ein Coup für seine Neugründung des KAMPA-Verlages.
So wurde jetzt also in diesem Buch dem Kultkommissar Maigret wieder ein Leben des Anderen eingehaucht: Der neue Maigret heißt Kommissar Lacroix. Sein Hut, die berühmte Pfeife, sein Schlottermantel, die akribischen Ermittlungsmethoden, das bürgerliche Umfeld, auch seiner Täter, all das ist ein deja-vu-Erlebnis für den leidenschaftlichen Krimileser.
Zwei Obdachlose werden ermordet: Mehr sei hier nicht verraten. Ein atmosphärisches Buch für Paris- und Maigret-Fans: Ein Nostalgiekrimi in bekannter Kulisse.
Alex Lépic LACROIX und die Toten vom PONT NEUF KAMPA
Solveig Brenner wird auf einer abartigen Performance mit dem Herzmittel Digitalis ermordet. Es kommt auf die Dosierung an. Rosa Kontrapunkt nahm mit fünf oder sechs anderen auch an der Performance
teil. Auch sie eine weltläufige Künstlerin dieser besonderen Art. Diesmal ging es in Paris in einem leerstehenden Kaufhaus um das gemeinsame Anhören des originalen Kaufhaus-Tons aus der Zeit, als es
noch in Betrieb war. Rosas Sohn Quentin Belbasse, mittlerweile 35 Jahre alt, ist Jazzgitarrist und – nebenbei oder auch hauptberuflich – Detektiv. Mit seiner genialen, nicht dauerhaft schockierten
Mutter ermittelt er auf eigene Faust und gerät wie auch schon in seinem ersten Fall wieder mit dem Polizeileutnant Bossard aneinander. Bis sie merken, dass sie nur zusammen in diesem Fall
weiterkommen.
Verdächtig sind mehrere, gerichtsfeste Beweise gibt es gegen keinen. Aber auf dem Weg zum Erfolg wird immerhin eine – verjährte – Vergewaltigung überraschend aufgeklärt, festgestellt, dass die
Ermordete schwanger war und - völlig absurd - der dazugehörende Erzeuger ermittelt. Ein verheirateter Chefarzt, von seiner Sekretärin angehimmelt, gibt Quentin vor seinem Krankenhaus Feuer mit dem
Feuerzeug aus einer Performance von Quentins Mutter. Die hat einen neuen Lover, der plötzlich ebenfalls in den Dunstkreis der Verdächtigen gerät – peinlich! Auch das Hilfspersonal und die Komparsen
dieses Romans sind prägnant besetzt und von den beiden Autoren knapp und wiedererkennbar gezeichnet. Hinter dem Pseudonym P.B. Vauvillé verbergen sich die deutsche Autorin Bertina Henrichs und der
Filmemacher und Sänger Paul Vauvillé aus der Rockgruppe „Au Bonheur des Dames“. Beide leben in Paris, kennen sich dort bestens aus und rufen die manchmal recht morbide Pariser Szene immer wieder als
kaum deutbaren Hintergrund ihres Falles auf. Das alles liest sich in der guten Übersetzung von Maja Ueberle-Pfaff flott. Trotz der vielen Sachgassen bleibt der Fluss der Erzählung "zielführend", wie
es heute heißt.
Zu dieser speziellen Pariser Kunst-Szene gehört auch eine fast tödliche Portion Sado-Maso, die Quentin beinahe zum Verhängnis wird. Sein Lieblingsspielzeug, eine Citroen DS ("la déesse") aus
der guten alten Zeit, wird ihm von einem der Ertappten abgefackelt. Aber der Mörder – natürlich verheimlichen die Autoren die Lösung des spannenden Falles nicht – ist eine härtere Nuss, die noch dazu
bestens getarnt operiert hat. Vielleicht war eben doch wieder Eifersucht das Motiv, aber wenn, dann eine unerwartete und schräge Eifersucht - wie alles in diesem hübschen Mordroman. Am Schluss bringt
Leutnant Bossard seine beiden Siamkatzen zu Quentin in Pension, da er selbst ins Krankenhaus muss. Gute Besserung!
Harald Loch
P.B. Vauvillé: Ein kunstvoller Mord Kriminalroman
Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff
Atlant im Hoffmann und Campe Verlag 2019 206 S. 16 Euro
Der Fall liegt 18 Jahre zurück. Die Beteiligten, eine Handvoll Jugendlicher, früher jung, heute eben älter geworden, eine Kleinstadt am Meer. Ein stillgelegtes Schwimmbad und ein Schuldiger, der kein Schuldiger ist. Er macht sich bei seiner Rückkehr in die Heimat auf, das aufzuklären, was so lange rätselhaft geblieben war.
Es ist das Traumpaar einer Jugend-Clique: der allseits beliebte Magnus und die faszinierende Milla. Svenja ist die beste Freundin von beiden, als die Dritte im Bunde. Milla kommt bei einer nächtlichen Party im Freizeitbad auf mysteriöse Weise ums Leben.
Susanne Kliem packt nicht den Handlungs“koffer“ aus, in dem die Handwerkszeuge der Autoren für Gewaltexzesse im Krimi liegen.
Sie nutzt psychologische Ebenen, um dramatische Entwicklungen zu begründen. Der Held des Buches, Anwalt Magnus, will seine Unschuld beweisen, stößt in seinem Heimatort jedoch auf eine Mauer des Schweigens. Im Lügenmeer fischt er nach Indizien, die seine Unschuld beweisen könnten.
Im Hallenbad war damals ein Mädchen zu Tode gestürzt – ein Unfall? Ein Mord? Wurde sie heruntergestoßen? Magnus, Milla und Svenja sind ein Freundes-Dreigespann, wechselseitig einander nah in den Gefühlen stehend. Wer liebt wen wirklich und wer ist nur Freund oder Freundin? Und wer übt gegenüber wem Macht aus?
Ein Psychothriller über zwischenmenschliche Abgründe, der seine Raffinesse in den ersten Teilen des Buches nur langsam gewinnt, aber von Seite zur Seite dann doch temporeiche Wendungen erfährt, die den Leser überraschen und dann doch mitnehmen. Ein „Seelen-Meer“-Krimi, der Wellen schlägt.
Susanne Kliem wurde am Niederrhein geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Berlin. Sie ist gelernte Buchhändlerin und arbeitete u. a. als Pressereferentin beim Fernsehen sowie für das größte deutsche Theaterfestival »Theater der Welt«. Seit 2009 schreibt sie Krimis, für die sie bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde.
Susanne Kliem Lügen-Meer Roman C. Bertelsmann
Der Ausgangsfall des neuen Kriminalromans der international gefeierten Finnin Leena Lehtolainen hat es in sich: Eine Sexualstraftäterin wird am Tage ihrer Entlassung aus dem Gefängnis ermordet. Vielleicht ist die Dunkelziffer größer als die Kriminalstatistik vermuten lässt. Auch Frauen vergreifen sich zur Befriedigung ihres Sexualtriebs an Jungen.
Tuula Lahti-Haapala war Assistentin in Zahnarztpraxen und hatte sich an minderjährigen Patienten vergangen, mit einem hatte sie richtigen Geschlechtsverkehr. Der Junge hatte kurz danach vor einen Zug geworfen und lebte nicht mehr. Diese Straftäterin mit dem für hiesige Ohren so komplizierten Namen – fast alles in dem Roman klingt ganz fremd – war also ermordet worden und die bereits seit mehr als 20 Jahren in Deutschland aus den früheren Romanen der Autorin bekannte Polizistin Maria Kallio leitet die Ermittlungen in einer kleinen Gruppe. Deren Teamwork funktioniert trotz mancher Ressentiments gegenüber einem schwulen Kriminalpolizisten.
Die Unterfinanzierung der finnischen Polizei ist Gegenstand mancher Seufzer der überanstrengten Ermittler, deren Vorgesetzter Golf spielt – kleine Spitzen am Rande.
Erdrosselt mit einer Fahrradkette – so viel steht von Anfang an fest – wurde die Entlassene in einem Park gefunden. Der Verdacht richtet sich zunächst gegen die inzwischen herangewachsenen Opfer von Tuula. Der Kreis der Verdächtigen erweitert sich immer mehr. Eine entfernte Verwandte und auch der zwielichtige Gefängnisgeistliche geraten in das Visier von Maria Kallio und ihrem Team.
Als die geschiedene Ehefrau eines Schlagerstars Selbstmord begeht und Mord und Selbstmord sich verknüpfen lassen, gewinnt das Geschehen an Dramatik. Der Suizid stellt sich als ein weiterer Mord
heraus und die Verbrechen der Sexualtäterin Tuula sind nur ein Baustein eines international tätigen Pornonetzwerkes, an dessen Ausgangspunkt ein unscheinbarer Fotograf die Hardware der Bilder
liefert.
Lehtolainen ist eine begnadete Erzählerin. Sie erzeugt Spannung und Unterhaltung, sorgt für Nachdenklichkeit und finnisches Lokalkolorit. Sie erfindet komplizierte Handlungsstränge und führt sie
souverän auch wieder zusammen. Der juristisch längst abgeschlossene Fall der ermordeten Tuula wird noch einmal – soweit erforderlich – aufgerollt, ihr selbst von Misshandlungen geprägtes Schicksal
herangezogen. Jeder Psychologe findet hier reichlich Material an fiktionaler Forensik. Mit Einzelheiten verschont die Autorin ihr Publikum nur, soweit sie nicht für die Erzählung wichtig sind.
Spannung erzeugt sie mit diesem intelligenten Krimi in den Köpfen ihrer Leser, zuletzt auch durch einem sich überraschend auflösenden Showdown.
Harald Loch
Leena Lehtolainen: Das Ende des Spiels. Maria Kallio ermittelt Roman
Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara
Rowohlt Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe, Reinbek 2018 444 Seiten 10,99 Euro
Petros Markaris: Drei Grazien
Der in Istanbul geborene Athener Petros Markaris überrascht immer wieder. In seinem zwölften bei Diogenes erschienenen Krimi um Kommissar Kostas Charitos geht es um drei Morde und um drei Grazien.
Die geben dem wieder mit aktuellen kritischen Anmerkungen gespickten Roman den Titel, den Überraschungseffekt und stürzen den Kommissar in einen Interessenkonflikt. Drei Morde also: Zwei
Hochschulprofessoren verlassen ihre Universität, um Minister oder Staatssekretär zu werden. Ihre Planstellen geben sie nicht frei, um nach dem Ausflug in die Politik wieder an die Hochschule
zurückkehren zu können. Ein Dritter hat diesen lukrativen Wechsel schon hinter sich und zieht sich in die für ihn warm gehaltene Universität wieder zurück. Zweimal Gift, einmal Schlagwerkzeug und
Messer. Jeweils kurz nach den Morden erscheinen Bekennerschreiben, in denen den Ermordeten „Hochverrat“ an ihren finanziell ausgebluteten Universitäten vorgeworfen wird. Die Blockade der Planstellen
führt zu nur noch mangelhaftem Lehrbetrieb. Jeweils wird der Mord dem Andenken früherer Koryphäen der Uni gewidmet, die ihren Lehrverpflichtungen vorbildlich nachgekommen seien.
Kostas und seine Frau Adriana haben gerade ihren Urlaub hinter sich. In den Ferien haben sie drei ältere Damen kennen und schätzen gelernt, die „drei Grazien“. Man freundet sich an und lädt sich –
wieder in Athen – gegenseitig zum Essen ein. Inzwischen tappen Kostas und sein etwas verjüngtes Team im Dunkeln beim Versuch, die Täter der Professorenmorde zu ermitteln. Petros Markaris hat das
Personal der Vorgesetzten des Kommissars behutsam ausgewechselt – der hat es jetzt leichter. Die Hoffnung auf Beförderung – ein Posten über ihm ist ja frei geworden – zähmt den Kommissar, der in der
Vergangenheit immer durch seine unkonventionelle Vorgehensweise angeeckt ist.
Ob diese disziplinierte Ermittlung zum Erfolg führt, der von ganz oben dringend eingefordert wird? Und ob dieser neue „Gehorsam“ des Kommissars auch zu seiner Beförderung führt?
Die spektakuläre Aufklärung des Falles erfährt der Leser schon in diesem Roman. Ob die Karrierewünsche des Kommissars in Erfüllung gehen vielleicht erst im nächsten, auf den nach den „Drei Grazien“
seine zahlreichen Fans in Deutschland schon warten. Hilfreich in diesem mit drei Toten noch moderat ausgestatteten Krimi ist bei dem üppig auftretenden Personal ein Personenverzeichnis zur besseren
Orientierung. Die griechischen Namen mögen manche verwirren – die Handlung ist aber in bewährter Markaris-Manier logisch aufgebaut, der Spannungsbogen ist dramaturgisch gekonnt gespannt und der
Wechsel zwischen dem Amt und der heimischen Küche tut allen gut, die Kriminalliteratur nicht als bluttriefende Grusel-Thriller verstehen. So sorgen die „Drei Grazien“ für beste Unterhaltung.
Harald Loch
Petros Markaris: Drei Grazien
Ein Fall für Kostas Charitos
Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger
Diogenes, Zürich 2018 359 Seiten 24 Euro
In diesen Tagen verfolgte die Öffentlichkeit ein wirklich dramatisches Ereignis. Eine Fußballmannschaft war in einer thailändischen Grotte für Tage eingesperrt, weil ein plötzlich einfließendes Hochwasser den Rückweg absperrte. Die Schüler mussten mit ihrem Trainer in der überfluteten Höhle tagelang ausharren bis endlich Hilfe und Rettung ankam und alle wie durch ein Wunder von geübten Tauchern letztlich lebend gerettet wurden. Ein Tauchhelfer verlor allerdings bei der Rettungsaktion unglücklicherweise sein Leben.
Einen beinahe ähnlichen Hintergrund hat der Krimi ELSÄSSER VERFEHLUNGEN. EIN FALL FÜR MAJOR JULES GABIN.
Er spielt in den Elsässer Vogesen, einem hügeligen Grenzland gegenüber Rheinland-Pfalz liegend, drüben in Frankreich, dort wo viele Einwohner aus den Erfahrungen der Besatzungszeit noch deutsch sprechen, gerne Wein trinken, sowie Käse und Zwiebelkuchen zu ihren Lieblingsspeisen zählen.
In der Blutgrotte ist ein Rebenheimer umgekommen, und niemand weiß warum. Er war doch ein geübter Kletterer. War es nun ein Unfall, hat die technische Ausrüstung versagt, weil sie aus billigem Material war, ist daran manipuliert worden, handelt es sich um einen geplanten Mord, ist eine gezielte konkrete Tötungsabsicht damit verbunden gewesen.
Da es nicht der erste Tötungsfall in der Blutgrotte war, reiht sich eine große Anzahl von Ungereimtheiten aneinander, die der liebenswürdige Kommissar nach und nach entwirren muss.
Es ist schon der vierte Fall des Kommissars im Weindörfchen Rebenheim.
Der unter dem Pseudonym Jean-Jacques Laurent arbeitende, aus dem Elsass stammende Autor weiß elsässischen Sprachgebrauch, die örtlichen Küchengeheimnisse, die Begriffe und Redewendungen aus dem Elsass anzuwenden.
Die Namen der handelnden Personen sind manchmal etwas allzu geläufig, doch es gelingt dem Autor die Atmosphäre von la douce France entstehen zu lassen. Aber, wer sind diese seltsamen Gestalten in ihren Kutten? Hat der Ku-Klux-Klan das Elsass erobert, haben keltische Druidenfans als Gruppe die Grotten zum Stammlokal erklärt? Und parallel dazu gibt es auch noch einige private Verwirrungen zwischen dem Kommissar und seinen beiden Frauen.
Ein Krimi für Höhlenfans und Elsaß-Kulinariker, aber insbesondere für Flammkuchen-Freunde und Fans des Elsässer Rieslings. À votre santé ! Zum Wohl!
Jean-Jacques Laurent ELSÄSSER VERFEHLUNGEN Ein Fall für Major Jules Gabin Piper
Zwei schwedische Diplomaten werden vermisst – vermutlich wurden sie entführt. Ein Einsatz für Amanda Lund, die Unterhändlerin.
Die schwedische Kriminalkommissarin Amanda Lund ist für ein Jahr in Afghanistan stationiert, sie bildet lokale Sicherheitskräfte aus. Gerade erst hat die 35-Jährige einen Angriff der Taliban überlebt, da erhält sie einen neuen heiklen Auftrag: In Kabul ist ein schwedisches Diplomatenpaar verschwunden. Die Botschaft geht von einer Entführung aus. Amanda ist Verhandlungsspezialistin, sie soll in dem Fall vermitteln. Jede Stunde zählt.
In Stockholm bei der Reichskriminalpolizei koordiniert Bill Ekman Amandas Einsatz. Die Sache muss unter Verschluss bleiben, nur ein kleiner Kreis ist eingeweiht. Gleichzeitig untersucht Bill den Mord an einem jungen Mann. Ein Regierungsmitarbeiter, wie sich herausstellt.
Obwohl Tausende Kilometer voneinander entfernt, verdichten sich die Hinweise, dass beide Fälle zusammenhängen. Die Spuren führen in höchste Kreise.
Der packende Thriller einer Insiderin: Autorin Anna Tell ist Kriminalkommissarin und Unterhändlerin.
Das Milieu stimmt, die Figuren auch, die Erzählperspektiven sowieso, das Potential an Glaubwürdigkeit ist hoch. Für eine Debütautorin wie Anna Tell ist das keine Selbstverständlichkeit.
Vier Tage in Kabul führt uns in jenes Afghanistan, in dem wir militärisch engagiert sind und das uns doch fremd bleibt. Amandu Lund will der Gerechtigkeit zu ihrem Recht verhelfen, ganz gleich wie unangenehm die Wahrheit ist. Zuhause in Schweden hat alles seine Ordnung, doch vor Ort herrscht Chaos.
Zwei schwedische Diplomaten wurden entführt, Amanda Lund soll sie befreien. Anna Tell, die Autorin, lebt in Stockholm, ist Politologin und Kriminalkommissarin, sie hat 20 Jahre Polizei- und Militärerfahrung auf dem Buckel, auch als Unterhändlerin.
Ihr Geschick liegt darin, vor politischem Hintergrund, die Handlungsorte realistisch zu beschreiben, sie faszinieren den Leser, im „Café riecht es nach Bratfett und Schweiß, Männer gestikulieren wild, das Töpfe- und Tellerklappern nervt, es folgen knappe und schlüssige Dialoge, kluge Charakterbeschreibungen, genaue Abläufe, da wird nichts dem Zufall überlassen.
Die Story mischt eine Entführungsgeschichte, die jedoch etwas am Rande bleibt mit einer Erpressungsstory. Der schwedische Botschafter hatte Sex mit Männern.
Die Handlung in vier Tage zu packen schafft Dichte und verbreitet keine Leselangeweile. Es ist das packende Thriller-Erstlingswerk einer Debütautorin: weiter so!
Anna Tell lebt in Stockholm und ist Politologin und Kriminalkommissarin. Sie verfügt über zwanzig Jahre Polizei- und Militärerfahrung und war sowohl in Schweden als auch im Ausland im Einsatz. «Vier Tage in Kabul» ist ihr Debütroman und Auftakt zu einer Reihe um die schwedische Unterhändlerin Amanda Lund.
4 Tage in Kabul rowohlt
Ein abgelegenes kleines Atelier am Ende einer Allee, mitten in Paris: Hier hat sich die Londoner Polizistin Madeline eingemietet, um eine Weile abzuschalten. Doch plötzlich sieht sie sich Gaspard
gegenüber, einem mürrischen amerikanischen Schriftsteller. Offenbar gab es einen Irrtum, denn auch er hat das Atelier gemietet, um in Ruhe schreiben zu können. Der Ärger legt sich, als die beiden
erkennen, an welch besonderen Ort sie geraten sind. Das Atelier gehörte einst einem gefeierten Maler, von dem aber nur noch drei Gemälde existieren sollen – alle drei verschollen und unermesslich
wertvoll. Als sie sich gemeinsam auf die Suche nach den Bildern begeben, wird ihnen schnell klar, dass den Maler ein grausames Geheimnis umgibt heisst es in der Verlagsvorschasu von PENDO.
Schaun wir mal bei Wikipedia nach, was den Begriff KOMPOSITION ausmacht. Und da steht zu lesen: Komposition heißt in der Grammatik die Zusammensetzung von Wörtern, in der Bildende Kunst geht es um
den formalen Aufbau von Kunstwerken, in der Musik liegt die Bedeutung des Wortes Komposition im Erschaffen von musikalischen Werken sowie das fertige musikalische Werk selbst, ja sogar die Mathematik
beschäftigt sich mit dem Begriff und da heißt Komposition die Verkettung oder Hintereinanderausführung von Funktionen.
In diese Rezension geht es ja um ein Buch, aber genau diese Ausdifferenzierung zeigt auf, worin die Kunst des Autors Guillaume Musso („Das Atelier in Paris“) liegt. In diesem Roman hat er auf 464
Seiten die Wörter so kunstvoll zusammengesetzt, dass seine Mischung aus Roman, Thriller, Krimi, und Romanze zu einem spannenden Leseabenteuer wird. Er komponiert wie auf der Leinwand ein Buch, das
sich selbst in intensiven Farben mit der Malerei auseinandersetzt, denn es geht um das Lebenswerk eines Künstlers, dessen Sohn entführt wird.
Nimmt man die Musik als Analogbeispiel, schafft es der Autor leise und starke Zwischentöne zu komponieren, der Text wechselt von Dur in Moll, die Dramatik nimmt zu mit Paukenschlägen wie in einer
Beethoven-Symphonie und zuletzt hat Musso das schreiberische Talent, mathematisch genau die Zusammenhänge zu verketten, wie in mathematischen Gleichungen die Unbekannten zu setzen und am Ende doch
eine logische und schlüssige Auflösung zu finden.
Von der Handlung sei hier nicht viel verraten. Für Madeline und Gaspard beginnt eine spannende Jagd, die sie von Paris nach New York führt um ein verlorenes Kind wiederzufinden, der ständige Orts-
und Perspektivwechsel ist abwechslungsreich und auf sprachlich hervorragendem Niveau und wenn die Personen durch Paris oder New York streifen geht man mit ihnen und mit der Handlung zugleich mit. Die
perfekte Urlaubslektüre!
Guillaume Musso Das Atelier in Paris PENDO
Der Soundtrack zu diesem noch nicht gedrehten Film ist schon geschrieben: Richard Wagner hat sie für die Gralserzählung in seiner frühen Oper Lohengrin komponiert. Die Antwort auf das Verbot „Nie sollst du mich befragen“ ist eine der Glanzpartien für Wagnertenöre. Der Film zu dieser Arie müsste nach dem neuen Krimi „Bretonische Geheimnisse“ von Jean-Luc Bannalec gedreht werden, in dem der diesmal recht schusselige Kommissar Dupin seinen siebten Fall löst. Wie es bei tüchtigen Ermittlern immer wieder gern vorkommt: Eigentlich geht es auf einen Betriebsausflug mit dem engsten Team vom Commissariat in Concarneau. Mit dabei: Nolwenn, die Assistentin aus bretonischem Urgestein, Inspector Riwal, der Spezialist für keltisch-bretonische Legenden und sein immer skeptischer Kollegen Kadeg. Ganz nebenbei wollte Dupin auf diesem Ausflug in das sagenumwobene Waldgebiet einem befreundeten Kollegen aus seiner lange zurückliegenden Pariser Zeit einen Gefallen tun. In einem ungeklärten Todesfall sollte er einen Wissenschaftler befragen. Als Dupin diesen ermordet in dessen Haus auffindet, wendet sich der Ausflug in eine Ermittlung, die ihm von Paris von höchster Stelle, also vom Innenminister, als Sonderauftrag übertragen wird.
Der Fall des einen ermordeten Wissenschaftlers weitet sich aus, als zwei weitere Tote und ein – wie es aussieht – missglückter Anschlag hinzukommen. Alles spielt sich im Milieu einer Konferenz des
Vorstandes der französischen Artusgesellschaft ab. Die Opfer gehören diesem Gremium an, die Täter stammen womöglich aus diesem Kreis. Alles dreht sich um die Gralsgeschichte, um Ausgrabungen an
legendären Stellen, um den Quelltext der Parzivallegende. Der Forèt de Brocéliande ist in geheimnisvolles Dunkel gehüllt, das sich an manchen Stellen zu nahezu überirdischer Schönheit lichtet.
Genauso dunkel verhalten sich auch die Wissenschaftler, die den Ermittlern die wesentlichen Dinge bei den Befragungen verschweigen: Sie alle konkurrieren buchstäblich bis aufs Messer um eine
begehrte Professorenstelle an der Pariser Universität. Dazu kommt ein Streit um das Projekt eines Erlebnisparks, dem sich die Einheimischen und auch die Artus-Forscher widersetzen. Alles ist
undurchsichtig wie der Nebel, der sich mit dem immer verschiedenen Regen und einem betörend blauen Himmel ablöst. Bannalec macht aus seiner Bewunderung dieser Wetterphänomene in der Bretagne kein
Hehl, er, der unter seinem Klarnamen Lektor eines Frankfurter Verlages ist, lebt gern in dieser für viele Deutsche so anziehenden bretonischen Landschaft. Er liebt die Bretagne und erzählt von ihren
zuweilen bizarren Menschen ebenso liebevoll wie er von den einheimischen Gerichten schwärmt, den oft verschlüsselten Mythen, die diesmal ganz im Mittelpunkt des Geschehens stehen.
Der Status der Sonderermittlung im Auftrag des Innenministeriums verschafft ihm zusätzliche Polizeikräfte und sorgt für eine sonst nicht mögliche Beschleunigung. Dupin muss damit virtuos umgehen und
gewinnt nur langsam einen Überblick. Er verzweifelt am Narzissmus der Wissenschaftler, die der eigenen Reputation wegen über Leichen gehen. Er muss und kann sich auf seine überaus tüchtige
Assistentin Golwenn verlassen. Zweimal fordern Showdowns zu Adrenalinexplosionen bei seinen Lesern heraus, zweimal geht es gerade noch gut. Am Ende steht eine überraschende aber plausible Lösung und
Dupin kann von diesem Betriebsausflug pünktlich nach Concarneau zurückkehren, wo Claire und er gerade eine neue, endlich gemeinsame Wohnung einrichten. Auch Kommissare sind Menschen.
Harald Loch
Jean-Luc Bannalec: Bretonische Geheimnisse
Kommissar Dupins siebter Fall
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018 394 Seiten 16 Euro
Der Titel ist verwirrend und lockend zugleich: Bewachen KROKODILWÄCHTER Reptilien im Zoo? Nein! Wir verraten hier nur so viel, sie leben im mittleren und südlichen Afrika. Was sie mit dem Roman zu tun haben, lesen Sie selbst, denn dieser Kopenhagen-Krimi ist das Beste, was ich in letzter Zeit verschlungen habe. Zugegeben, ein bisserl ist er zu lang geraten, manche Beschreibung etwas zu ausführlich, aber die treffsichere Genauigkeit, die packenden Dialoge, die vielfältigen Handlungsstränge, die dramaturgischen Kniffe, das alles braucht eben auch Platz. Auf 506 Seiten entfaltet sich deshalb ein spannender Psychothriller um einen Mörder, der nach einer Romanvorlage mordet.
Die Literatur-Professorin Esther de Laurenti schreibt an einem Kriminalroman. Da wird in ihrem Haus die junge Julie erstochen aufgefunden. Ihr Gesicht zeigt ein Schnittmuster. Anette und Jeppe sind die ermittelnden Beamten von der Kopenhagener Mordkommission in diesem Romandebüt, das vom Schreiben her durchaus literarische Qualitäten hat und nach einer zweiten Folge schreit. Der Text fließt, die Personen leben, man spürt das dramaturgische Talent der Autorin, die für das Fernsehen und Theater arbeitet, choreographiert und als Regisseurin landesweit bekannt ist. Es wäre nicht der Diogenes-Verlag, wenn nicht bildende Kunst in dem Roman eine Rolle spielte, und zugleich ergeben sich immer wieder Parallelen zur literarischen Welt zwischen Realität und Fiktion, zwischen Normalität und Wahnsinn. Mehr sei nun wirklich nicht mehr verraten, auch Leser haben ihre Aufgaben zu bewältigen, Romanschriftsteller ebenso. Leser, übernehmen Sie! Und bitte Katrine Engberg, ein Nachfolgethriller!